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Andererseits könnte er sich endlich den zahllosen unsäglichen und unberechtigten Anwürfen und auch Beleidigungen entziehen. Die gibt es zuhauf, obwohl er sich mit seiner ganzen Kraft, mit seiner geübten pastoralen Stimme und Güte für das Wohl von Volk und Staat einsetzt. Noch bevor Gauck als Schloßherr ins »Bellevue« einzog, war er selbst seitens DDR-Oppositioneller heftigen Attacken ausgesetzt. Besonders scharf ging mit ihm Peter-Michael Diestel, letzter DDR-Innenminister im Kabinett de Maizière, ins Gericht. Im Freitag warf er ihm auf der Grundlage von MfS-Akten vor, enge Kontakte mit dem DDR-Geheimdienst unterhalten zu haben, kein Opfer, sondern Täter gewesen zu sein, der aus dem Öffentlichen Dienst ent-lassen werden müßte. Auch Kirchenkollegen wie der Theologe und Ex-DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer übten scharfe Kritik: »Er singt ein Loblied auf die Freiheit. Ich vermisse das Loblied auf die Gerechtigkeit, ... denn es gibt zu viele, die sich Freiheit nicht leisten können.« Er meinte, daß sich Gauck »zur Erlöserfigur stilisieren« lasse und fügte hinzu: »Unser Herr Jesus Christus erscheint gegen ihn klein.« Hans-Jochen Tschiche, einst Pfarrer und namhaftes Mitglied des Neuen Forums, sprach dem ehemaligen Chef der MfS-Unterlagenbehörde das Recht ab, sich mit dem Attribut »Bürgerrechtler« zu schmücken. Er habe niemals zur DDR-Opposition gehört und reise jetzt »ohne Skrupel« auf dem Ticket Bürgerrechtler durch die politische Landschaft. Wer seinerzeit annahm, daß der so arg und natürlich ungerecht Beschimpfte nicht auf den Präsidentensessel gelangen könnte, sah sich bekanntlich getäuscht. Am 18. März 2012 wurde er von der Bundesversammlung mit großer Mehrheit gewählt. Ungeachtet dessen und ohne Respekt vor dem Amt setzten seine Widersacher ihre Angriffe auf den 11. Präsidenten der Bundesrepublik fort. Sie verstärkten sich, als dieser sich als Verfechter der Freiheit entschieden, wie es nun einmal seine Art ist, auf die Seite der Kämpfer und Sieger des Kiewer Maidan stellte und ohne Zögern Position gegen das aggressive Vorgehen Rußlands und seines Amtskollegen Putin bezog. Konsequent schlug er dessen Einladung zur Olympiade in Sotschi aus, wie er überhaupt darauf verzichtete, wie die meisten seiner Vorgänger Rußland einen Besuch abzustatten. Er zog es vor, nach Kiew zur Amtseinführung Poroschenkos zu reisen, um diesen brüderlich zu umarmen. In seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges auf der Westerplatte brachte er äußerst geschickt, eben staatsmännisch, das Kunststück fertig, die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung Europas von der Hitlerbarbarei und die 27 Millionen sowjetischer Kriegsopfer nicht zu erwähnen. Statt dessen unterzog er die Politik Rußlands scharfer Kritik, beschuldigte den Kreml, die Partnerschaft mit dem Westen de facto aufgekündigt zu haben, und forderte, sich dem russischen »Machtstreben« mit »Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft« entschlossen entgegenzustellen. Diese und andere freimütige und von christlicher Nächstenliebe getragene Äußerungen brachten dem Bundespräsidenten fälschlicherweise den Verdacht ein, »familienbedingt« an Russophobie zu leiden. Die Publizistin Evelyn Hecht-Galinski stellte sich der Thematik und meinte, daß die Fakten dafür sprechen würden. Ihre Einschätzung ist alles andere als schmeichelhaft: »Was ist von diesem Mann zu halten, der heute von vielen als großer und aufrechter Dissident gesehen wird? Gar nichts! Gauck ist ein Mann mit vielen Facetten, aber so geprägt durch Elternhaus und Vergangenheit, ist er mit seinem unbändigen Russenhaß ein Unglück für uns alle! … Dieser Bundespräsident hat mit jeder anständigen Außenpolitik gebrochen und Rußland von Anfang an mißachtet.« Auch Antje Vollmer, Mitglied der Grünen und ehemalige Vizepräsidentin des Bundestages, sieht, um nur noch ein Beispiel zu nennen, »familienbedingte« Ursachen für die nicht gerade rußlandfreundliche Haltung des Staatsoberhauptes: »Unser Bundespräsident hat aus biographischen Gründen, wegen der vierjährigen Haftzeit seines Vaters in Sibirien, große Probleme im Umgang mit dem Land, in dem er immer noch die alte Sowjetunion am Werk sieht. Aber darf ein Präsident das Verhältnis zwischen zwei europäischen Staaten und die gesamte Diplomatie dieser Länder zur Geisel nehmen, um seine Familiengeschichte zu bewältigen? Hat er nicht, ohne Ansehen der Person, vor allem dem Frieden, dem Ausgleich, dem Abbau von Feindbildern und alten Ressentiments zwischen den Völkern zu dienen? Statt dessen füttert und jagt er die Schatten alter Gespenster.« Alles was Recht ist, das geht zu weit und ist eine üble Unterstellung. Der Bundespräsident hat selbst betont, daß seine Eltern »politisch ein Manko gehabt [haben], weil sie in der Nazizeit Mitläufer waren«. Mehr noch: In einer Diskussion mit Schülern am Holocaust-Mahnmal hat er dieses »Manko« präzisiert: »Meine Eltern waren harmlose Mitläufer. Man konnte ihnen nichts vorwerfen.« Ja, sie sind nur mitgelaufen, als Mitglieder der NSDAP – die Mutter ab 1932 und der Vater, der nach dem Krieg vier Jahre in einem sowjetischen Straflager verbringen mußte, erst ab 1934. Wer will es dem Sohn solcher mitlaufenden Eltern, der lange Zeit zudem unter dem prägenden Einfluß eines Onkels – Gruppenführer der SA und späterer Wehrmachtsoberpfarrer – stand, verübeln, daß er kein Freund der Russen wurde? Auch Bundespräsidenten sind nur Menschen mit Stärken und Schwächen. Beim jetzt amtierenden überwiegen zweifellos erstere. Das weiß auch Deutschlands bestinformiertes Nachrichtenmagazin, in dem zweieinhalb Jahre nach Gaucks Einzug in das Schloß »Bellevue« folgende wunderschöne treffende Sätze zu lesen waren: »Der 74jährige ist so neugierig wie ein Kind und mindestens so begeisterungsfähig – gleichzeitig bringt dieser Bundespräsident aus einem Leben in zwei Systemen eine Menge mit. Das macht aus Gauck eine Art lernende Autorität. Und so kann man zur Halbzeit sagen: Der elfte Bundespräsident hat dem Amt zurückgegeben, was in den Jahren zuvor verlorengegangen war. Stolz und Würde. Nach außen repräsentiert Gauck sein Land souverän, nach innen integriert er und gibt wichtige Denkanstöße.« In der Tat, Spiegel-Leser wissen mehr, Spiegel-Schreiber wissen es am besten.
Erschienen in Ossietzky 7/2015 |
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