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Jetzt leben schätzungsweise noch 4000, die also je 2500 Euro erwarten dürfen – wenn alle bürokratischen Vorbereitungen abgeschlossen sind, was noch eine Zeitlang dauern dürfte. Entschädigung? Gar Wiedergutmachung? Oder besser Anerkennung des Beitrags zum Sieg über die Nazi-Wehrmacht? Würdigung? Oder Abfindung? Die Nachricht aus dem Bundestag weckt in mir viele Erinnerungen an Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Nachdem mein 1941 als Offizier der deutschen Wehrmacht in Rußland einmarschierter Vater 1942 »gefallen« war, gefällt durch einen Bauchschuß (»Heldentod«), wurden der Witwe, meiner berufstätigen Mutter, die für fünf Kinder zu sorgen hatte, zwei Ukrainerinnen als Haushaltshilfen zugewiesen: Tanja und Nadja, beide, wenn ich mich richtig erinnere, erst 16 oder 17 Jahre alt, aus ihrem heimatlichen Dorf verschleppt an den Niederrhein. Wenn sie reinemachten und außer mir, dem jüngsten Kind, niemand im Zimmer war, sangen sie leise, aber mit unvergeßlich klaren, reinen Stimmen ihre Lieder, deren Sinn ich nicht verstand. Ich weiß nur: Ihre Lieder waren etwas Kostbares, was den Älteren unbekannt blieb. Etliche Jahre nach dem Krieg fragte ich Mutter, ob sie wisse, was aus Tanja und Nadja geworden war, nachdem unsere Familie das durch Bomben schwer beschädigte Haus verlassen hatte. Mutter überlegte, als wären ihr die Namen fremd. Dann hellte sich ihr Gesicht auf, als wäre es ihr eine Freude, an die beiden Zwangsarbeiterinnen erinnert zu werden: »Tanja und Nadja – ja, was mag aus ihnen geworden sein? Sie werden wohl in die Rüstungsindustrie gekommen sein« – also gezwungen, Vernichtungswaffen für den Eroberungskrieg gegen ihr Land, ihr Volk herzustellen. Zu meinen Erinnerungen an die Bombennächte gehören die Räumkommandos von Kriegsgefangenen, die früh in der Morgendämmerung anrückten, um aus den Trümmern Verschüttete auszugraben und die Hauptverkehrsstraßen freizuschaufeln, so daß man zumindest auf einem schmalen Pfad zwischen den beiderseitigen Schuttbergen gehen konnte. Während deutsche Soldaten in Stalingrad und am Kursker Bogen schwere Schlachten verloren, hielten Russen, Weißrussen, Ukrainer in Mönchengladbach die Hindenburgstraße zugänglich. Mutter gab mich in die Obhut von Onkel Wilhelm Schünemann, Oberförster in Eggeröder Brunnen oberhalb von Blankenburg am Harz. Er beschäftigte mehrere sowjetische Kriegsgefangene als Waldarbeiter und den Polen Kasimir als deren Aufseher. Wie die Russen hießen, weiß ich nicht. Mit ihnen sprach man nicht. Wenn an ihrer Arbeit etwas zu beanstanden war, zum Beispiel an ihrem Arbeitstempo, erfuhren sie es durch Kasimir. Eines Vormittags erhielt Kasimir den Auftrag, mich nach Blankenburg zu geleiten, wo eine Großtante und ich, vermittelt von Onkel Wilhelm, im Wohnzimmer der Familie Kaupe einquartiert worden waren. Der gescheite Pole wählte einen mir bis dahin unbekannten Weg, Wir kamen auf eine Straße, die an einer langen halbhohen Mauer mit Stacheldraht entlangführte. Dahinter zeigten sich Männer in gestreifter Kleidung. Ihre gelb-grauen ausgemergelten Gesichter erschreckten mich. Kasimir redete mit ihnen. Ich verstand nichts – nur daß sie sich sichtbar freuten, sich mit ihm unterhalten zu können, bevor ein Aufseher sie wegscheuchte. Am Mittagstisch in Kaupes Eßzimmer berichtete ich. Die Antwort lautete: »Das ist nicht recht von Kasimir, daß er diesen Weg mit Dir gegangen ist.« Ich wollte wissen, was das für Menschen seien, die ich da gesehen hatte. Ich erfuhr, es seien »schlechte Menschen«. Das hatte mir zu genügen. Jahrzehnte später arbeitete ich als Journalist in Niedersachsen. Ich schrieb über Bergen-Belsen, wo allmählich eine Gedenkstätte für die 1944/1945 dort ermordeten Juden entstand. Eher zufällig gelangte ich auf das benachbarte Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, wo 1941/1942 schätzungsweise 30.000 sowjetische Gefangene verhungert oder erfroren waren. In der Nähe von Bergen hatten noch zwei ähnlich große Lager bestanden, in denen ähnlich viele Rotarmisten verreckt waren: umzäunte, scharf bewachte Waldstücke, zunächst unbebaut. Die Gefangenen versuchten, sich in den Boden einzugraben. Mit Löffeln. Anderes Gerät hatten sie nicht. Sie schabten die Rinde von den Bäumen, als Nahrung, Ihre Schreie drangen in die umliegenden Dörfer. Viele Einheimische unternahmen Sonntagsausflüge am Zaun entlang – nicht um zu helfen. Später wurden Gefangene nicht mehr gleich ermordet. Sie sollten arbeiten, solange sie arbeitsfähig waren. Schwerstarbeit ruinierte innerhalb weniger Monate ihre Lebensfähigkeit. Gegen Ende des Krieges aber, als die Nazis die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen versuchten, folgte wieder ein Massensterben in Massenlagern, zum Beispiel in Sandbostel bei Bremervörde. In der Nachkriegszeit wurde darüber eisern geschwiegen und geleugnet. Noch in dem 1990 im Verlag Zweitausendeins erschienenen, 1167 Seiten starken, verdienstvollen Werk »Das nationalsozialistische Lagersystem« ist Sandbostel nur mit drei Zeilen erwähnt. Der Initiative des Bremervörder Lehrers Klaus Volland ist es zu verdanken, daß die Geschichte dieses Lagers inzwischen erforscht ist. Im östlichen Westfalen bemüht sich bis heute die Bürgerinitiative Blumen für Stukenbrock um ein würdiges Gedenken. Seit 1996 hilft sie Überlebenden mit dafür gespendeten Geldern. Gründliche Information über die sowjetischen Kriegsgefangenen insgesamt, denen die deutschen Herrenmenschen den völkerrechtlichen Status von Kriegsgefangenen mit der Begründung verweigerte, sie seien »slawische Untermenschen«, gibt das Buch »Keine Kameraden« des Heidelberger Lehrers Christian Streit. Nachdem Bundespräsident Gauck unerwartet Stukenbrock besucht hat und auch die CDU/CSU plötzlich zu einer Entschädigung bereit ist, spürt auch Eberhard Radczuweit, Gründer des Berliner Vereins Kontakte/Контакты, der seit Jahren Kontakt zu Überlebenden pflegt und dafür 2002 mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte geehrt wurde, Erleichterung. Er sieht die in Aussicht gestellte Zahlung aus dem Bundeshaushalt als »symbolischen Akt der Anerkennung und Würdigung«. Ich will ihm nicht widersprechen. Aber mich beschäftigt die Frage, warum jetzt von heute auf morgen beschlossen wird, was so lange als unmöglich galt – ähnlich wie kurz zuvor die Verurteilung des türkischen Genozids am armenischen Nachbarvolk, das jetzt aus seiner engen Verbindung mit Rußland gelöst werden soll. Ist der Gedanke ganz und gar abwegig, daß hier das Terrain für eine neue Offensive gegen Rußland geebnet werden soll? Der Arbeitskreis Blumen für Stukenbrock mahnt in seiner Stellungnahme: »Heute stehen die Soldaten der NATO an den Grenzen Rußlands. Mit Rußland wurde ein altes Feindbild erneuert. In der Ukraine wurde 2014 ein blutiger Krieg provoziert. Kaum jemand fragt nach den Verursachern. Wir erwarten von der Regierung der Bundesrepublik, daß sie sofort die Sanktionen gegen Rußland aufhebt.«
Erschienen in Ossietzky 12/2015 |
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