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Der Abschied vom Dorf, den Tieren, meinem Hund und den Katzen, aber vor allem von den vertrauten Knechten und Mägden, die alle Ukrainer waren, fiel mir zwar schwer, aber es gab eine große Vorfreude auf Deutschland, die Heimat unserer Vorfahren, die 1839 aus Württemberg ausgewandert waren. Eine Heimat, die ich trotz der Fotos und Erzählungen eigentlich für ein Märchenland hielt: Wir nannten die Dörfer rund um Stuttgart »Das Reich« – dorthin sollte es demnach gehen! Ich wußte aber nicht, daß durch die kriegerische Eroberung auch Polen schon zum »Deutschen Reich« gezählt wurde. Ich hörte zwar Sätze wie: »Die bessarabischen Bauern sollen die ›polnische Scholle‹ arisieren«, aber den Sinn verstand ich nicht. Im Oktober 1940 verließen wir unser Dorf. Die Ernte von Feldern und Weinbergen war eingebracht worden. Alles mußte zurückbleiben. Es folgte ein enttäuschendes Jahr. Unter primitiven Verhältnissen waren wir in Jugoslawien, später im Protektorat Böhmen und Mähren in Fabrikhallen oder in Schulen untergebracht. Die einst wohlhabenden Bauernfamilien kampierten mit Hunderten Leuten aus ihrem Dorf wie Flüchtlinge in Doppelstockbetten. Auf meine kleinlaute Frage, wo denn »Das Reich« sei, reagierten meine Mutter und meine Schwestern nur mit Tränen. Nach einem Jahr Lagerleben wurden wir endlich in ein polnisches Dorf bei Posen eingewiesen. Freudentränen löste das bei den Erwachsenen nicht aus. Ich hörte zum ersten Mal davon, daß die polnischen Bewohner in die umliegenden Wälder verjagt worden seien. Mich tröstete, daß da ein schöner Hund war. Meine Mutter war froh, nach einem Jahr Provisorium für uns wieder Wohnung, Hof und Garten zu haben. Mich irritierte allerdings, daß sie immer seufzte: »Es ist Sünde, daß wir dieses Haus mit Vieh und Garten genommen haben. Wo sind die Besitzer?« Sie fühlte sich wie eine Einbrecherin. Ich freundete mich mit dem schönen Hund an; der Alltag normalisierte sich: Das Vieh wurde gefüttert und die Familie versorgt. Ehemalige Hofbesitzer meldeten sich als »Landarbeiter«. Polen war besiegt. Die deutschen Truppen kämpften jetzt in Rußland, auch mein 18jähriger Bruder. Er starb bei Scharkow. Ich hörte ein mir bis dahin unbekanntes Wort: »Rückmarsch«. Am 20. Januar 1945 hieß es: »Packen!« – jetzt ging es nach Deutschland. Die Erwachsenen wußten, daß Deutschland den Krieg verloren hatte. Auf dem Kutschbock saß »unser Knecht« – der polnische Besitzer des Hofes. Er wollte uns schützen, falls es etwa zu Konflikten mit Polen kommen würde – ein beispielhaft gütiger Mensch. Vor Ratlosigkeit ob der Ereignisse klammerte ich mich an meinen Hund, doch plötzlich sprang er vom Wagen und folgte mit dem Schwanz wedelnd seinem polnischen Herren. Damals habe ich wohl erstmalig geahnt, wie kompliziert Eigentumsverhältnisse sind. Die Kälte war bitter. Seit Tagen hatten wir 20 Grad unter Null. Amerikanische Tiefflieger erschreckten uns. Die Pferde scheuten. Damals wußte ich nicht, wer uns wovon hätte befreien sollen. Frankfurt an der Oder war die erste Stadt, die wir auf deutschem Boden erreichten. Immer wieder mußten wir in Scheunen auf unseren Wagen übernachten und spürten, daß wir als Fremde von den Einheimischen gemieden wurden. Götz hieß der kleine Ort im Brandenburgischen, der unser erster Wohnort in Deutschland sein sollte. Als wir treuherzig erzählten, daß wir bereits aus Bessarabien umgesiedelt worden waren, galten wir nicht mehr als Deutsche, sondern als »Russen«. Mein Spitzname war »Iwan«. Ich durfte nicht mit in die Schule, denn die sei nur für Deutsche. Meine Eltern hatten nach der lebensgefährlichen Flucht nicht mehr die Kraft, für meinen Schulbesuch zu kämpfen. Am 31. März erlebten wir einen schweren Bombenangriff auf die nahe Stadt Brandenburg. Meine Erfahrungen bestanden bislang darin, daß deutsche Truppen Polen und weiter Teile Rußlands zerstörten. Daß die Amerikaner, um Hitler zu besiegen, eine deutsche Stadt mit Bomben in Brand setzten, hatte mir noch niemand erzählt. Am 27. April war auch in Götz »Feindalarm«. Die Erste Ukrainische Front nahm den Ort ein. Es fiel kein Schuß, denn die deutschen Soldaten waren geflüchtet. Meine Eltern und meine beiden Schwestern begrüßten die ukrainischen Soldaten in ihrer Landessprache, die sie in der Schule gelernt hatten, und empfingen sie gar nicht wie feindliche Besatzer. Das vertiefte den Bruch mit den einheimischen Dorfbewohnern, weil sie nun überzeugt waren, daß unsere Familie zu den »Russen« gehörte. Wir wohnten als Flüchtlinge in einer Gaststätte, in der nun auch ungefähr 50 Soldaten der Ersten Ukrainischen Front Quartier machten. Sie kochten auf dem Hof und luden unsere Familien ein zu helfen. Und als meine Mutter und meine beiden Schwestern in die ukrainischen Lieder einstimmten, war das Erstaunen groß: »Wer seid ihr denn? Woher kommt ihr? Woher kennt ihr unsere Lieder?« Die Antwort, daß wir aus der Nähe von Odessa kommen, löste freundschaftlichen Jubel aus, erst recht aber die Tatsache, daß meine Mutter und meine Schwestern ukrainischen Borschtsch kochen konnten. Inzwischen hatte eine Soldatengruppe einen Schuppen in eine Sauna umgebaut. Das Wasser dampfte. Draußen spritzten sich die Soldaten kalt ab. Nichts erinnerte an Krieg, obwohl der noch nicht beendet war. Für meine Familie war es der erste Tag Frieden!
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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