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Darum arbeitete er auch – neben seinen anspruchsvollen Pflichten im Betrieb – für Görings Luftfahrtministerium bis spät in die Nacht an der Konstruktion einer speziellen Abwehrwaffe gegen »feindliche Geschwader«. Wir hatten oft Besuch aus besagtem Ministerium; von den makellos eleganten Uniformen der Herren war ich fasziniert, denn die kannte ich ja nur aus dem Kino. Ich war zwölf Jahre alt, besuchte lerneifrig das Lyzeum, war Jungmädelschaftsführerin und völlig irritiert, wie sympathisch und fröhlich die 50 ukrainischen Frauen, allgemein als »Russinnen« bezeichnet, miteinander umgingen, die als Arbeiterinnen unserer Fabrik in einer Baracke auf engstem Raum lebten. Daß meine Mutter ihnen erlaubte, in unserem großen Garten am Ufer der Gera zu sitzen, brachte ihr harten Protest der deutschen Arbeiterinnen ein und einen Verweis von der »Reichsarbeitsfront«. Meine wiederholte Frage, warum die Ukrainerinnen einen Aufnäher »Ost« auf ihrer Kleidung tragen mußten und bei Alarm nicht zu uns in den Luftschutzkeller durften, überhörten die Eltern beharrlich. Andere Erwachsene erklärten mir bereitwillig, daß wir bis zum Endsieg diese Frauen als »Feinde« erkennen müßten, und im Luftschutzkeller für »Sowjets« kein Platz sei. Eines Tages im April verkündete die Sirene auf unserem Dach »Feindalarm«. Die 12 Nachbarinnen aus der nichtunterkellerten Siedlung schleppten – stumm vor Erregung – viele Gepäckstücke in den Keller, es wurde immer enger. Ich war bis dahin tatsächlich keinem Menschen begegnet, der eine Kapitulation Deutschlands für möglich gehalten oder gar gewünscht hätte. Auch ich hatte geglaubt, daß die »Wunderwaffen«, an denen ja auch mein Vater gearbeitet hatte, zum Sieg führen würden. Einige Tage zuvor war mein Vater noch zum Volkssturm eingezogen worden, er war aber kurz darauf nachts heimlich wieder nach Hause gekommen. Meine Mutter versteckte hastig die Uniform, und wir Kinder durften nicht an sein Bett, denn er habe eine schwere »ansteckende« Krankheit, dürfe also auch nicht in den Luftschutzkeller. Das verstanden wir. Die Kellergespräche beim Feindalarm mündeten immer wieder in die Klage, daß Deutschland diese Schmach nicht verdient habe, daß die Russen nun alles verwüsten würden. Einige gaben zu, im »Feindsender« gehört zu haben, daß nicht die Russen, sondern die Amerikaner Thüringen besetzen würden, sie würden die deutsche Kultur zu schätzen wissen! Aber die hautnahe Angst war: Nun werden die 50 »Russinnen« unsere Wohnungen plündern oder sogar die Deutschen auf die Straße setzen. Da wirkte eine Vermutung wie ein Trost: Die Amerikaner würden uns vor den Russen schützen, denn die seien doch Feinde Amerikas. Für Sekunden atmeten alle auf, aber was war das? Die Nachbarin, die eben diese tröstlichen Vermutungen äußerte, hatte ein uns allen unbekanntes, etwa fünfjähriges Kind auf dem Schoß. Selbst im Kellerlicht konnte jeder erkennen: Das Kind ist mongoloid – wie man damals sagte. Voller Empörung durchbrach eine jüngere Frau die Stille: »Aber dieses Kind hat bei seiner Krankheit doch gar kein Lebensrecht, wieso ist das denn immer noch bei Ihnen?« Der geduldigen Antwort der so angegriffenen Mutter widersprach dann niemand: »Mein Mann ist vor Stalingrad gefallen, und er hat immer gesagt: Unser Kind darf uns niemand wegnehmen. Ich war nur nachts mit dem Mädchen an der Luft, bei Alarm mußte es alleine in der Wohnung bleiben.« Am nächsten Tag standen fünf Jeeps der US-Armee auf dem Fabrikhof. Auch die dunkelhäutigen Soldaten kauten lächelnd ihre Kaugummis. Wir alle brachten erleichtert unsere Taschen und Koffer aus dem Keller nach Hause: Wenn schon Kapitulation, dann wenigstens vor den Amerikanern. Im Juli wurde die Aufteilung der Besatzungszonen neu geregelt. Daß Thüringen nun der sowjetischen Zone zugeteilt wurde, sorgte für Aufregung und Protest: »Das kann man doch mit uns nicht machen … Sind wir schlechtere Deutsche als die in Köln?« Als Köln bombardiert worden war, hatte Erfurt viele »Ausgebombte« aufnehmen müssen. Für die Familien, die plötzlich ein Zimmer »abgeben« mußten, war das eine schwere Belastung. Nun war dort »Westen«, bei uns »Osten«. Weshalb wurden wir so gestraft? Als die Schule wieder begann, unterrichteten uns neue, promovierte Lehrkräfte mit ostpreußischem oder schlesischem Akzent. Einige sagten, sie seien überzeugte Sozialisten, was wir nicht verstehen konnten – oder wollten. Für mich bedeuteten später die Lektüre von Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« und ein Vortrag von Pastor Martin Niemöller, zu dem ich als »kirchenferne« Schülerin mitgenommen worden war, die Zäsur im – ach so deutschen – Selbstmitleid. Ich begann zu verstehen, daß Deutschland einen Vernichtungskrieg geführt hatte, für den die Rüstungsindustrie die Voraussetzung war. Mit der ersatzlosen Enteignung der Rüstungsindustrie hatte die sowjetische Besatzungsmacht also im alliierten Einverständnis die Kriegsursachen beseitigt? Das hatte unsere Familie zwar hart getroffen, aber nun verstand ich überhaupt erst die Zusammenhänge. Der 8. Mai 1945 wurde für mich erst lange danach zum »Tag der Befreiung«. Jetzt schämte ich mich sogar, daß auch ich mit neidischer Bewunderung mich darüber gefreut hatte, daß guten Bekannten meiner Eltern, der Fabrikantenfamilie Topf und Söhne, mit zwei Möbelwagen die Flucht aus Erfurt »in den Westen« gelungen war. Aber: Diese Firma hatte nicht nur Auschwitz, sondern alle Konzentrationslager mit Technik zur Menschenvernichtung ausgerüstet. Waren sie »im Westen« nun vor ihrer Vergangenheit sicher? Der befreiende Lernprozeß dauerte Jahre. Unzähligen Menschen habe ich zu danken, die mir dabei geholfen haben, auch den 50 Ukrainerinnen, die als erste das mir eingeübte faschistische Feindbild in Frage stellten. Weil das wiedervereinigte Deutschland einen Friedensvertrag verweigerte und sich nicht zur Konversion der Rüstungsindustrie verpflichtete und weil »Feind-alarm« inzwischen auf der ganze Welt ertönt, ist der 8. Mai mein »politischer« Geburtstag. Die damals in jungen Jahren gelernte Frage: »Wer verdient am Krieg und wessen Interessen bedient er?« ist für mich – gerade als Theologin – zur Lebensfrage geworden.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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