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Die demokratischen Kräfte hatten zwar die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts und einige andere verfassungsrechtliche Neuerungen durchgesetzt, aber die gesellschaftlichen Strukturen, die ursächlich für den Krieg gewesen waren, blieben im wesentlichen unangetastet. Nach dem von Deutschland begonnenen und verlorenen Zweiten Weltkrieg waren es die Restaurationspolitiker und -publizisten selber, die einen Schlußstrich forderten, aber einen ganz anderen: Über Kriegsursachen und Kriegsschuld sollte möglichst gar nicht gesprochen werden. Und so geschah es. Der Deutsche Gewerkschaftsbund beklagte dann in seinem Grundsatzprogramm die »Wiederherstellung der alten Macht- und Besitzverhältnisse« als vollendete Tatsache. Der Tag der bedingungslosen Kapitulation der Großdeutschen Wehrmacht galt in meiner westdeutschen Schul- und Studienzeit als Tag des »Zusammenbruchs«, ohne daß thematisiert worden wäre, was wann warum zusammengebrochen war. Man sprach auch von der »Stunde Null«, um von ihr aus den »Wiederaufbau« zu ermessen. Stolz ließ man die »schlechten Zeiten« hinter sich. Mit denen waren nicht etwa die zwölf Jahre der Nazi-Herrschaft gemeint. Die »schlechten Zeiten« hatten vielmehr erst mit den Bombenangriffen auf deutsche Städte begonnen. Was nicht in dieses Schema und zu den altgewohnten Feindbildern paßte, wurde mit Schweigen zugedeckt oder umgelogen. Zum Beispiel ließ sich mein Stiefvater dafür bemitleiden, daß seine erste Frau und vier Kinder bei der Besetzung Mecklenburgs von »den Russen« ermordet worden seien. Erst in den 1970er Jahren sagte mir meine Mutter, die Frau habe – verhetzt durch Goebbels‘ Greuelpropaganda – sich und die Kinder mit einer vergifteten Suppe umgebracht, bevor die Rote Armee einrückte. Eine Nachbarin habe die fünf Leichen am Eßtisch gefunden. Oft hörte ich zurückgekehrte Soldaten, besonders Offiziere, schwadronieren, wie Deutschland den Krieg eigentlich doch hätte gewinnen können. In Westdeutschland – anders als im Osten – dauerte es lange, bis überlebende Opfer des Hitler-Faschismus berichteten. Erst nach Jahrzehnten war zum Beispiel Ignatz Bubis, langjähriger Sprecher der Juden in der Bundesrepublik, bereit, sich öffentlich an seine Leidenszeit in Auschwitz zu erinnern. Gefolterte sprechen nicht über die Folter; Scham über erlittene Demütigungen schließt ihnen den Mund. Ein Grund für das Schweigen der Opfer war auch, daß sie fürchteten, sich in der Gesellschaft, an deren demokratischer Umgestaltung sie mitwirken wollten, zu isolieren. Selbst meinem wortstarken Kollegen und Freund Emil Carlebach, Buchenwald-Häftling von der Errichtung dieses KZ bis zu dessen Ende, fiel es schwer, über das durchlebte Grauen zu berichten. Ihm lag mehr daran, über erfolgreiche Solidarität von Mitgefangenen zu sprechen und zu schreiben. Beispielsweise über die Rettung seines Lebens, als die SS ihn ermorden wollte und seine Kameraden ihn in einem Erdloch unter den Holzplanken des Barackenbodens versteckten. Und über die Entwaffnung und Gefangennahme der Wachleute vor dem Einrücken der U.S. Army. 70 Jahre danach haben Katrin Kusche und ich einige Autoren gebeten, ihre Erinnerungen an den 8. Mai aufzuschreiben. So verschieden wie die Lebensgeschichten dieser Autoren sind auch ihre Texte. Ebenso absehbar war von vornherein, daß das Thema dennoch nicht erschöpfend behandelt werden könnte. Müßten nicht auch Griechen, Serben und vor allem Russen und Weißrussen zu Wort kommen, die mehr als alle anderen unter Krieg und Faschismus zu leiden hatten? Auch in Kriegs- und KZ-Gefangenschaft wurden sie am brutalsten erniedrigt und gequält. Und bei der Rückkehr in die russischen oder weißrussischen Gebiete, in denen die Deutschen nur verbrannte Erde hinterlassen hatten, mußten die Überlebenden des Völkermordes wirklich bei Null beginnen. Während heutige EU- und NATO-Politiker, getrieben von Gier nach Vorherrschaft und billigen Rohstoffen, Moskau unter wirtschaftlichen und militärischen Druck zu setzen versuchen, während sich in ganz Europa faschistische Tendenzen verstärken, während die Rüstungshaushalte bedrohlich anschwellen, sollten wir den 8. Mai als Tag der Freude, als Friedensfest gemeinsam mit allen Völkern feiern, besonders dankbar mit denen, die den größten Beitrag zum Sieg über den Faschismus geleistet haben. Und wir dürfen uns nicht von der bleibenden Aufgabe abbringen lassen, Faschismus und Krieg an ihren gesellschaftlichen Wurzeln zu bekämpfen.
Erschienen in Ossietzky 9/2015 |
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