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In mehreren großen Rationalisierungswellen wurden in den folgenden knapp 200 Jahren dann immer wieder große Mengen von IndustriearbeiterInnen entlassen, weil lebendige Arbeit durch tote Arbeit ersetzt wurde und von den einzelnen Unternehmen ersetzt werden mußte, wenn sie im gnadenlosen Konkurrenzkampf nicht selbst untergehen wollten. Parallel zu den Rationalisierungsschüben im industriellen Sektor, der häufig als »sekundärer Sektor« bezeichnet wird, gingen und gehen die Rationalisierungsschübe im »primären Sektor«, der Landwirtschaft, weiter. In den USA beispielsweise, die nach wie vor weltweit Maßstäbe setzen und durchsetzen, produzieren die dort wirkenden 63 Eier-Produktionsstätten mit mehr als einer Million Legehennen 87 Prozent aller US-amerikanischen Eier. Menschen werden dort nur noch benötigt, um den Eierlegeprozeß zu begleiten, alte Hühner durch neue zu ersetzen und – wie im Mai in Iowa geschehen – bei Vireneinfällen millionenfach Hühner zu vergasen und ihre Kadaver anschließend zu beseitigen. Lange Zeit gab (und gibt) es die Hoffnung, die aus dem primären und sekundären Sektor herausrationalisierten Arbeitskräfte würden auch unter kapitalistischen Bedingungen im tertiären Sektor, also bei der Bereitstellung von Dienstleistungen, neue und sogar besser bezahlte und qualifiziertere Arbeit finden. In der Sparkassenzeitung hat Mitte Mai das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) Ludger Gooßens angesichts der beständig schrumpfenden Ertragskraft vieler Sparkassen den dramatischen Appell verbreitet, seine Organisation müsse ihre »Prozesse gnadenlos auf den Prüfstand stellen«. Die Sparkassen müßten alle ihre Abläufe und Serviceprozesse »konsequent technisieren«. Der Fortschritt der Informationstechnologie macht es in der Tat nicht nur möglich, Prozesse im primären und sekundären Sektor der kapitalistischen Volkswirtschaften zu technisieren, sondern dies nun auch auf Bereiche auszudehnen, die bisher der Verwandlung von lebender in tote Arbeit nicht zugänglich schienen. Beratungsprozesse von Bankern oder Versicherungsvermittlern etwa sind hochkomplexe Kommunikationsprozesse, die sich bislang einer Digitalisierung zu entziehen schienen. In Großbritannien – in Sachen Finanzmärkte oftmals führend – ist die Zahl der Versicherungsvermittler von 1987 bis 2007 aber dennoch von 185.000 auf 15.000 gefallen. Persönliche Beratung findet dort in der Regel nur dann statt, wenn die zu erwartenden Beitragssummen entsprechend hoch sind. Die Masse der Beratung wird im rasanten Tempo maschinisiert, indem potentielle Kunden im Internet durch Programme zu den ihnen empfohlenen Produkten geführt werden. Hinter diesen Programmen liegen enorme Rechenleistungen, die beispielsweise aus den Angaben der Kunden zu ihrer Person (Alter, Familienstand, Einkommen, Arbeitsfeld) auch animierte Figuren auf die Bildschirmoberfläche spielen, die dem Kunden die Identifikation mit dem so elektronifizierten »Gespräch« erleichtern. Wohlgemerkt: Das ist keine Zukunftsmusik, sondern in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern schon arbeitsplatzvernichtende Praxis. Zu den Hunderttausenden so künftig von Sparkassen, Banken und Versicherungen ersetzten ehemaligen Finanzberatern werden sich Menschen gesellen, die bisher im Handel ihren Verdienst gefunden haben. Auch hier arbeiten nicht nur bei Amazon, sondern auch bei anderen Ketten Tausende eifrige Menschen daran, die Einzelhandelskunden so zu führen, daß sie ihre Waren nicht nur selbst in den Läden (oder per Internet) einsammeln, sondern an der Kasse auch selbst bezahlen und so Zehntausende von Kassiererinnen und Kassierern von ihrer bisherigen Lohnarbeit »befreit« werden können. Zukunftsmusik dürfte es noch sein, auch die vielen LKW-Fahrer durch elektronische Steuerungselemente zu ersetzen – aber die Musik schallt vom Horizont schon deutlicher herüber als noch vor zehn oder 20 Jahren. Wie so oft in der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus ist es auch hier Militärmusik: Die Durchbrüche in der menschenbefreiten Steuerung maschinengetriebener Fahrzeuge wurden bei der Entwicklung von militärischen unbemannten Fluggeräten erzielt. Allen den jetzt vor uns liegenden Rationalisierungsschüben ist gemein, daß sie im tertiären Sektor, also nicht bei der Herstellung gegenständlicher Waren, sondern bei ihrer Verteilung beziehungsweise im Bereich von Dienstleistungen stattfinden. Parallel schreitet die Rationalisierung im Bereich der Landwirtschaft und Industrie weiter voran. Bis in die 1970er Jahre bewirkte die sogenannte fordistische Revolution, daß die freigesetzten Arbeitskräfte kapitalistisch verwertet wurden, um Hausarbeit via Wasch- und anderer Maschinen in profitträchtige Waren zu verwandeln und vor allem die Mobilität durch die Herstellung von Autos zu einem zentralen Gegenstand der Mehrwertproduktion zu machen. Entsprechende neue Felder finden sich heute aber weit und breit nicht. Wäre unsere Ökonomie vernünftig und nicht über das unvernünftige kapitalistische System organisiert, wäre das alles kein Fluch, sondern ein Segen. Für Millionen Menschen eröffneten sich zeitliche Räume für sinnvolle, befriedigende Tätigkeiten. Aber kapitalistisch organisiert führen die Rationalisierungsschübe zu einem unentwegten Anwachsen der Zahl dauerhaft Arbeitsloser, die von den schrumpfenden, aber hochprofitablen Kernbereichen kapitalistischer Mehrwertproduktion über staatlich organisierte Transfersysteme am Leben gehalten werden. Solange die Menschen die Grundlagen dieses Apparates – Tausch, Markt, Geldwirtschaft, Profit und die alles per gesetzlichen Zwang zusammenhaltenden Staatsmaschine – unangetastet lassen, wird sich dieser Verelendungsprozeß Schub für Schub wie eine Sumpfblüte weiter entfalten.
Erschienen in Ossietzky 12/2015 |
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