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Der Flecken Zeesen, von 5024 Einwohnern auf neun Quadratkilometern besiedelt, 37 Meter über dem Meeresspiegel gelegen und mit mehreren attraktiven Autohäusern, einer soliden Grundschule und einem generationsübergreifenden Friedhof bestückt, muß sich also künftig nicht mehr auf sein Image als südöstlicher Ausleger der Bundeshauptstadt und Geburtshelfer des Deutschen Rundfunks einengen. Endlich werden der Ukrainekonflikt, Putins finstere Machenschaften, die anhaltenden Badeversuche von Afrikanern vor der italienischen EU-Küste und die schlipslosen pekuniären Unverschämtheiten der Griechen von echten menschlichen Problemen abgelöst. In einer Zeit, die täglich von bewaffneten Auseinandersetzungen, Mord und Terror, Religionskriegen und Flüchtlingstragödien heimgesucht wird, erwächst der Welt neue Hoffnung. Unter-HaltungDen westlichen Teil der Erde Durch ihn mutieren Hohles, Dummes, Gemeinheit, Mord und Geiselnahme, Nachrichtensprecher schwadronieren Quizmaster lassen Leute streiten, Die Bürger, geistig so mißhandelt, die gläubig auf die Werbung schauen Günter Krone Das Sat.1-Experiment »Newtopia« bietet Mustermännern und -frauen laut Berliner Kurier ein Jahr lang die Chance, »nicht weniger als eine neue Gesellschaft zu gründen«. Donnerwetter! Zwei ökologische Kühe, zwei Dutzend glückliche Hühner, ein wenig »fruchtbarer Mutterboden«, ein »kleines Guthaben« von 5000 Euro, Gas, Wasser, Strom und ein Handy mit einem Bonus von 25 Euro pro Weltverbesserer waren die Starthilfen für das »größte Fernsehexperiment aller Zeiten«. Und was braucht der Mensch seit Sarrazin denn auch mehr! Das Vorhaben als »größtes Fernsehexperiment aller Zeiten« zu bezeichnen, halte ich zwar für etwas übertrieben, denn die »Kinder von Golzow« sind jahrzehntelang vom Fernsehen und dem Ehepaar Junge verfolgt worden. Das ist den Schöpfern von »Newtopia« offensichtlich entgangen. Aber kein Mensch kann alles wissen. Außerdem könnte es sogar sein, daß die Welt trotz international trüber Aussichten selbst nach dem Wunder von Zeesen noch über eine gewisse Haltbarkeitsdauer verfügt. Dann wäre es nicht auszuschließen, daß noch einmaligere Events einige Medien wie Dauerbackwaren erobern. Also sei‘s drum, sprach ich mir selbst Mut zu, 50 Prozent des Weltgeschehens ereignen sich sowieso durch die Werbung, und warum soll man Tierexperimente veranstalten, wenn es auch mit Menschen geht. Die Stiftung Vier Pfoten wird sich gewiß darüber freuen. »Ab heute«, versprachen die Projekterfinder und der Kurier anfangs und unisono, werden sich »15 Leute vor den Toren von Berlin eine neue Welt aufbauen«. Da bietet sich für arbeitslose Obdachlose oder obdachlose Arbeitslose eine Chance, redete ich mir ein. Sie müssen nicht im Freien zwischen Wolldecken und Hundekot schlafen, sondern können vor Regen geschützt in den Suiten einer ehemaligen Kaserne der ehemaligen roten Sowjetarmee den Tag genießen. Die Testpersonen dürfen das »hermetisch abgeriegelte« (BK) Gelände allerdings nicht verlassen und müssen sich, wie der Sat.1-Unterhaltungschef den Medienvertretern verriet, alles selbst organisieren. So schlimm kann das allerdings nicht sein, denn Obstkörbe, Kaffee und »Schnittchen« werden laut Ansage täglich heranapportiert; die Ortsapotheke kümmert sich um das körperliche Wohlbefinden. Dann fiel mein neugieriger Blick zufällig auf die überwiegend jugendlichen Konterfeis und die Berufsangaben der zum Gruppenfoto arrangierten Kandidaten, und unter denen befanden sich zu meinem Erstaunen Account-Manager, Buchhalter, Studenten, Models, Kassiererinnen und Politikwissenschaftler. Also ein Möchtegern-Prominenten-Dschungel und nichts fürs Prekariat. Und offensichtlich auch ein Eldorado für individuelle Wünsche und Freiheiten, denn der Berliner Politikwissenschaftler und Freigeist »Candy«, zu deutsch also »Zuckerle«, wünschte sich nach eigenem Bekunden in der ehemaligen Zeesener Armeescheune vor allem Sex und Polygamie. Warum auch nicht. Selbst der alte Marx hat die schöpferische Arbeit am »Kapital« nicht nur allein verbracht. Gleich zu Beginn des Experiments hat der »Wirtschaftspädagogikstudent« Lenny – ich wußte gar nicht, daß es diese Disziplin gibt – aus Liebeskummer hingeschmissen. Wie der Berliner Kurier jedoch fortschreibend berichtete, stand sofort ein Nachfolger parat, und der hatte sich für »Newtopia« viel vorgenommen, wollte eine »eigene Bank gründen, damit das erwirtschaftete Geld verwaltet werden kann«. Und das scheint mir ein besonderes, sehr menschliches Kriterium der Ikonen der »neuen Gesellschaft« zu sein: zwar nur Donnerbalken, aber eine eigene Bank! Gespannt wie ein Flitzbogen schaltete ich am 4. und 6. März um 19 Uhr Sat.1 ein, um keine Anregung für die Gestaltung einer »neuen, idealen Gesellschaft« zu versäumen. Ich erlebte eine echte Bildungsoffensive. Bereits beim Zusammennageln eines ungefügen Küchenregals aus Obstkisten stellten sich den »coolen Pionieren« – die Bezeichnung der Zeesener Neuerer als »Pioniere« erweckte Erinnerungen an meine pädagogische DDR-Vergangenheit – unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg. So tat sich für Handchirurgen ein offensichtlich lohnendes Betätigungsfeld auf. Ansonsten gewann man den Eindruck, daß sich die »neue Welt« eher um die individuellen Befindlichkeiten der Protagonisten dreht, und an denen mangelt es nicht. Die unter dem bewegenden Thema »Der lange Weg zum Abwasser« für den 5. März angekündigte Folge konnte ich leider wegen ehrenamtlicher Verpflichtungen nicht wahrnehmen. Ich gehe aber davon aus, daß die neuen Menschen von Zeesen bei der Klärung des Abwassers ähnlich herumgelabert haben, wie in der einschläfernden Folge vom nachfolgenden Tag. Beim Ausschachten des Grabens gebärdeten sich die »Pioniere« jedenfalls wie weiland die Brigaden bei der Verlegung der Baikal-Amur-Magistrale, nur wichtiger. Dann ging man auch gleich wieder zum Tagesgeschäft über, also zu primitiven Streitereien, zu Spannungen, gegenseitigen Beschimpfungen, zu Kleinkariertheit und dicker Luft. Ein »Highlight« war dabei noch die Kreation des Akademikers, der sich das lästige Haarekämmen durch das Anheften eines falschen Haarteils ersparen wollte. Ein bissel verspießerte Bequemlichkeit gehört halt auch zur neuen Gesellschaft. Ich gönne der Kommune Zeesen den kommunalen Aufschwung und die überkontinentale Beispielwirkung. Ich verspreche mir davon zumindest eine straffe Beschleunigung des Ausbaus der Berieselungsanlage des nahen BER, denn irgendwo müssen sich die Welterneuerer nach der Benutzung ihrer selbstgezimmerten Donnerbalken ja waschen, und die internationalen Beobachter des Events müssen irgendwo in der Nähe auf glatten Pisten und nicht in irgendwelchen brandenburgischen Mehdornen landen. Einen Moment hatte ich überlegt, ob ich mich für »Newtopia« zur Verfügung stellen sollte. Ich würde gern zum Gelingen des weltbewegenden Experiments beitragen und meine glühenden Motivationen und vielseitigen Fähigkeiten für die Weltverbesserung einsetzen. Es darf nicht soweit kommen, daß das mutige Event mit dem Slogan »Außer Zeesen nichts gewesen« abgebucht wird. Aber vielleicht kann ich auch als Journalist mein Scherflein beitragen. Nach selbstauferlegter Pause habe ich gegen Ende des Wonnemonats Mai nochmal bei Sat.1 nachempfangen und zu meiner Verwunderung festgestellt, daß das Event wirklich immer noch läuft. In der Zeesener Scheune sieht es nach wie vor so aus wie bei Robinson Crusoe oder Sigismund Rüstig unterm Sofa, die »Pioniere« sondern Belanglosigkeiten, Selbstbeweihräucherungen und Schnapsideen ab und bereiten sich justament auf eine Talkshow und eine Modenschau vor. Ansonsten wird der Aufbau einer völlig neuen Gesellschaft ein wenig durch Ollis Durchfall beeinträchtigt. Anfang Mai teilte der Berliner Kurier mit, daß statt der anfänglichen 2,6 Millionen Zuschauer nur noch 1,2 das Experiment an der Glotze verfolgen. Nun versucht man, den Pionieren durch den Zugang von Kult-Hippie Rainer Langhans (74) neues Leben einzuhauchen. Ob der Ex-Kommunarde und Ex-Haremschef die Welt noch retten kann, darf bezweifelt werden.
Erschienen in Ossietzky 13/2015 |
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