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Nur, daß Ruth 1943 sagt, daß sie ihr Kind »Hanna« nennen will. Die Dramaturgin Rebecca Mühlich schreibt im Programmzettel: »Ruth, die im Zweiten Weltkrieg einen Sohn, ihren Mann Max und ihre Sprache verliert.« Klingt vielversprechend, dachte ich – aber warum schweigt die Mutter? Dieser Max war Arzt und arbeitete für die Nazis. Begeistert berichtet er Ruth, seiner Geliebten, 1943 von neuen Medikamenten, an denen er forscht gegen Viren und Bakterien. Menschenversuche? Alles bleibt im Dunklen. Er habe einen Eid geschworen. Ruth »verliert« Max wohl an den Krieg. 1944 eine Szene, gleich am Anfang, da wird ein – imaginäres – Baby weitergereicht, bis es in den Armen von Ruth landet. Sie formt mit ihren Lippen das Wimmern des Babys – ist es Hanna? Dann Fragen von Ruth an den, wohl aus dem Krieg kurz heimgekehrten Max: »Hast Du jemanden umgebracht?« Er: »Einige sind gestorben. Aber die einzigen, die wir sterben sahen, sind unsere Leute gewesen.« Die Sätze habe ich notiert – doch war es Max, der sie sprach? Szenenwechsel ist auch ein Wechsel irgendeines Kleidungsstücks. Alles auf offener Bühne. Eine Wiese, Vogelgezwitscher. Zwei stehen sich gegenüber, weit voneinander entfernt. Bruder und Schwester, Anton und Paula, die Enkel von Ruth. Aggressionen. »Alles hier ist eine Lüge«, sagt er, arbeiten könne er nicht, er halte den Druck nicht mehr aus, alles erreichen zu müssen. Erinnerungen brechen herein – ein Tunnel, »unser Tunnel« heißt es. Der Zuhörer erfährt nichts. Sie: »Nimm mich endlich in den Arm.« Er zieht ihr seine Jacke an. Ein schneller Wechsel der Emotionen. Zärtlichkeitsversuche, dann Selbstbeschimpfungen. Später wird klar, daß ihr Verhältnis inzestuös war und er bei einer Autofahrt mit ihr bewußt gegen eine Wand fuhr. Keine Bremsspuren. Paula muß es schwer getroffen haben. Ein Arzt sprach von kleiner Verletzung in der linken Hirnhälfte – immer noch ein schwarzer Fleck. Dann wieder rätselhafte Sätze: »Sie müssen für die sprechen, die nicht mehr sprechen können.« Wer, die Umgebrachten oder die im Krieg Umgekommenen? Oder denkt er an die schweigende Mutter? Eine Szene, 1963. Ruth sitzt auf einem Stuhl, sagt nichts. Nicht ganz, sie nennt die Uhrzeit oder kommentiert das Tun der Tochter: »Sie raucht.« Hanna spricht zu sich selbst: »Ja, ich putze!«, alles, was sie tut, geschieht mit verbissener Gewaltsamkeit. Ihr Tanzen, um 3 Uhr, um 6.55 Uhr, endet auf dem Boden. Erschöpfung? Sie sei »nutzlos«, bricht es aus ihr heraus. Erinnerungen: »Ein kleiner Körper, ein schneller Herzschlag, die Hände leer in der Luft.« Was imaginiert sie? Sie nestelt ständig an ihrem Rock herum – Zeichen von Hilflosigkeit. Nichts gegen die Schauspieler, sie schaffen es, in dem schwierigen Stück, das Außer-sich-Sein oder das In-sich-Zurückziehen glaubhaft zu machen. Liegt es am Text oder an der Regie? Da knallen Sätze auf den Zuhörer ein wie: »Das ist keine Kriegspropaganda, nein, das ist die Wahrheit.« Worum geht es? Geplänkel, Auseinandersetzungen, Geschrei: »Ja, wir sind ein großartiges Volk!« Jeder gehöre doch irgendwo hin. Und die Frage nach Gott. Sie (wer?) glaubt an Kinder. Die sind unschuldig. Ein Stück voller Rätsel, mit lyrischen Bildern – was hier zur Verwirrung beiträgt. Vögel, die die Flügel abgeschnitten haben. Dann wieder Erlebnisse – von wem? Den Nachgeborenen? Zucker sei geschmolzen. Heißt das, so große Hitze, Feuersturm bei dem Angriff auf Dresden vielleicht? Sicherlich nicht Coventry. Für die Autorin, 1981 geboren, ist der Krieg (die NS-Zeit): »der große historische Unfall«. Die Zerstörung habe sich ins »Nicht-Sichtbare« verlegt, so als hätten wir »den äußeren Krieg gegen den inneren Krieg eingetauscht«. Später ist wieder dieser Tunnel da, ganz real. Hat er, Anton, dort gelebt, im »Schlafsack«? Sie fragt: »Was hast Du gegessen?« Er: »Amseln«. Ein Satz, bezeichnend: »Die Männer in unserer Familie lösen sich gerne in Luft auf.« Die Frauen bleiben zurück, alleinerziehend, stumm oder ausflippend. Oder sich in »Schaumkugeln« einkapselnd, die nicht zu fassen sind wie das ganze Stück. Wie konkret dagegen Walter Benjamins Worte über den »Engel der Geschichte«, die dem Programmzettel beigegeben sind.
Erschienen in Ossietzky 7/2015 |
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