Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Volkes Qual nach der UnterhauswahlJohann-Günther König Das Ergebnis der Unterhauswahl der Briten am 7. Mai wertet die tonangebende Presse hierzulande in zweierlei Hinsicht als »Sensation«: Zum einen, weil die Prognosen der Meinungsforscher von den Wählerinnen und Wählern über den Haufen geworfen wurden; zum anderen, weil die Tories unter Premierminister David Cameron die absolute Unterhausmehrheit gewannen und damit – das erste Mal seit 1992 – wieder allein an der Macht sind. Wirklich sensationell bei der Wahl war für das als eine der ältesten Demokratien Europas gerühmte Vereinigte Königreich jedoch etwas anderes: Nach Berechnungen der Electoral Reform Society (ERS), die seit langem für die Einführung des Verhältniswahlrechts eintritt, haben von den rund 31 Millionen zur Wahl gegangenen Wählerinnen und Wählern 19 Millionen für Kandidatinnen und Kandidaten gestimmt, die aufgrund des Mehrheitswahlrechts keinen Sitz im Unterhaus erhielten. Im Klartext: 63 Prozent der abgegebenen Stimmen – also fast zwei Drittel! – waren sprichwörtlich für die Katz. Welche grotesk-wahnwitzigen Verzerrungen das britische Mehrheitswahlrecht (nicht nur) bei dieser Wahl verursacht hat, ergibt sich aus dem Vergleich der Sitzverteilung und der prozentualen Wahlergebnisse der bekannteren Parteien. Die konservativen Tories erhielten 36,9 Prozent der Stimmen und 330 Sitze. Die sich als sozialdemokratisch verstehende Labour Party erhielt 30,5 Prozent der Stimmen und 232 Sitze. Die rechtsnationalistische und EU-feindliche Partei UKIP erhielt 12,6 Prozent der Stimmen und einen Sitz. Die Liberaldemokraten, die bis zum 7. Mai an der Regierung beteiligt waren, erhielten 7,8 Prozent der Stimmen und acht Sitze. Die Scottish National Party (SNP), eine sehr sozialdemokratisch orientierte, nur in Schottland wählbare Partei, erhielt 4,8 Prozent der Stimmen und 56 Sitze. Die Grünen auf der Insel erhielten insgesamt 3,8 Prozent der Stimmen und einen Sitz. Wohlgemerkt: Die Tories unter Premier Cameron, die in Großbritannien nun allein die Regierung stellen, erhielten nur ein wenig mehr als ein Drittel der Stimmen. Zwar bin ich weit davon entfernt, mit Parteien wie etwa der UKIP zu sympathisieren; es kann in einer Demokratie aber nicht angehen, deutlich mehr als ein Zehntel der Stimmen quasi einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Präziser: Laut ERS mußte bei dieser Wahl für den Unterhaussitz die Kandidatin/der Kandidat der einen Partei lediglich 26.000 Stimmen hinter sich bringen, die oder der einer anderen hingegen fast vier Millionen Stimmen. Auch der überraschend große Erfolg der für einen gerechten Sozialstaat eintretenden Schottischen Nationalpartei, die unter (Ministerpräsidentin) Nicola Sturgeon immerhin 56 der 59 Schottland zustehenden Sitze im Unterhaus errang, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die SNP in Schottland »lediglich« die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhielt. Die Parteienlandschaft in Großbritannien ist in den vergangenen 20 Jahren deutlich bunter und vielfältiger geworden; die Zeiten, in denen die beiden sogenannten Volksparteien Labour und Tories die große Masse der Bevölkerung repräsentierten, sind längst vorbei. Solange das Mehrheitswahlrecht (mit dem Slogan: »First past the post«) nicht durch das uns vertraute, proportional faire Verhältniswahlrecht abgelöst wird – ob mit durchaus bewährter Fünf-Prozent-Klausel oder ohne –, kann von demokratischen Verhältnissen schlichtweg nicht die Rede sein. Immerhin war die Wahlbeteiligung besser als vor fünf Jahren: Sie betrug 66,1 Prozent (in der BRD betrug sie 2013 übrigens 71,5 Prozent). Was Charles Dickens (1812–1870) in seinem Roman »A Tale of Two Cities« (»Eine Geschichte aus zwei Städten«, Insel Verlag, Übertragung nach älteren Übersetzungen von Julius Seybt und Hans-Georg Noack) unübertrefflich über das 18. Jahrhundert formulierte, könnte auf der Insel auch für das angebrochene 21. Jahrhundert traurige Realität werden: »Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.« Und warum? Großbritannien steht vor großen und vielfältigen Herausforderungen, deren menschenfreundliche Bewältigung alles andere als leicht werden dürfte. Der Reihe nach: Die seit dem Unabhängigkeits-Referendum Schottlands auf der Agenda stehende Föderalismusreform, von der sich Schottland, Wales und Nordirland mehr Selbstbestimmungsrechte erhoffen – Zugriff auf die Einkommensteuer, individuelles Veto-Recht gegen EU-Ausstiegsbeschlüsse et cetera – wird kein Kinderspiel werden. Wie immer auch das vom alten und neuen Premier Cameron für 2017 zugesagte Referendum über den Verbleib in der EU ausgehen wird, ob die von den Tories der EU bereits angedrohten ultimativen »Deals« zur Schwächung besonders der mit der Personenfreizügigkeit – noch – verbundenen freien Arbeitssuche und vor allem der Sozialleistungen wie Kindergeld in Brüssel durchgesetzt werden können, ist zwar ungewiß. Für die sich immer mehr vertiefende soziale Spaltung in Großbritannien wie auch den anderen EU-Mitgliedstaaten dürften sie jedoch zusätzlich verschärfend wirken. Vor allem aber hat der »wiedergewählte« konservative Regierungschef nun freie Fahrt für sein erklärtes Ziel, die britischen Staatsaufgaben stark einzuschränken: die wenigen noch existenten Staatsbetriebe dem Privatkapital zu übereignen und weitere Kahlschläge im Sozialsystem vorzunehmen. Bis 2018 soll der Wohlfahrtsetat jedes Jahr um zwölf Milliarden Pfund gekürzt werden. Für die vielen Millionen Familien und Alleinstehenden, die kaum mehr als das Existenzminimum zur Verfügung haben, drohen die ohnehin harten Zeiten nun endgültig betonfest zu werden: In Aussicht stehen weitere Einschnitte bei den Wohngeldzuschüssen (und ihre Streichung für 18- bis 21jährige), bei den Hilfen zum Lebensunterhalt, bei der Arbeitslosenunterstützung und den Wiedereingliederungshilfen und andere mehr. Auf was die nächste Sozialstaatsstrangulierung konkret hinausläuft, wird in den kommenden Monaten entschieden werden. Sicher ist: Was die Mehrheit am 7. Mai nicht gewählt hat, wird nun Programm: Für ein Drittel der Briten bleibt das Leben vielleicht angenehm – für den Rest, so fürchte ich, gewiß nicht.
Erschienen in Ossietzky 11/2015 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |