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Januar 2013 in Jarratt/Virginia auf dem elektrischen Stuhl exekutiert. Die Normuhr über dem Fenster zeigt 25 Minuten nach Mitternacht. Draußen setzt leichter Schneefall ein. Johns Stirn ist faltig und trocken, seine Augen sind leicht eingefallen, seine spitze Nase von einem grauen Schatten umgeben, seine Schläfen eingesunken. Sein Gesicht hat sich unmerklich verändert, es ist jetzt noch unverkennbarer, noch schärfer konturiert. Sie haben es nicht anders erwartet. John sitzt dem Fenster zugewandt. Der Raum ist rechteckig, die Wände sind dunkel gestrichen, Kaltlicht fällt von der rohbelassenen Betondecke. Das Leben dieses Raumes bezieht sich auf einen klobigen Holzstuhl; er wirkt vom Boden her durch einen quadratischen Gummibelag ausgegrenzt. Der Raum strahlt keine Behaglichkeit und Gemütlichkeit aus, weder für noch gegen die Außenwelt; es fehlen die Couchecke, die Stehlampe, die Bilder, die Blumen in Vasen oder Töpfen, der Nippes auf dem Bücherbord, die Gardinen vor den Fenstern, das Fernsehgerät in der Ecke. In Johns Studentenbude stand ein Jahr lang auch nur ein Holzstuhl, jedoch einer, an dem Körperschluss unmöglich und auch nicht erwünscht ist – ein Thonet-Produkt, ein Stuhl für ein Körpergefühl, das den beliebigen, rasch wechselnden Gelegenheitsgebrauch einübt. Er liebte den Stuhl, weil er leicht mit einer Hand umzustellen ist und das rasche Ab- und Zuwenden ermöglicht; auch von Barbara, die er in einem kleinen Straßencafé kennengelernt hatte. Sie saß auf der Vorderkante eines Thonet-Stuhls und trank gerade einen Cappuccino. Frauen sitzen nicht wie Männer. Der Stuhl scheint ihnen ein fremdes Instrument zu sein, sie benutzen ihn nur andeutungsweise. Barbaras strumpflosen Beine waren geschlossen und schräggestellt, ihr Körper in Richtung Straße gedreht. John kam mit Barbara ins Gespräch. Einige Monate später schenkte sie ihm einen gut erhaltenen alten Thonet-Stuhl zu seinem Magisterabschluss. Es war ein warmer Frühlingstag, sie hatten das Fenster weit geöffnet und das leichte Sitzmöbel davorgestellt. Er musste eine Sitzprobe machen, und als er Barbara auf seinen Schoß ziehen wollte, winkte sie ab und deutete mit einer kleinen Kopfdrehung zum Bett. Sie war sehr direkt. Zärtliche Vorspiele verschmähte sie ebenso wie sinnenverlorene Nachspiele. Verschmelzen wollte sie mit ihm, eins sein im Höhepunkt, doch er hatte den Punkt ein ums andere Mal verfehlt. Er kam sich vor wie einer, der auf dem Jahrmarkt an der Schießbude wieder und wieder aufs Herzblatt zielt und jedes Mal knapp die freie Auswahl verpasst. Eines Tages war John erst spät nach Hause gekommen und hatte den Thonet-Stuhl im Hausflur vor der Tür gefunden. Sein Verstand war klar; das schlichte Holz des Stuhls, im heißen Zustand gebogen, signalisierte unerträgliche Anspannung. John schlug das Möbel über das Treppengeländer und behielt ein Stuhlbein in der Hand. John sitzt aufrecht und dem Fenster zugewandt. Das Fenster ist blind, und er fragt sich: Wo sind meine Arme, wo meine Beine. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir viel mehr Zeit genommen; im Sandkasten unter dem grauen Himmel der Vorstadt, in der Schultoilette mit der kleinen Blonden aus der Parallelklasse, im Seminar mit der Arbeit über das Sitzen im 19. Jahrhundert, in der Küche mit der Zubereitung einer Zitronencrème – unendlich viel Zeit für das Haar- und Nägelschneiden, für das Baden und Abrubbeln, für das Staubsaugen, für das Lesen, für Barbara. Ohne Endlichkeit zu leben gibt dem Tod keine Chance. Was für ein Gedanke. Bleibt bei mir – verkriecht euch nicht hinter der Glasscheibe. Helft mir wenigstens, einen Tod zu finden, der meinem Leben entspricht. Setzt mich nicht länger diesem absurden Ereignis aus. Kommt doch näher, kommt näher. Rückt zusammen, damit die Hyäne mich nicht frisst. Verdammt noch mal! Rückt zusammen. Ich werde meinen Tod einfach nicht annehmen. Wiedergeburt, sofort. Ich werde zurückkommen und zu euch sprechen: Man fühlt sich allein vor dem Tod, so allein. Nie ist jemand zurückgekehrt, um über die Angst vor dem Unbekannten zu berichten. Ich aber kehre zurück, erhebe mich von meinem Thron, löse mich von der hohen Rückenlehne, stütze mich kurz auf den Armlehnen – nein, ich bleibe sitzen, throne hieratisch mit segnend erhobener rechter Hand und mit dem Buch des Lebens in der linken und verkünde meine Botschaft: Lebt den Tod im Leben, im Sterben ist es zu spät. Als sie ihn in den Stuhl drückten, sehnte sich John nach seinem Thonet-Stuhl. Der klobige Stuhl hier erschien ihm wie ein Thron – zu breit, zu repräsentativ, zu patriarchalisch. Er konnte ihn, ja er wollte ihn nicht ausfüllen. Er hatte sich ein wenig gewehrt, als sie ihn drängten, Platz zu nehmen. Die Situation hatte ihn an die Anweisungen in der Tanzstunde erinnert: Das Niedersetzen soll ohne jedwedes Geräusch geschehen, ohne Rücken des Stuhles. Man soll gerade und ungezwungen sitzen, Brust heraus, Kopf hoch. Der Sitz ist immer in der Mitte des Stuhles, nicht auf dem Rand oder auf einer Ecke. Die Beine dürfen weder übereinandergeschlagen, noch unter dem Stuhl durchgezwängt werden, dass die Füße sich um die Stuhlbeine legen. Auch soll man beim Sitzen die Beine nicht breit auseinanderspreizen, das ist unschicklich. Die Füße sind vor allem still zu halten. Keine Angst, sagte der Beamte. Keine Angst, der Stuhl sieht schlimmer aus, als er ist. Sie müssen streng aufrecht sitzen, sonst gibt es Komplikationen. Die Arme schnallen wir jetzt fest. Der Beamte hatte ihn an seinen Orthopäden erinnert. Nur hatte der ihm immer vorgehalten, dass zu viel Sitzen Gift für seine Wirbelsäule sei. Bewegung, hatte der Arzt gesagt, Bewegung und nochmals Bewegung! Je mehr, je häufiger, desto besser. Unsere Wirbelsäule ist nicht nur ein Stütz-, sondern viel mehr noch ein Bewegungsorgan. Wir sind keine Sitzer, Hocker oder Steher. Die Bewegung soll harmonisch sein, ihr Ablauf flüssig. Also weder preußisch-zackig noch im Zeitlupentempo. Zudem abwechslungsreich, nicht monoton immer dasselbe. Damit alle Muskelgruppen zum Zuge kommen. Johns Muskeln sind eingefroren. Er fühlt sie nicht. Sind ihrem Bewegungsdrang Grenzen gesetzt? hatte der Arzt gefragt. Sie sitzen zu viel. Kurz vor seinem 30-sten Geburtstag war er an der Bandscheibe operiert worden. Drei Wochen später hatte er eine Kur angetreten. Gegenseitige Besuche auf den Zimmern sind nicht statthaft. Der Genuss von Alkohol und Bohnenkaffee sowie das Rauchen sind ganz zu unterlassen. Sollten Sie besondere Beschwerden haben, bringen Sie diese bitte unverzüglich bei der Verwaltung vor. John sitzt fest; der Stuhl lässt ihn nicht los. Er kann nicht mehr essen, nicht mehr trinken, nicht mehr rauchen. Er kann keine Beschwerden vorbringen, kann nie mehr aufstehen und rausgehen. Der Strand, an den es ihn früher immer gezogen hat, ist nicht mehr nah, nicht mehr fern; die Sonne nicht mehr frühlingswarm, nicht mehr brennend heiß; das Meer nicht mehr grün und blau, nicht mehr leicht bewegt; der Sand nicht mehr sauber und feinkörnig, nicht mehr weiß; die Luft nicht mehr frisch, salzgeschwängert oder von einer sanften Brise durchsetzt. John sieht nicht die dünne Schneedecke auf dem geteerten Flachdach des Traktes, hört nicht den Hubschrauber, der über dem Gebäude kreist. Die Normuhr über dem Fenster zeigt 20 nach 12. John hat nicht gesagt, dass er sofort Bewegung braucht; hat nicht gesagt, dass es ein gesundes und wichtiges Signal ist, wenn er spürt, dass er nicht mehr sitzen kann; hat nicht gesagt, dass sich das Körpersignal nicht nur auf den konkreten Stuhl, auf den sie ihn gesetzt haben, bezieht, sondern auf den Vorgang als solchen. Flüchtige Ruhe in der Zerstreuung hatte ihm sein Thonet-Stuhl gewährt, mit dessen Stuhlbein er Barbara erschlagen hatte. Bei der Obduktion stellte sich heraus, dass sie schwanger gewesen war. Blackout. Atemlähmung. Herzstillstand. Der klobige Stuhl mit der festen hohen Rückenlehne und den breiten Armlehnen stößt Ströme von bis zu 2300 Voltaus.
Erschienen in Ossietzky 15/2015 |
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