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Die Zweite Sozialistische Internationale plante einen Generalstreik, europaweit, um den drohenden Krieg noch zu verhindern. Alles war vorbereitet, die Reden geschrieben – aber der Krieg war schneller, zerstörte jede Friedensvision. Die Zuschauer werden auf die Bühne gebeten, hören im Ohr Worte von Jean Jaurès (der gleich darauf ermordet wurde), von Rosa Luxemburg (später umgebracht) – aber auch von deutschen Sozialdemokraten, die im Parlament alles vergessen hatten und für Kriegskredite stimmten. Wir werden auf der Bühne hin- und hergescheucht, sollen uns auch mal auf den Boden legen – um den Schlaf als Form der Verweigerung zu proben. Im Ohr: »Nieder mit dem Krieg« und dann demagogisch: »Wer mögen die Spitzel sein – sehen Sie sich um.« Mit einem Gegenüber ganz nah Auge in Auge stehen. Nach dem Reenactment, dem Nachspielen der Geschichte (die so nicht stattgefunden hatte), kam der zweite Teil, gedacht als »Pädagogium« (Lehranstalt). Was sich da ins Ohr schlich: Texte, Lesefrüchte der Gruppe »Ligna« (Ole Frahm, Michael Hüners und Thorsten Michaelsen). Im Programmzettel als Quellen angegeben, eine Dreiviertelseite. Überfrachtet. Bleibt vor allem: »Bartleby, der Schreiber« von Herman Melville, ein großer Verweigerer wie Kafkas »Hungerkünstler«. Nicht alle haben denselben Text im Ohr, jedenfalls benehmen sie sich so. Plötzlich brüllt einer los, als sei er verrückt geworden. Andere gehen zu zweit, Arm in Arm. Ein leeres Blatt wird präsentiert als »Diskussionsgrundlage«. Alle agieren eher gegeneinander. Das soll wohl so sein, um die Realität abzubilden. Wir haben uns wieder als Publikum auf die Stühle gesetzt, sind Zuschauer geworden. Hinter einem dünnen Vorhang schimmert der Satz: »Nichts Tun ist besser als Fühlen« – soll verwirren. Was ist aus der Idee der Verweigerung geworden? Sie ist verwässert, zerfließt in alle Richtungen, jeder versteht sie anders oder gar nicht. Der Effekt der Irritation, den die Gruppe »Ligna« in der Regel hervorruft, er tritt hier nicht ein, denn: Diese Verweigerung findet nicht im öffentlichen Raum statt (wie auf einem Bahnhof) – hier wissen alle Bescheid und agieren auf einer Bühne. Der Krieg, den es zu verweigern galt und gilt, ist vergessen. Noch einmal Kampnagel. Ein Abend unter dem Titel: »Spirit«, aus zwei Teilen bestehend: »Noetic«, Tanztheater von Sidi Larbi Cherkaoui, und »Metamorphosis«, das Saburo Teshigawara choreographierte. Die Künstler gehören alle zur Göteborgsoperans Danskompani. »Noetic« wird begleitet von traditioneller Live-Musik (Trommeln, Flöte, kleiner Zither) der Japanerin Tsubasa Hori. Und von der Sängerin Miriam Andersén. Die Tänzerinnen in schwarzen Seidenkleidchen, die Herren in schwarzen Anzügen, manchmal auch mit High Heels. Der belgische Choreograph denkt sich immer neue Gegenstände aus, die in den Tanz integriert werden. Hier sind es biegsame Stangen – vielfältig veränderbar, aber auch Geräte für Gymnastikübungen? Dazu der Gesang der sehr blonden Künstlerin, die, etwas abseits stehend, ihre Hände wie ein Verkündigungsengel bewegt. Soll sie dem Tanz, der anfangs an Eislaufkunst erinnert, eine spirituelle Note geben? Am Schluß bilden alle mit ihren Stangen eine Weltkugel oder das, was die Welt zusammenhält – ein Atommodell. Auch im zweiten Stück »Metamorphosis« spielen Objekte eine Rolle: riesige Metallspiralen, die sich von selbst bewegen, ein Eigenleben führen. Von den Tänzern als Folterinstrumente empfunden, vor denen sie auf dem Boden kriechen, sich winden, fast nackte Kreaturen in hautfarbenem Stoff. Das Licht zaubert. Die Musik (nicht live) besänftigt und regt auf bis zum Höllenspektakel, als wollten die Spiralen zerstören – oder wie ein Zug, der überfährt. Phasen der Stille wechseln sich ab mit schrillen Tönen. Metallstangen fallen krachend auf den Boden. Die Tänzer und Tänzerinnen liegen da wie Tote, die Glieder verrenkt. Dann Auferstehung? Ich notiere: »Nein, noch nicht der Jüngste Tag.« Immer wieder neue Versuche, neuer Beginn. Zwei Tänzer bewegen sich so zaghaft, als trauten sie dem Boden nicht. Ist er aus Glas? Die Musik suggeriert es. Die Spirale rückt nach vorn, treibt die Tänzer wie in Panik über die Bühne. Es ist die Musik, die zermalmt und Schläge austeilt. Inspiriert von Kafkas Novellen sei das Stück, so ein Info-Blatt. Die »Strafkolonie«? Das Einritzen der Schrift findet im Kopf statt. Soweit die Kunst. Nun zur Realität. Gegen die Intendantin von Kampnagel, Amelie Deufflhard, ist Strafanzeige erstattet worden, illegal Flüchtlinge unterzubringen. Die Anzeige kam von der AfD, von Dirk Nockemann. Unter dem Deckmantel der Kunst würde das Gesetz gebrochen. »Gesetzesbrüche müssen geahndet werden«, so das Mitglied der ehemaligen Schill-Partei, dem einst so begehrten Koalitionspartner der Hanseatischen CDU. Worum geht es? Auf dem Kampnagel-Gelände steht noch vom letzten Sommertheater-Festival ein kleiner Nachbau der »Roten Flora« aus Holz, gedacht als Begegnungsstätte für Flüchtlinge. Ein Kunstprojekt der Gruppe »Baltic Raw«. Sieben Frauen und Männer der Lampedusa-Flüchtlinge leben dort. Vorerst bis Mai 2015. Das Haus wurde winterfest gemacht, mit Teeküche und Sanitäranlagen versehen. Nockemann: Die Intendantin leiste »Beihilfe zu einer Straftat« durch die Unterbringung und mache sich der »Untreue« schuldig, weil Kampnagel Steuergelder erhalte, so der Vorwurf. Doch die Kosten werden aus Crowdfunding und Spenden beglichen. Jetzt darf die Theaterintendantin und Mutter von vier Kindern um ihr Leben fürchten. »In einer anderen gesellschaftlichen Form«, drohte der ehemalige Innensenator Nockemann, »würde Ihnen etwas ganz anderes blühen als diese Anzeige«, wie die Welt berichtete.
Erschienen in Ossietzky 2/2015 |
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