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Die ehemals fälschlicherweise »europäischer Teil Rußlands« genannte Landmasse gehört nicht dazu. Kein Geringerer als der präsidiale Landvermesser Joachim Gauck hat es festgestellt. Auf der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs auf der polnischen Westerplatte hat er mit Blick auf den Konflikt in der Ostukraine die »Tatsache« beklagt, »daß am Rande von Europa wieder eine kriegerische Auseinandersetzung geführt wird«. Da die Ostukraine bekanntlich nicht im Ural liegt, ist eindeutig und höchstamtlich klargestellt, daß der europäische Kontinent – grob betrachtet – nicht bis zum 60., sondern lediglich bis zum 40. Längengrad Ost reicht, also um rund vier Millionen Quadratkilometer kleiner ist. Das Gaucksche Landvermessungsergebnis ist nicht originell, es wird von maßgeblichen außenpolitischen Führungskräften der Bundesrepublik geteilt. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der weiterhin für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt eintritt, betont, daß er »nicht auf eine dauerhafte Abschottung Europas gegenüber Rußland« setzt. Der Amateur-Außenpolitiker Röttgen, Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Bundestages, meint dagegen, »Europa [muß] seine Politik gegenüber Rußland im Lichte der aktuellen Krise überdenken … Ganz Europa wurde von Rußlands Aggression und Annektierung der Krim überrascht, weil es unsere Vorstellung des Möglichen überstieg.« Radaubruder Werner Schulz, ehemaliges Mitglied des Bundestages sowie des Europäischen Parlaments, betrachtet Rußland ebenfalls nicht als einen Teil Europas und brilliert mit seinen diplomatisch feingeschliffenen Einschätzungen: »Mit Gesprächen allein ist Putin nicht beizukommen … Das ist ein zynischer Verbrecher, der uns alle für dumm verkaufen möchte und uns einen russischen Bären aufbindet … Ich glaube, daß Europa in der Position gegenüber Rußland immer mehr zusammengewachsen ist. Solche Aktionen wie die von Putin helfen uns, zu gemeinsamen und sehr klaren Positionen zu kommen.« Selbstverständlich stehen bundesdeutsche Putin-Durchschauer nicht allein, wenn sie Rußland aus Europa exkludieren, sie haben starke Verbündete an ihrer Seite. So den britischen Premierminister David Cameron, der die Lage in der Ukraine als »zutiefst beunruhigend« sieht, um hinzuzufügen: »Wir müssen wirkliche Entschlossenheit zeigen und Rußland klarmachen, daß, wenn es so weitermacht, die Beziehungen zwischen Europa und Rußland … künftig völlig anders aussehen werden.« Selbst der um Vermittlung bemühte französische Präsident François Hollande sieht die Ukraine als europäisches Grenzland und warnt: »Die Kanzlerin und ich sehen die Gefahr eines Krieges vor den Toren Europas.« Und auch der Oligarch und Präsident der Ukraine Petro Poroschenko schließt Rußland aus Europa aus und erklärt kampf- und kriegsentschlossen, die ukrainischen Truppen seien nicht nur bereit, ihr Land zu verteidigen, sondern auch Europa: »Denn die Frontlinie im Kampf um Europas Freiheit und Demokratie befindet sich in der Ukraine.« Also etwa am 40. Längengrad Ost. Ganz so neu sind solche Töne nicht. Bereits im »Dritten Reich« waren sie zu hören. Als es im Oktober 1933 aus dem Völkerbund austrat, verstärkten sich die Besorgnisse besonders in Polen. Zur Beruhigung ließ Hitler gegenüber Marschall Piłsudski erklären, Polen »sei ein Vorposten gegen Asien«. Mit dieser Begründung regte er einen deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag an, der wenige Monate später auch abgeschlossen wurde. Kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion fand auf Anordnung Hitlers eine streng geheime Besprechung statt, an der unter anderem Feldmarschall Keitel, Reichsmarschall Göring und der Leiter der NSDAP-Kanzlei Bormann teilnahmen. Auf ihr betonte der Führer, man müsse sich darüber klar sein, daß das heutige Europa nur ein geographischer Begriff sei, in Wirklichkeit ginge Asien bis zu unseren bisherigen Grenzen. Öffentlich stellte Hitlerdeutschland lange Zeit die Zugehörigkeit Rußlands zu Europa nicht in Zweifel. Dies änderte sich jedoch mit den Niederlagen der Wehrmacht vor Moskau und in Stalingrad. Ab nun sprach der führende Ideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg, von der »Festung Europa«, die man gegen die »russischen Horden aus Asien« verteidigen müsse. Natürlich sind die faschistischen Haßparolen und die jetzigen antirussischen Töne nicht gleichzusetzen. Aber in einer gewissen Weise atmet hier das Heutige den Geist des Gestrigen. Wenden wir uns also lieber profaneren Fragen zu. Wenn der bisherige europäische Teil Rußlands nicht mehr zu Europa gehört, wie soll er dann genannt werden? »Vorderasien«? Das kommt nicht in Frage, dieser Begriff ist schon besetzt. »Westasien«? Das geht schon eher, aber auch hier könnte es zu Verwechselung kommen. »Asiatisches Vorderrußland« oder »Nordisches Vorderasien«? Die Entscheidung fällt schwer, ich überlasse sie denjenigen, die Rußland aus Europa hinausdefinieren. Außerdem gibt es andere Fragen. Was geschieht mit den weltbekannten bedeutenden russischen Literaten, Künstlern und Wissenschaftlern, darunter, um nur einige zu nennen, Puschkin, Lermontow, Gogol, Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Gorki, Mussorgski, Glinka, Tschaikowski, Prokofjew, Rimski-Korsakow, Schostakowitsch, Strawinsky, Rachmaninow, Lewitan, Schischkin, Repin, Lomonossow, Mendelejew, Pawlow? Werden da aus Europäern prominente Asiaten? War der erste Mensch im Weltraum, Gagarin, ein asiatischer Kosmonaut? Fragen über Fragen! Wer soll sie beantworten? Gauck, Steinmeier, Röttgen und die anderen? Nein lassen wir lieber Besonnenere, Vernünftigere sprechen. Zum Beispiel die mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, die in ihrem bekannten Aufruf eindringlich vor einem Krieg mit Rußland warnten, eine neue Entspannungspolitik für Europa forderten und dabei feststellten: »Wir dürfen Rußland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongreß 1814 gehört Rußland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Rußland zu unterwerfen.« Der warnende Appell richtet sich an die Bundesregierung, den Bundestag und die Medien. Vielleicht sollten die in ihnen Tonangebenden auch einmal ein Buch des großen Europäers, des Russen Lew Nikolajewitsch Tolstoi, in die Hand nehmen und wenigstens dessen Worte lesen: »Jeder trägt seine Bürde, jeder hat seine Fehler; keiner kann ohne Hilfe des anderen bestehen; deshalb müssen wir einander beistehen mit Trost und Rat und gegenseitiger Warnung.«
Erschienen in Ossietzky 8/2015 |
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