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Hatten wir Kinder nicht 1940 oben vom Balkon im zweiten Stock der Prachtmeile Prager Straße dem Triumphzug der aus dem niedergeworfenen Paris heimkehrenden sächsischen Truppen zugejubelt? Warum hatte nur mich das von frenetischem Hurrageschrei begleitete Spektakel so angewidert? Wieso war das überbordende Blumenmeer für mich so gespenstisch gewesen? Heulend verließ ich als vermeintlicher Spielverderber den Schauplatz. Nach dem »Angriff« wußte ich: Das da Geschehene besiegelte bereits damals das Schicksal dieser Straße. Fasching 1945. Am Tage noch maskiert durch die Gegend getrollt. In der Nacht das makabre Prasseln der Brandbomben und die vernichtenden Schläge der Sprengkörper. Stadtteil Gruna jenseits des Stadtzentrums also voll angeflogen. Angstvolle Stoßgebete von zehn Familien füllen den Luftschutzkeller. Er gibt uns um Mitternacht frei. Mit Scherbengeklirr und Schuttgeraschel durch die Zimmer. Schäden moderat. Gespenstisch – eine nicht gezündete Brandbombe liegt auf dem Balkon. Vaters Hand schleudert sie weit in den freien Garten. Wieder Sirenengeheul. Runter zum Remake schlimmerer Art. Diesmal der wahnsinnige Schlag der Luftmine eine Straße weiter. Alle Fenster kaputt, Querwand eingestürzt, Dach abgedeckt. Ein Löchlein im Bombenteppich erspart uns das Schicksal vieler Nachbarhäuser. Die brennen lichterloh. Läuft das Wasser noch zum Löschen? Die Tage danach: Flucht aufs Dorf bei Meißen. Mutter verletzt mit kaputtem Arm in einer Klinik. Wohnung für inzwischen neun statt vier Personen unbewohnbar. Zu den schon aufgenommenen drei Breslauer Flüchtlingen war die aus dem abgebrannten Haus in der Striesener Schumannstraße gerettete Großmutter Margarete mit ihrer Haushälterin Carmen gekommen. Die Leiche von Großmutter Hermine lag unter dem Schuttberg ihres Hauses in der Comeniusstraße. Kindliche Fragen: Wieso ist sie wenige Meter entfernt von der Residenz des Gauleiters Mutschmann im Inferno zu Tode gekommen? Diese Villa ist fein ausgespart vom Bombenteppich einzig erhalten. »König Muh« darf von dort weiter kommandieren. Und die zu Dresdens Luftverteidigung unfähig gewesenen Göring-Generäle im heil gebliebenen Luftgaukommando hinter dem Großen Garten ebenfalls. »Cui bono?«, wie wir im Lateinkurs lernten. Aber meine politische Lektion begann ja erst. Mit dem Fahrrad kühn quer durch die stinkend rauchende Trümmerwüste der Altstadt – für die einen ein Golgathaweg, für mich der bittere Weg der Erkenntnis. Denn am anderen Elbufer hoch über der zerstörten Neustadt prangten nach wie vor die völlig intakten Kasernen der Wehrmacht. Sie konnte dort die Naziparole »Wir haben doch gesiegt« singen. Ich sah alles Zivile in den Staub getreten. Dämmerte mir schon, was Kultur ist? Die Flucht – wohin? Der braununiformierte gastgebende Bauer suggerierte den Eltern: Die Russen kommen – weg hier! Unsere Flucht Ende April aus dem Dorf nahe Meißen gen Westen heilte mich davon, in dieser Himmelsrichtung jemals wieder mein Glück zu suchen. Ja, ein Horrortrip war es. Mehrmals um ein Haar für Vater, Mutter, Tochter, Sohn tödlich. Ein motorisiertes Gefährt brachte uns nach Altenberg, als winterliches Skiparadies Idol der Dresdner. Auch jetzt eine zivile Oase. Weit und breit kein Soldat mehr zu sehen. In Büroräumen richteten wir uns zunächst wohnlich ein. Wohin nun? Zum Ami? Dieser kam uns stattdessen mit einem Tieffliegerangriff entgegen. Bei schönstem Sonnenschein ohne Sirenenwarnung. Er legte donnernd die idyllische Kirche nebenan in Schutt und Asche. Wir hatten gar keine Zeit, um unser Leben zu zittern. Es war Augenblickssache. Ein surrealer Vorgang: Gerade hatte mein zärtlich gestimmtes Gemüt ein bildschönes an der Bushaltestelle wartendes Mädchen bewundert. Ich könnte sie heute noch malen. Nun lagen die Leichen der zufälligen Passanten auf dem Pflaster. Bange Frage: War sie dabei? Bloß weg hier! Wir machen uns mit dem Handwagen und einem Fahrrad auf den Weg in den Wald Richtung Schellerhau. Auf einmal wimmelt es von Uniformierten. Ein Militärlaster lädt uns kurzerhand ein. Er kommt nicht weit. Auf der Hauptstraße quer staut sich die Waffen-SS mit schwerem Gerät. Eine ohrenbetäubend rasselnde Panzerkolonne erzwingt die Vorfahrt. Eitel spreizt sich aus der Luke des Panzerturms der SS-Kommandeur mit dem Ritterkreuz am Hals, eichenlaubgolden verziert. Schauriger Wahnsinn: Bei der Parole »Kein Durchkommen« bricht Panik aus. Der vor uns auf der Ladefläche hockende Landser spielt mit dem Abzugsfaden der Handgranate zwischen den Fingern. Er will uns alle in die Luft zu sprengen. Wir springen ab. Seitwärts durch die Büsche geht es nunmehr südwärts. Hinter Geising lockt unten die Ebene. Da liegt uns zu Füßen Teplitz. Es ist wie ein Film: Im Augenblick unseres Erscheinens erleben wir das Schauspiel einer völlig anderen Welt. Der vorgeblich so deutsche Ort empfängt namens seiner tschechischen Einwohner gerade die kampflos einrückende Sowjetarmee mit weißen und roten Fahnen. Begeistert wird »Swoboda« gerufen. Da, etwas schüchtern: »Befreiung«. Unsere Misere löst sich auf. Wohin jetzt? Zurück nach Dresden. Aber wo entlang? In den Wäldern wird noch geschossen. Von Osten drängen Flüchtlinge ins Land. Marodierende Gestalten bedrohen meine 19jährige Schwester. Ein energischer Sowjetoffizier schreitet ein und rettet sie. Ein Ausnahmefall? Warum begegnet mir immer das Unübliche? Nur was ich erlebe, prägt mich. In den Wäldern nächtigend, kommen wir nur mühsam vorwärts. Die Mutter ist total erschöpft. Zwischenstopp Schweizermühle Bielatal. Vaters dortige Bekannte haben ihr Haus verrammelt. Ab nach Westen. Also weiter gen Pirna und Heidenau. Genau am 23. Mai, pünktlich zu meinem 14. Geburtstag, sind wir am Ziel. Die Tür unserer mühsam von fremden Hausbesetzern instandgesetzten Wohnung öffnet sich, und die liebe Oma Margarete steht da und fragt ganz verwundert: »Wo kommt ihr denn jetzt erst her?« Ja – wo kamen wir her, und wo gingen wir hin? Seitdem beschäftige ich mich ununterbrochen mit dieser Frage.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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