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Aber vom Wahlkampf für eine neue Stadtregierung nebst Bürgermeister, haben sie nichts gemerkt, der verläuft ziemlich leidenschaftslos, eine große Zahl der Bürger hat hier jedes Vertrauen in Politik verloren. Doch am 31. Mai müssen 1000 Gemeinderäte quer durchs ganze Land erneuert werden, daneben sieben Regionalregierungen, auch im Veneto, das bisher fest in der Hand der Lega Nord ist. Die Verstrickung der Parteien – vor allem der seit Jahrzehnten regierenden Mitte-Links-Koalition in der Stadt Venedig – in den größten bisher aufgedeckten Korruptionsskandal Italiens um den Bau der mobilen Schranken gegen das Hochwasser in der Lagune von Venedig (MO.S.E.-Projekt, s. Ossietzky 8/2014) hatte exakt vor einem Jahr zur vorübergehenden Festnahme des Bürgermeisters und zum Rücktritt der ganzen Stadtregierung geführt. Eine Milliarde Euro von sechs Milliarden wurde vom Firmenkonsortium Nuova Venezia veruntreut und zum »Schmieren« aller Instanzen über Stadt und Land verteilt. Seitdem führt Vittorio Zappalorto kommissarisch die Stadtgeschäfte. Er versucht, das beträchtliche Haushaltsloch (30 bis 50 Millionen Euro) durch den Verkauf des venezianischen Tafelsilbers zu stopfen, was hier heißt, ganze Inseln und historische Palazzi auf den internationalen Markt zu werfen. Ein seit langem praktiziertes Vorgehen in Venedig, etwa 100 Großobjekte stehen derzeit zum Verkauf. Die Umwandlung der Hauptpost im berühmten einstigen deutschen Handelshaus (Fondaco dei Tedeschi) am Rialto in eine Luxus-Mall erreichte auch die deutsche Presse. Italia Nostra, die unermüdliche Organisation zum Schutz des italienischen Kulturgutes, konnte durch einen Gerichtsbeschluß nur schlimmste architektonische Verunstaltungen verhindern, aber mehr nicht. Landesweit ist sie immer in der Defensive, denn bisher gibt es keine funktionierenden Mitbestimmungsstrukturen und Kontrollinstanzen. Sogar am Markusplatz soll ein Teil der Prokuratien in teuren Wohnraum verwandelt werden! Aber mit ihren historischen Monumenten verkauft die Stadt auch ihre Seele. Die damit verbundene Abwanderung der Einwohner aus der schönsten Stadt der Welt und die ihre Besonderheit langsam zerstörende Monokultur des Massentourismus stellen nur zwei der vielen Probleme dar, denen sich die neue Stadtregierung stellen muß. Die Zukunft des Handelshafens in Marghera, dessen Strukturen den immer gigantischeren Dimensionen der Containerschiffe nicht standhalten können, die Sanierung und finanzielle Unterhaltung der weitgehend verlassenen einstigen Industriezonen auf dem Festland, die Schaffung eines kommunalen Großraums (Città Metropolitana) bis hin nach Padua aus 42 Gemeinden, das und mehr steht an. Und weckt großen Appetit für Investitionen aller Art, vor allem in die fortschreitende Zubetonierung des Festlandes. 24 Bürgerlisten und Parteien treten Ende Mai an; es gibt zehn Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters. Die Wahlenthaltung wird hoch sein. Wie viele Stimmen die bisher stärkste Partei, die Demokratische Partei (PD), einbüßen wird, ist offen, obwohl sie den fähigsten Kandidaten stellt, den einstigen Staatsanwalt und heutigen Senator in Rom, Felice Casson, der vor zehn Jahren um nur wenige Stimmen dem PD-Gegenkandidaten Massimo Cacciari unterlag. Casson gehört nicht zum Parteiestablishment, stimmt in Rom gegen Renzis »Reformen« und ist hochgeschätzt (aber auch gefürchtet!) wegen seiner legendären Prozeßtätigkeit in Sachen Gladio, Terrorismus, Waffenhandel, Brand des Fenice-Theaters und so weiter. Berühmt wurde er vor allem als mutiger Staatsanwalt im jahrzehntelangen Prozeß gegen den Petrochemiekonzern in Marghera, dessen Verantwortlichkeit für den PVC- und Asbesttod Hunderter Arbeiter sowie für die Umweltschäden in der Lagune er nachgewiesen hat. Neben ihm treten unter anderen je ein Kandidat der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord sowie ein Unternehmer aus Berlusconis Lager an, der viel Geld in den Wahlkampf pumpt und zum Beispiel Fußbälle an die Kinder in Mestre verschenkt. Viele oppositionelle Stimmen werden an die leider zersplitterten Bürgerlisten gehen und könnten Casson zu einem Wahlsieg fehlen. Wenn er unter 51 Prozent der Stimmen bleibt, gibt es zwei Wochen später eine Stichwahl. Dann wird es spannend werden, denn es geht um nichts weniger als die Zukunft der Weltstadt Venedig. Beobachter messen dem landesweiten Wahltermin auch nationale Bedeutung bei, denn Premier Renzi, dessen Reformeifer das Land gerade entzweit, erhofft sich durch gutes Abschneiden seiner PD eine rückwirkende Legitimation durch die Wähler. Eine solche fehlt nämlich den letzten drei Regierungschefs in Italien. Brüssel läßt auch hier grüßen.
Erschienen in Ossietzky 11/2015 |
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