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Mein Großvater war Bergarbeiter, mein Vater Hilfslaborant in der Lackfabrik Louis Blumer, auf deren Gelände wir in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung in der ehemaligen Villa der Fabrikbesitzer wohnten. Befreit wurden wir von der U.S. Army, besetzt von der Sowjetarmee; und das geschah so: Mitte April 1945 marschierten US-Einheiten in die Stadt ein und drangen bis zur Mulde vor. Zur gleichen Zeit erreichten Truppen der Roten Armee das östliche Ufer des Flusses, das außerhalb des Stadtzentrums lag. Zwei Monate später zog sich die US-Armee bis nach Bayern zurück und erhielt dafür gemäß den Vereinbarungen der Konferenz von Jalta ebenso wie britische und französische Truppen große Teile der ehemaligen deutschen Reichshauptstadt, womit der Grundstein für den Viermächte-Status von Berlin gelegt wurde. Das alles erfuhr ich, damals war ich gerade einmal knappe zehn Jahre alt, natürlich erst später. Aber die Frage, wie sich mein weiteres Leben gestaltet hätte, wenn Zwickau Teil der amerikanischen Besatzungszone geblieben wäre, habe ich mir zuweilen gestellt und werde sie nie beantworten können. Zuerst also kamen die US-G.I.s. Unweit »unserer Villa« in der Reichenbacher Straße führte eine stählerne Eisenbahnbrücke zum nahegelegenen Hauptbahnhof. Beim Näherrücken des »Feindes« befahl der Stadtkommandant dem städtischen Volkssturm, die Durchfahrt unter der Brücke mit einer Barrikade zu versperren. Diese bestand nur wenige Stunden. Kurz nach ihrer Errichtung tauchte ein Jeep auf, von dem aus, für uns deutlich zu hören, per Lautsprecher in perfektem Deutsch der Befehl erteilt wurde, die Sperre sofort zu beseitigen, anderenfalls würde die gesamte Brücke weggesprengt. Den Anwohnern und Arbeitern der in der Nähe gelegenen Fabriken mußte das nicht zweimal gesagt werden, in wenigen Stunden war die primitive Wehranlage beseitigt und die schier endlose Wagenkolonne der US-Army hatte freie Fahrt. Mit meinen Freunden stand ich am Straßenrand und schaute dem Schauspiel zu. Am beeindruckendsten war der Zustand der mächtigen Truppentransporter. Im Abendlicht glänzten sie, als wären sie gerade aus einer Waschanlage gekommen. Keiner der Zuschauer am Straßenrand winkte den Befreiern zu, aber es gab an den Häusern der langen Straße in das Stadtzentrum nahezu kein Fenster, aus dem nicht große weiße Bettlaken hingen. Die Stadt ergab sich kampflos, aber fanatische Nazis gab es mehr als genug. In unserem Nachbarhaus spielte sich folgende Szene ab: Noch während die kurzlebige Brückenbarrikade errichtet wurde, flüchtete sich der Bruder meines Freundes in Wehrmachtsuniform in die Wohnung seiner Eltern. Er war zu Hause und schien gerettet zu sein, aber andere Hausbewohner hatten das Geschehen beobachtet. Sie schrien aus dem Fenster: »Der Lump desertiert, anstatt uns zu verteidigen!« Wenig später kamen Männer in Zivil und führten ihn aus seinem Elternhaus ab. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Schon am Tag nach dem Einmarsch hatten die Sieger ihre Kommandantur im besten Hotel der Stadt, im nahegelegenen »Hotel Wagner«, eingerichtet, vor dem an jedem Tag ein beeindruckender Morgenappell zelebriert wurde. Wir Jungen aus der Umgebung waren nicht nur neugierige Zuschauer, wir waren auch hungrig und wären für jede kleine Gabe dankbar gewesen. Soweit aber ging die Feindesliebe nicht. Bald jedoch stellten wir fest, daß tagtäglich ein Lastwagen mit Speiseüberresten, vor allem mit Brot, weißem, wie wir es noch nie gesehen hatten, und geöffneten Büchsen, halbvoll mit Corned Beef, zu einer wenige Kilometer entfernten alten Berghalde fuhr, und die Köstlichkeiten auskippte. Dort konnten wir uns mit diesen und anderen Nahrungsmitteln versorgen. Zuweilen waren noch geschlossene Büchsen dabei, mit Aufschriften, die wir nicht verstanden. Leider öffnete ein beinahe erwachsenes Mädchen eine solche Büchse, in der weder Fleisch noch Wurst, sondern Phosphor war. Im Heinrich-Braun-Krankenhaus konnte sie gerettet werden, aber die Nächstenliebe hatte sich ihr für ein Leben lang eingebrannt. Eines Tages spazierte mein Vater mit mir über die Muldenbrücke zu den Russen. Wir wurden mit einem gewissen Argwohn, aber freundlich empfangen, erhielten eine Portion wohlschmeckender Suppe und mein Vater sto gramm Wodka. Für kurze Zeit verschwand er mit einem Offizier und kam leicht angeheitert zurück. Die Rückkehr in die noch vorübergehend amerikanische Zone verlief reibungslos, aber am nächsten Tag schon trug er eine rote Armbinde mit den Buchstaben »KPD«. Seine Arbeitskollegen und die Nachbarn reagierten verwundert, die US-Militärpolizei entschlossen. Sie verhafteten und sperrten ihn in das Schloß Osterstein, das seit langem als Zuchthaus diente, in dem schon viele Sozialisten und Kommunisten, darunter August Bebel, Rosa Luxemburg, Hermann Axen, eingekerkert waren. Doch nach wenigen Tagen kehrte mein Vater unversehrt zurück. Bald schon, Anfang Juli, marschierten die Rotarmisten in die Stadt. Die US-Army war gen Westen abgezogen und mit ihnen die strammsten Nazis der Stadt. Der Unterschied zwischen dem Einmarsch der Amerikaner und dem Einrücken der Roten Armee war beträchtlich! Voran fuhren wenige Panzer, denen ein langer Zug von ärmlichen Panjewagen mit immer noch abgekämpften, wenig gepflegten Sowjetsoldaten folgte. Die meisten Bewohner der Reichenbacher Straße blieben aus Furcht vor den »Iwans« in ihren Wohnungen, aus ihren Fenstern hängten sie keine weißen Bettlaken, sondern rote Fahnen, die allerdings einen Schönheitsfehler hatten: In ihrer Mitte zeigten sie einen deutlich markierten Kreis, da, wo noch vor Kurzem das Hakenkreuz geprangt hatte. Als der Zug anhielt, begann ein lebhaftes Gedränge, die bösen Russen stürzten sich nicht auf die Mädchen und Frauen, sie verteilten dunkelbraune, duftende, offenkundig unlängst gebackene Brote, und die mutigen Gaffer nahmen sie ungläubig in Empfang. Einige von ihnen sprachen zum ersten Mal in ihrem Leben Russisch: »Spasibo«. Auch ich ergatterte einen Brotlaib. Behelligt wurden wir von den neuen Besatzern nicht. Nur einmal abends standen zwei angetrunkene, ziemlich wild aussehende Sowjetsoldaten vor unserem Gartentor und forderten, eingelassen zu werden. Mein Vater eilte herbei und schwenkte einen kleinen handbeschriebenen Zettel, worauf sie die Hacken zusammenschlugen und sich davonmachten. Später zeigte mir mein Erzeuger das Papier, darauf stand auf russisch und deutsch: »Hier wohnt der deutsche Arbeiter Hartmann, Sozialdemokrat, der sich stets gut gegenüber den russischen Arbeitern verhielt, und wir bitten seine Sachen nicht anzutasten. Die russischen Arbeiter …«, und es folgten drei unleserliche Unterschriften. Das Papier, es ist noch heute in meinem Besitz, war das erste russische Schriftstück, das ich in den Händen hielt. Damals konnte ich nicht ahnen, daß ich neun Jahre später mein Studium am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen beginnen und erstmals auf dem Roten Platz in Moskau spazieren würde. Auch mein Vater, der kein Sozialdemokrat, sondern Kommunist war, konnte beim Einmarsch der Rotarmisten nicht wissen, was mit ihm geschehen würde. Nur wenige Tage danach wurde er in die sowjetische Stadtkommandantur einbestellt. Dort teilte man ihm mit, daß die Lackfirma Louis Blumer enteignet und als Reparationsleistung in sowjetischen Besitz übergegangen sei, er aber mit sofortiger Wirkung die Leitung des Werkes als Treuhänder zu übernehmen habe. Schon am nächsten Tag, es war ein Sonntag, zog der Hilfslaborant Hartmann in das mit edlen Hölzern getäfelte Chefzimmer. Er nahm mich mit, und mit neugierigem Staunen sah ich zu, wie er in den ersten Stunden nach seinem unerwarteten beruflichen Steilflug einen Füllfederhalter strapazierte, um wenigstens eine passable Betriebsleiterunterschrift hinzubekommen. Er wurde ein guter Treuhänder, unter dessen Leitung das Werk schließlich der VEB Lackkunstharz- und Lackfabrik Zwickau, ein volkseigener Betrieb, wurde. Auch er konnte nicht ahnen, daß Treuhand und Treuhänder später einmal dazu dienen würden, des Volkes Eigentum in privatkapitalistischen Besitz zurückzuführen.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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