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Mit einer schwungvollen Bewegung wirft er seinen Umhang ab, sich dann an einen Schüler wendend und in reinem Österreichisch sagend: »Tretens aus der Bank heraus.« Der so Angeredete sagt leise, aber hörbar: »Das kenne ich schon von Buchenwald.« Stille. Wir setzen uns, die Beschäftigung mit den Zahlen und Zeichen beginnt. Das war das erste und einzige Mal, daß ich aus Daniels Munde das Wort Buchenwald hörte, womit die letzte seiner Leidensstationen benannt war. Daß er sie erreicht und überlebt hatte, war Folge einer Kette von Entscheidungen und Zufällen in einem Leben, in das die deutschen Eroberer mit ihren Militärstiefeln gestampft waren. Sie hatten Grodno besetzt. Dort wie in ungezählten anderen Städten und Ortschaften begann das Zusammentreiben der Juden, von denen die einen vorerst zur Ausbeutung, die anderen sogleich zur Überweisung an die Mörder bestimmt waren. Daniel gelangte mit seinem Vater in mehreren Etappen bis nach Auschwitz-Monowitz. Dort war er am Ende seiner Kräfte. Bei einer der nächsten Selektionen würde er für die Gaskammer bestimmt sein. Da nahm sich in der Krankenstation ein Mann, der dort als Schreiber arbeiten mußte, seiner an. Er versteckte ihn, wenn die Inspektoren eintrafen, die über Leben und Tod entschieden. Der Mann hieß Stefan Heymann. Er war ein in Mannheim geborener deutscher Jude, der wie viele seinesgleichen 1914 freiwillig in den Krieg gezogen war, im Glauben, für sein Vaterland zu streiten. Er war Offizier geworden, hatte das Eiserne Kreuz erworben. Dann jedoch war er als Pazifist aus der Mörderei zurückgekehrt. Sein Weg führte ihn in die Kommunistische Partei. Er wurde Redakteur ihrer Zeitungen in Baden und in Schlesien. Dann siegten die Faschisten. Nur wenige seiner Genossen er- und überlebten seit 1933 so viele Haftjahre wie er. Stefan und Daniel überstanden den Transport ins Reichsinnere und in das Lager auf dem Ettersberg. Dort erlebten sie ihre Befreiung. Nach unserer ersten Begegnung in der antifaschistischen Jugend in Weimar führten Daniels Wege und die meinen uns in jener Schule auf dem Thüringer Wald bald wieder und noch enger zusammen. Stefan Heymann, inzwischen ein Kulturpolitiker in Thüringen, hatte gegen Ende 1945 zuerst mich und dann ihn an die einst berühmte, von den Faschisten umgestülpte Internatsschule Wickersdorf gewiesen. Dort teilten wir uns – zu viert – im ersten Nachkriegswinter einen Aufenthalts- und einen ungeheizten Schlafraum. Noch heute frage ich mich, was wir uns dabei gedacht haben, Daniel mit uns nachts in diesem Kühlschrank unterzubringen. Er stellte keine Ansprüche und über Buchenwald und Auschwitz wurde nie geredet. Wir fragten nicht, und Daniel schwieg. Unser Zusammensein währte nicht lange. Daniels Knochen-TBC-Erkrankung verlangte eine längere ärztliche Behandlung in einem Sanatorium. Danach setzte er seine Ausbildung an dem Gymnasium fort, das für Kinder des Personals der Besatzungsmacht in Weimar eingerichtet worden war. Eines Tages ging es für ihn zurück in die Heimat, die nun Teil der Sowjetunion war. Das Studium schloß sich an. Wir sahen einander noch in großen Zeitabständen. Daniel wurde Mitglied des Internationalen Auschwitz-Komitees. Von dessen Tagungen, zu denen er von Kuibyschew an der Wolga, das heute wieder Samara heißt, anreiste, machte der Professor für Physik einen Abstecher zu uns, die es nach Berlin verschlagen hatte. Das letzte Mal begegneten wir einander im Kreis Gotha. Dort sollte eine Schule einen Namen erhalten und nach Stefan Heymann benannt werden. Dafür gab es Gründe genug, hatte er doch, bis er nach Berlin berufen und später Botschafter der DDR in Budapest und in Warschau wurde, im Kulturleben des Landes während der ersten Nachkriegsjahre eine Spur gezogen, die dem Eben-noch-NS-Mustergau Thüringen neues Ansehen und alten Glanz wiederzugeben begann. Daniel war als Redner geladen. Er sprach über die Begegnung beider in Auschwitz-Monowitz und sagte, er habe zwei Väter, seinen leiblichen, der wie er überlebt hatte, und Stefan Heymann, ohne dessen Eingreifen er lebend der Hölle nicht entkommen wäre. Daniel reiste an die Wolga zurück. Von dort schickte er einen Band mit seinen Lebenserinnerungen. Er trägt den Titel »Der Weg von Grodno« und ist zuerst in russischer Sprache, dann auch in englischer Übersetzung erschienen. Dort erst las ich die Geschichte, in der er erzählt, wie er von seiner Mutter und seinen jüngeren Geschwistern getrennt wurde. Er stand in der Reihe der nach den faschistischen Maßstäben Unbrauchbaren. Doch seine Mutter schob ihn in die der anderen mit den Worten, er solle sich an den Vater halten. Das war ihr Abschied – auf immer. Dann kam die Nachricht von Daniels Tod. Er hat die Kunde, daß die Schule im Thüringischen im Zeichen der Wende schleunigst den Namen Stefan Heymann abgelegt hat, wohl nicht mehr erhalten. Nahezu ein Vierteljahrhundert später läßt sich fragen, ob sich im Erfurter Ministerium für das Schulwesen, also in der Regierung Bodo Ramelows, in der Schulbehörde zu Gotha und vor Ort nicht Menschen finden, die sich bemühen würden, die Schandtat, die nicht ungeschehen gemacht werden kann, einer Zeit zuzuordnen, in der sich auch Dummheit, Panik und Unanständigkeit ausleben konnten, ob da niemand wäre, ein öffentliches Zeichen der womöglich gewonnenen Distanz zu setzen. Und dann ließe sich vielleicht auch ein Drehbuchautor finden, der die Geschichte für einen Filmregisseur erzählt. Es wäre die eines deutschen und eines von Geburt polnischen Juden, eines Mannes, der nach dem Kriegserleben Kommunist wurde, und eines Jungen, den eine lebensrettende Begegnung mit dem Humanisten an dessen Seite führte. Eine Geschichte, bei der mir der Satz einfällt: Wer das Leben eines Menschen gerettet hat, der hat die Welt gerettet. Verlag und Redaktion Ossietzky gratulieren Kurt Pätzold herzlich zu seinem 85. Geburtstag am 3. Mai.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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