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Dem Haßzwang gegenüber den dort zur Verachtung freigegebenen jüdischen Bürgern folgte er nicht. Er redete und feierte mit ihnen. Er betrachtete sie sittenwidrig als seine Nächsten, denen er Gutes tun darf, um wiederum Gutes von ihnen zu erfahren. Kurzum – es ereignete sich eine völlig unglaubliche Geschichte. Und da diese guten Taten nun mit dem zeitlichen Abstand von Jahrzehnten als für ihn lebensbedrohlich und für die anderen als lebensrettend angesehen werden, sagen mir meine lieben einschlägigen Bekannten: Ein dem Widerstand gegen die rassistische Verfolgung dienender Lebensretter? Davon hat uns doch der liebe Werner, der Hallodri, unser verehrter Professor und Nationalpreisträger gar nichts erzählt. Das alles ist doch völlig unglaubwürdig. Genau an diesem Punkt fängt ein Dokumentarfilm zu dem Thema an, gut zu werden. Vorausgesetzt, jemand findet den Schlüssel zu der ganzen Geschichte. Derselbe war jedoch leider verlorengegangen. Das Archiv der Synagoge von Bussum nahe Amsterdam blieb Jahrzehnte verschlossen. Bis endlich 2011 die dort ansässige Dokumentarfilmerin Annet Betsalel, durch erste Recherchen neugierig geworden, sich Zutritt verschaffte. Auf der Suche nach den Deportationslisten der jüdischen Bevölkerung entdeckte sie etwas viel Wichtigeres: Genaue Angaben über das Ausmaß der Rettung dutzender Todgeweihter mit Hilfe zweier deutscher Soldaten. Johannes Gerhardt als Fotograf und Werner Klemke als Zeichner fälschten auf eigenes Risiko Personalpapiere und Lebensmittelkarten. Ja, sie waren in dem Freundeskreis einer verfemten Familie geradezu zu Hause. Die vorwiegend von dieser Bevölkerungsgruppe bewohnte Gemeinde wurde auf diese Weise zu einer Insel des Überlebens. Nun also ist nach Jahren detailliertester Nachforschungen und Kontaktaufnahmen zu Angehörigen und Überlebenden der Dokumentarfilm »Treffpunkt Erasmus – die Kriegsjahre von Werner Klemke« fertiggestellt. Er wurde am 18. Mai in Berlin und am 19. Mai in Königs Wusterhausen im Rahmen des »Jüdischen Filmfestivals« einem deutschen und niederländischen Publikum bekanntgemacht. Da alle vier Klemke-Kinder zur Mitwirkung herangezogen waren und besonders die Tochter des engsten Freundes Mel de Jong, Nikky de Swaan, ausführlich zu Wort kam, ist ein eindrucksvolles Kaleidoskop der Klemkeschen Aktivitäten der Jahre 1942 bis 1945 zustande gekommen. Bisher unbekannte Bilddokumente von seinem Dasein dort werden uns in großer Zahl gezeigt. Seine seinerzeit dort unbefangen hingekritzelten Skizzen hat man recht wirkungsvoll animiert. Bisher kaum bekannte Aufnahmen vom nazistischen Besatzungsregime und von seinen in diesem Fall zum Teil prominenten Opfern verblüffen uns. Wir werden Augenzeugen bewegender Szenen der Wiederbegegnung und des Zurückerinnerns. Die Überleitung zu der Tätigkeit als ungeheuer produktiver und vielseitiger Illustrator und Plakatschöpfer, Buchkünstler und Hochschullehrer im Lande DDR gelingt allerdings nicht ganz so überzeugend. Es ist kaum einzusehen, daß außer dem sich sehr informativ äußernden André Kahane niemand mehr aus dem ehemaligen Kollegen- und Schülerkreis darüber Auskunft geben könnte. Wenn seine nach Jerusalem emigrierte Tochter Sabine dann über einen verheerenden falschen Stasiverdacht spricht, verwirrt das unzulässig die Begriffe. Sabines dort mit ihr lebender Mann, der Schriftsteller Chaim Noll, hat Details zu Klemkes DDR-Leben in einem Erinnerungstext 1997 schon mal glaubwürdiger erklärt. Da wird dann auch die Frage des kleinen Moritz »Warum isser denn nich nachm Westen?« überflüssig. Gewiß ist es schwer, hier die Balance zwischen Intim-Privatem (dem übrigens das kleinere Format des Fernsehbildes eher gerecht würde) und Allgemeingültigem zu finden. In der überbordenden Fülle der Bild- und Textinformationen geht mitunter der rote Faden etwas verloren: Jener Ariadnefaden, an dem die so konsequente Entwicklung des jungen Zeichners zum hochangesehenen Exponenten einer denkwürdigen deutschen Buchkultur mühelos abzuspulen wäre. Das Unwahrscheinliche ist in diesem Künstlerleben immer wahr – da gibt es nun nichts mehr zu rätseln. Aber welche Wahrheit gilt heute? Es ist ja ein Glück, daß Annet Betsalel und ihr Produzent Juan Morales Calvo mit seiner Firma Mezzo Prod beim Drehen nicht durchgehend der vierseitigen Verlautbarung gefolgt sind, die sie 2014 verfaßten. Daß der Zeitgeist von heute gern Klischees zur Wertung hinzuzieht, überrascht nicht. Da lesen die mit Spenden für das Gelingen des Filmes beitragenden Mitglieder der bibliophilen Pirckheimer-Gesellschaft jedoch mit Verwunderung: »Klemke gelang es nicht nur diese Zeiten zu überstehen, es gelang ihm auch dutzende Menschenleben zu retten, unter dem nationalsozialistischen aber auch dem kommunistischen Regime – eine Tatsache, die niemand wußte.« Und weiter: »Auffallend sind die Parallelen in Klemkes Leben während beider repressiver Regime.« Mit Verlaub gesagt: Da ist jeder, der Werner Klemke und sein Tun in jener abfällig als »Regime« abgetanen Gesellschaft kannte, erschüttert über die nun offenbar auch in den Niederlanden üblich gewordene Stigmatisierung eines Lebens, welches nachweisbar anders war. Wie gesagt, ein Glück, daß diese mörderische Unterstellung im Film nicht entscheidend zum Tragen kam. Wenn jedoch bis zur Feier des hundertsten Geburtstages Werner Klemkes 2017 einige Weichen zu stellen sind, sollte man präziser auf den Punkt kommen. Es wird ein Buch dazu erarbeitet werden. Es soll die Ehrenbürgerwürde beantragt werden. Es wird sogar über die Umbenennung des Antonplatzes in Werner-Klemke-Platz nachgedacht. Es ist vom Sender RBB in Aussicht gestellt, dann den gesamten 100minütigen Film zu senden. Ist dafür am Ende ein für das Heute maßgeschneidertes Heldenbild notwendig? Die Klemkefreunde, die ich nach dem Besuch des Filmes sprechen konnte, stimmen mit mir darin überein, all das nun aufgeklärte menschlich Berührende in diesem Film zu lobpreisen. Das einzige Aber dabei: Ohne die Zutat einer im Grunde fremden Interpretation.
Erschienen in Ossietzky 12/2015 |
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