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Er hat vier Herausgeber und elf weitere Autoren. Ihnen allen und obendrein den fünf weiteren Herausgebern der Buchreihe, in dem der Band als Nr. 9 erschien, sowie dem Lektorat und wahrscheinlich der Verlagsleitung ist merkwürdigerweise gar nicht aufgefallen, daß zum deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren nicht nur die BRD, Österreich, die Schweiz – und scheinbar sogar Frankreich und die USA –, sondern doch wohl nicht völlig zu leugnender Weise auch die DDR gehörte, die merkwürdigerweise bis auf eine Erwähnung in Fußnote 2 auf der Seite 223 (von großformatigen 373!) nicht weiter vorkommt – in dieser Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren. Das ist merkwürdig, oder nicht? Damit haben sich Buch, Texte, der hohe Anspruch des Titels, der Verlag und all die Beteiligten einigermaßen ad absurdum geführt. Muß ich erwähnen, welchen Sozialisationen die verantwortlichen Autorinnen und Autoren entstammen? – »Die DDR hat es nie gegeben« war von einem pfiffigen Grafittokünstler mit großen weißen Lettern auf Restfundamente des abgerissenen Palastes der Republik im Herzen Berlins gemalt worden – Postkarten künden davon. Man stelle sich vor, es ginge um ein Astronomiebuch zum Magnetismus unseres Sonnensystems, und der Mond würde nur in einer Fußnote zwischen Venus und Mars erwähnt! Oder Religionskritiker schrieben ein Buch über die Geschichte der Religionen im europäischen Raum seit den 1960er Jahren, und darin würde der Islam nicht vorkommen. Lohnt es sich da, solch ein Buch überhaupt näher zu beachten? Nein, selbstverständlich lohnt sich das nicht. Man möchte so ein Buch nur verdutzt lächelnd weglegen, denn was können die darin enthaltenen Erkenntnisse schon bedeuten, außer einem Tiefpunkt kulturgeschichtlichen Denkens? Dennoch, ich habe das Buch angesehen. Lustig, wie der Autor des Homosexualitäts-Artikels seine Ausführungen mit einem gründlich mißverstandenen Loriot-Witz eröffnet: Dessen berühmtes »Früher war mehr Lametta«, womit der Großvater den Weihnachtsbaum von Familie Blümel kritisiert, zielt satirisch auf die Orden (das »Lametta« auf den Uniformen!) des preußischen und faschistischen Militärs, dessen Musik Opa partout statt Weihnachtsliedern zu hören beharrt und verweist mithin auf die unaufgearbeiteten Kontinuitäten der »Wirtschaftswunder«-Gesellschaft; es verweist keineswegs auf »mehr Glanz« (der Sexualität). Dem nachzutrauern unterstellen die Herausgeber schon auf der ersten Seite dem bedeutenden linken Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch. Auch sonst werden Diskurse mit den Gegenständen ihrer Untersuchungen verwechselt sowie zeitgeschichtliche Bedingtheiten und politische Zusammenhänge außer acht gelassen. Wie soll die Welt der Wissenschaft auch anders als niedergehen, wenn ihr das dialektische Instrument des Historischen Materialismus entrissen wurde? Entsprechend pittoresk verschwommen die Teilüberschriften, zum Beispiel »Informieren. Visualisieren. Affizieren« oder »Diskutieren. Politisieren. Identifizieren«. Hat was von Waldorf, nicht? Sind das Kategorien, um Geschichte zu beschreiben? So lesen sich die Referate zu ausgewählten theoretischen Themen, deren jeweilige Bibliographie mehr oder meist minder realitätsbezogen diskutiert wird, eher als Hochschulbeiträge. Womöglich, um die errungenen Standards westlicher Marxisten zu fraglichen Problemen abzulegen (in der Tat wird sogar Reimut Reiche mit »Sexualität und Klassenkampf« von 1968 genannt, in einer Fußnote versteht sich): »Der ausdiskutierte Orgasmus« oder »Sexualaufklärungsbücher und ihre Fotografien um 1968«. ( »Mann und Frau intim« fehlt selbstredend.) »Zum Verhältnis von sexueller Revolution und (sic!) Frauenfrage« werden zwar angloamerikanische Texte berücksichtigt, Erfahrungen der Emanzipation von Frauen in der DDR bleiben aber außen vor, zur Frage der Antibabypille werden zwar Italien und Frankreich zum Vergleich bemüht, nicht aber die deutschsprachige DDR (S. 351f.). Die Entfremdung der Sexualität, ihre Zwänge durch den Konsumismus der kapitalistischen Gesellschaft können auf diesem Weg selbstredend nicht tiefer problematisiert werden. Die Hoffnung, die ein Artikel mit der Verheißung: »Von Kußmaschinen und Teledildonics« weckt, löscht der Untertitel sofort mit der oberflächlichen Pseudofrage: »Verändern technische Sexual-Objekte das Sexuelle?« – keine Überraschung, wenn nicht einmal die technischen Sexual-Objekte in den Jahrhunderten vor 1791 erinnert werden. So gewinnt eine übergreifend interdisziplinäre Darstellungsweise, gar Dialektik, kaum Gestalt – und signifikante kulturgeschichtliche Vorgänge, wie der Einbruch von AIDS und Drogen seit einem Vierteljahrhundert in den immerhin deutschsprachigen Raum der »neuen Bundesländer« mitsamt Boulevardpresse, Pornographie, Mobbing, Prostitution, Menschenhandel, Arbeitslosigkeit, Verarmung, Ehegattensplitting, gleichlaufend zum Abbau von Frauenrechten (und FKK – Entsexualisierung des Alltags), Vorgänge, die die Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum namens DDR soziologisch, ökonomisch, kulturell et cetera sogar ganz gravierend bestimmen, spielen in dem Buch keine Rolle. Gerade Stichworte wie Arbeitsrecht, Familiengesetzgebung, Schwangerschaftsabbruch und Formen freier Sexualität im realexistierenden Sozialismus wären explizit geeignet, diese signifikanten und erhellenden Veränderungen hinsichtlich Sexualität plastisch zu modellieren. Die Entwicklungserzählung (von der sich die Herausgeber auf Seite 8 zwar vergeblich zu distanzieren versuchen) würde daran allerdings zerschellen und bei den schier unüberwindlich bürgerlichen Betrachtungsweisen unbeantwortbare Fragen aufwerfen: Da HERRscht nur der platteste Positivismus (made in USA). Nein, wo Schwangerschaftsabbruch behandelt wird, spricht frau trotz aller feministischen »political correctness« un-»gegendert« von »Abtreibung« (2014 erschien in demselben merkwürdigen Verlag ein ganzer Band mit diesem Titel)! Das unsichtbar-sichtbare Tabu, den Kernimpuls von »1968«, den studentischen, also kleinbürgerlichen, Versuch, Marx in den gesellschaftlichen Raum einzubringen, nicht zu berühren (geschweige die realsozialistischen Kämpfe und Leistungen der Kommunisten!), beschränkt die hier vorgelegten Erörterungen mit geradezu magischer Denkhemmung. So liegen viele Felder des ambitionierten Themas unbestellt. Nur äußerst schwer doch ließe sich eine Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren denken, in der die zentrale Funktion und Rolle der Medien für die Bilder von Sexualität und Körper, von Geschlechterrollen und ihrer Sprache, gänzlich ausfallen. Denn dieses unser Zeitalter ist just das der Medien, in denen besonders die »sexuelle Revolution« kommuniziert wird, in Kino, Fernsehen, Presse, Video, Fotografie, Werbung und Popmusik. Das Vorwort erwähnt zwar ausdrücklich diese Thematik, umso verblüffender läßt das Versäumnis, sie folglich darzustellen und kulturgeschichtlich zu analysieren, nur eine entsprechend weit klaffende Leerstelle. Erst im letzten Text »Die ›Sexuelle Revolution‹ im westeuropäischen Raum (sic!) und ihre Ambivalenzen« scheint die relevante Problematik am irgendwie rötlichen Horizont auf: Doch die »marxistische« Demarkationslinie Theodor W. Adorno wird nicht überschritten, im Gegenteil, die Kritik der Gesellschaft, die Sexualität formt und bestimmt, fällt weit hinter Adorno zurück, wo nicht aus. Intellektuellentalk beim Abendessen. So bleiben die gleichtönend dahinfließenden Texte merkwürdig sexualitätsfern in einem System inzestuös-kleinbürgerlicher Diskurse befangen – zwischen Studententräumen und Karriereleitern, brav im Radius akademischer Hermetik. Weder Beunruhigungen, Irritationen, noch Visionen sind gefragt, um in diesen Institutionen an Reputation zu gewinnen. Das erfüllt der vorliegende Band gewiß und kann mit einer Menge sinnloser Informationen junge Studentengehirne und ihre wilden Phantasien ruhigstellen. Heißt: Mehr als ein bißchen reaktionäre Foucault-Skeptizismus im deutschsprachigen Raum westlicher Staaten wird als Ideologie einer neoliberal zu konditionierenden Konkurrenzgesellschaft, in der Sexualität als Accessoire individualistischer Konsumgeschmäcklichkeit reklamiert ist, nicht geboten. Aber zu den dortigen Auseinandersetzungen im Konflikt mit kirchlichen Geboten, mit denen wir es ja nun wieder zu tun haben, gibt es des merkwürdigen Stoffs genug. Unsereins kommt es vor wie der Blick zurück auf den Muff der Vergangenheit, doch mit dem sind wir ja in der merkwürdigen Gegenwart als einer wiedergängerischen Vergangenheit konfrontiert. Das ist, neben der Ignoranz, das Beklemmende. Peter-Paul Bänziger, Magdalena Beljan, Franz X. Eder, Pascal Eitler (Hg.): »Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren, transcript Verlag, 373 Seiten, 29,99 €
Erschienen in Ossietzky 6/2015 |
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