Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Die erzählten PanjewägelchenMatthias Biskupek Der Begriff »Erlebnisgeneration« zeigt zunächst Positives an. Die Generation, die noch selbst erlebte ... Den Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt zu haben, gehört zum Besten meines Lebens. Räumlich nahe rückte mir Krieg erst in den Neunzigern, als deutsche Politiker glaubten, die Welt auf dem Balkan wieder mal ordnen zu müssen. In meiner frühen und späteren Kinderzeit – ich bin Jahrgang 1950 – gehörte »vor dem Krieg« und »nach dem Krieg« zu den wichtigen Zeitbestimmungen. Vor dem Krieg gab es Schlagsahne und Kaffeekränzchen im Häuschen meiner Großeltern, und nach dem Krieg gab es Hunger an der Zschopau und Zigaretten auf dem Schwarzmarkt. Bei uns zu Hause wurde viel gesprochen, wurde in der Erinnerung gekramt und uns, dem Nachwuchs, meist geantwortet. Mein Vater war ein Erzähler vor seinen Herren Kindern; meine Mutter mußte gelegentlich einschreiten: Das hast du doch schon ganz anders erzählt. Ihr wichtigster Ausspruch damals lautete: Egal, was passiert, Hauptsache, es gibt keinen Krieg mehr. Sie war weniger auskunftsfreudig als mein Vater. Sie schwieg über das, was sie als Teenager in Leipzigs Kriegstagen erlebt hatte. Erst aus einem Bericht meines Onkels, ihres jüngeren Bruders, erfuhr ich, daß sie beim Bombenangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 eine Brandbombe vom Dachboden ihres Elternhauses in den Garten geworfen hatte. Mein Vater war nach sechs Jahren Krieg und ständigen Einsätzen an West- wie Ostfront, eine Laufbahn vom Soldaten bis zum Leutnant absolvierend, lediglich einige Stunden in Gefangenschaft. Ende April war er »vom Engländer« in Gewahrsam genommen worden, irgendwo südlich von Hamburg. In eine löchrige Scheune hatte man ihn und seine verbliebenen Männer gesperrt, aus der er sich alsbald selbst entließ. Zuvor hatte er noch in der Lüneburger Heide einen »Brückenkopf«, wie er sagte, mit ein paar Soldaten gebildet, um »den Engländer« aufzuhalten. »Da hat es doch nicht etwa noch Tote gegeben?!«, begehrte meine Mutter auf, obwohl sie die Geschichte gewiß schon gehört hatte. Mein Vater wollte sich von derlei Nachfragen nicht stören lassen, erzählte, wie er sich nach der Flucht aus der Scheune von einem niedersächsischen Bauernhof nebenan eine Arbeitskombi »organisiert« hatte, mit einem »P« wie »Pole« auf der Brust. Immerhin kannte er »wasserpolackische« Ausdrücke. Die Uniform vergrub er sorgsam und machte sich mit einer Hacke über der Schulter auf den Weg gen Süden, nach Leipzig. Sobald auf der Straße Truppenbewegungen zu hören oder zu sehen waren, schlug er sich seitwärts, nicht in die Büsche, sondern aufs Feld, und hackte, eine friedliche Frühjahrsbestellung vortäuschend. So gelangte er nach mehreren Tagen bis nach Schkeuditz, am nordwestlichen Ende Leipzigs, damals kein sächsischer Grund und Boden, aber mit Straßenbahnendstelle. Die Bahn verkehrte in diesen ersten Friedenstagen schon wieder, die Amerikaner, die ab 18. April Leipzig erreicht und befreit hatten, waren froh, wenn die besiegten Deutschen ihr Leben einigermaßen regelten. Mein Vater fuhr mit der Bahn einmal längs durch die Stadt bis an den südlichen Rand, wo seine junge Frau, die noch nicht meine Mutter war, wohnte. Große Freude – bis auf mißgünstige Nachbarn: »Wieso issn der schon da? Der war doch sogar Offizier! Und mir wissen von unsern Männern gornischd …« Wie meine Mutter denn den Einmarsch der Amerikaner erlebte? An weiße Fahnen konnte sie sich nicht erinnern, denn die Amerikaner waren doch mehr in der Stadt drinne, bei uns draußen war nischd … Dabei gab es in einem Kilometer Luftlinie von ihrer Märchenwiese noch am 19. April schwere Kämpfe am Völkerschlachtdenkmal. Doch die Leipziger Bürgerstochter war, wie viele, von Informationen abgeschnitten; Zeichen und Wunder – die Heimkehr des Mannes – geschahen ohne Vorwarnung. Die Behörden waren weitgehend wieder oder noch intakt. Nach einem Besuch meines Vaters im Amt bekam er einen Ausweis, der ihn zum »Behördenangestellten« machte. Mein Vater war seit seinem Abgang vom Realgymnasium nie im Zivilen tätig gewesen: Reichsarbeitsdienst, Legionär in Spanien, Einberufung zur Wehrmacht, Krieg, Kriegsschule, Krieg, Einschluß in Scheune. Die Heimatstadt meines Vaters war, als er in Norddeutschland den Krieg beenden mußte, noch eine Festung, sprich: ein Widerstandsnest ohne Sinn: Breslau. Seine Mutter mußte dort ausharren. Wenn wir Kinder sie nach Breslau fragten, sprach sie in ihrem schlesischen Dialekt: »Schlimm wors, schlimm, fragt ni, Kinner.« Als entsprechend der Februar-Vereinbarungen von Jalta die Amerikaner aus Leipzig Ende Juni 1945 abzogen und die Rote Armee am 3. Juli einrückte, standen meine Eltern gemeinsam am Roßplatz. Übereinstimmend und unabhängig voneinander erzählten sie oft, wie sie standen und schauten. Eine endlose Reihe von Soldaten, wenig geordnet neben ihren Pferdewagen einhergehend, Panjewägelchen, wie sie sagten. Und beide dachten – und sprachen es noch nach Jahren aus: Die haben uns besiegt. DIE haben UNS besiegt. Die vielen Briefe, die sie seit 1940 einander aus dem und in den Krieg geschrieben hatten, verbrannten sie gemeinsam im März 1945, als mein Vater einen kurzen Urlaub von jener Front hatte, die es eigentlich schon nicht mehr gab. Die Briefe sollten keinem Feind in die Hände fallen. In den Briefen müssen sie viel über ihre Liebe zur Musik geschrieben haben; Musik machte sie einander vertraut, als sie noch kaum etwas voneinander wußten. Mein Vater, Halbwaise, die Mutter Reinemachefrau, hatte es geschafft, Geigenunterricht zu bekommen; meine Mutter spielte Klavier und hatte in der Musikstadt Leipzig noch im Krieg viele Berühmtheiten gehört. Musik war beiden, wie sie erzählten, nach Kriegsende wichtig. Die Violine meines Vaters, ein Stück vom Meister Fritz Heberlein aus Markneukirchen von 1924, war von Breslau nach Leipzig gelangt und hatte das Kriegsende unbeschadet überstanden. »Vor dem Krieg« und »nach dem Krieg« bekamen so für mich einen eigenen Klang. Den richtigen Ton auf der Geige kann heute allerdings nur mein Sohn treffen, wenn er zur Weihnachtszeit zu Besuch kommt. Und wir ihm erzählen, was uns erzählt wurde.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |