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Der niederländische Regisseur Johan Simons läßt die Schauspieler ihre Rolle distanziert, wie neben sich stehend, spielen, das Ich wandert in die dritte Person. Selbst Siggi, der jüngste Sohn (Jörg Pohl) der Familie Jepsen, reagiert schon wie alle hier, anscheinend emotionslos. Wie in einer Choreographie werden die Bewegungen, das Handeln oder Nichthandeln-Können oder Nicht-Wollen wichtig. Die Körper führen ein Eigenleben, das den Worten entgegensteht. Die Strafarbeit, die Siggi aufgegeben wurde: »Die Freuden der Pflicht« bewirkt, sein Leben, das von diesem Satz geprägt wurde, zu rekonstruieren. Die Abgabe eines leeren Heftes hat alles ausgelöst. Sein Vater, Jens Ole Jepsen (Jens Harzer), der nördlichste Polizeiposten Deutschlands, im Dorf Rugbüll, vertritt diese Freuden unerbittlich. Er bekam 1943 den Auftrag, seinen Jugendfreund, den Maler Max Ludwig Nansen (Sebastian Rudolph) zu überwachen – vorher hatte er ihm das Malverbot überbracht. Denn die Bilder waren unbequem. Jens Ole, im Roman mit dem Fahrrad unterwegs, hier steigt er den gefährlichen Weg die Buchseiten entlang und landet wie der Rest der Familie immer wieder am Boden. Seine Frau Gudrun (Gabriela Maria Schmeide) tut alles, um Störendes von ihren Lieben fernzuhalten: ein Epileptiker, Musiker, mit einem fremden Namen paßt nicht dazu. Sie nennt ihn »Zigeuner« und sorgt dafür, daß er verschwindet: Addi (Ferdinand Reinsch) ist der Verlobte der Tochter Hilke (Franziska Hartmann). Sie schafft es nicht, sich der Mutter entgegenzustellen, rutscht ab. Ein Bruder, der ältere, Klaas (Sebastian Zimmler), auch er ein Außenseiter. Um nicht im Krieg töten zu müssen, verletzt er sich eine Hand. Nach seiner Flucht aus einem Lazarett, kommt er ins Dorf zurück. Die Familie verdammt ihn. Das Gerücht, er sei zurückgekehrt, löst erregte Diskussionen aus. Die Mutter: »Willst du ihn etwa verstecken? Verstümmelt hat er sich.« Dabei steht sie starr, nur ihre linke Hand, verkrampft, geht auf und zu. Will sie oder muß sie so sein, wie sie ist? Später, vielleicht Anfang 1945, als Klaas mit einem Bauchschuß im Dorf zusammenbricht, wie tot in der Schubkarre liegt, gelingt ihr »kein Schrei«. Und sie wehrt ab: »Ich küsse ihn nicht, ich untersuch nicht die Wunde.« Der Maler Nansen, ausgegrenzt wie Klaas, spricht von »Irrsinn«, weiß, daß sie ihn holen, ihn gesund machen werden, auf daß er doch noch in den Krieg ziehen muß. Der Vater schiebt es von sich, seine Kollegen in Husum werden »den Klaas erledigen«. Der Maler Max Ludwig Nansen, Objekt der Bespitzelung – er ist edel und hält sich nicht an Normen. Einst rettete er seinem Schulfreund Jens Ole das Leben. Diese Zeit ist nun vorbei. Jetzt gilt, sich der herrschenden Macht unterzuordnen. Nicht so der Maler. Er malt heimlich trotz des Verbots: unsichtbare Bilder. Der Polizist durchsucht und verbrennt Skizzenbücher, erfüllt seine Pflicht auch noch, als alles vorbei ist, der Krieg und das NS-Regime. Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Und Siggi »rettet« Bilder von Nansen, kann nicht aufhören. Schuld? Mitten im Stück, ein Einschnitt, den die Musik vorgibt, eine Bach-Kantate: »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht«. Bachs Musik bildet den Seelenzustand – nicht nur – dieser Familie ab, trifft sie so wie auch der Text. Vor allem die Mutter. Sie wollte doch nur die Gruppe schützen, nun steht sie an der Wand, die Hände erhoben. Nur der Vater, Jens Ole, hält sich gerade, aufrecht, so will er erscheinen. Auch als sich die Seiten des Buches bewegen, nach oben klappen. Nein, noch schließt es sich nicht. Ole überkommt eine Vision von fallenden Bomben, die im Meer verschwinden, das alle Spuren tilgt. Anzeigen, Beschuldigungen, das Zerstören von Bildern. Bilder, die der Mutter immer noch fremd erscheinen. »Diese mongolischen Augen, diese Münder der Leute.« Das habe Nansen so dargestellt, um dem Ausland zu gefallen. Er sollte froh sein über das Malverbot, weil »es ihn zu unserer Art zurückbringt«. Der Maler, faßt die anderen, die Dorfgemeinschaft zusammen als »ihr«, das hebt ihn ab. Er gewährt Klaas, dem Selbstverstümmler, ausgegrenzt wie er, zeitweise Unterschlupf. Er stellt sich vor ihn, schützt ihn durch seinen Körper. Alles so wie im Roman. »Siegfried Lenz hätte seine Freude daran gehabt« schreibt Ulrich Greiner in der Zeit. Woran? An dieser Inszenierung, die sich eng an das Buch hält. Doch, wer ist der Maler, das Vorbild? Er hieß Hansen, nannte sich Nolde. Und – obwohl seine Bilder als »entartet« verfemt wurden, er ein Ausstellungs- und Verkaufsverbot hatte – blieb er im Land und wurde Mitglied der Partei, war ein Antisemit. Alles das verschwand im Meer wie die Bomben. Der Maler und der Mensch Nolde – das waren zwei Personen. Die leeren Buchseiten auf der Bühne – am Schluß sind sie beschrieben. * Von der norddeutschen Dorfgemeinschaft zur brasilianischen Müllkippe. In Hamburg, auf Kampnagel, hat sie der belgische Choreograph Alain Platel nachgebaut. Er zeigt sein Stück: »Tauberbach«, ein Gastspiel der Münchner Kammerspiele – vielfach ausgezeichnet. Fünf Tänzer und Tänzerinnen seiner Gruppe »Les Ballets C de la B« und die Schauspielerin Elsie de Brauw versuchen ein ungewöhnliches Experiment. Sie stellt eine ältere schizophrene Frau dar, die auf einer Müllhalde lebt – schon zwanzig Jahre. Der Müll – hier alte Kleider – liegt in der Nähe von Rio de Janeiro, es könnte überall sein. Die Frau, Estamira, kam in psychiatrische Kliniken und brach die Behandlung immer wieder ab, um zu dem Ort zurückzukehren, wo sie sich nicht gefangen und fremdbestimmt fühlte. Der Titel bezieht sich auf ein Projekt, in der Thomaskirche Leipzig aufgeführt (s. Ossietzky 13/2014). Dort interpretierten Gehörlose, »Taube«, Musik von Bach – hier ins Stück integriert: die Ausgegrenzten, der Menschen-Müll. Auf der Bühne verstreut, alte Kleider. Eine Frau schreit. Das Schreien kommt von überall her, wie gespiegelt. Dann Gesang, merkwürdig. Unsichtbar werden durch das Sicheinwühlen in fremde Kleider. Die Frau phantasiert vom Essen, zählt auf. Eine Stimme, beherrschend, ein Echo. Es entstehen Bilder wie vom Jüngsten Gericht: Körperteile erscheinen, strecken sich dem Himmel entgegen, nicht aus der Erde: aus dem Müll. Ein Auferstehen der Leiber. Die Menschen, ein Teil der Lumpen, die der Schlafplatz sind. Estamira heult oder hustet oder protestiert, sagt: »It is toxic.« Dann: »I like it here.« Sie träumt von Spaghetti. »Go to heaven«, sagt die Stimme – sie fühlt sich in der Hölle. Immer wieder zerreißt sie Stoff in Fetzen, immer kleiner, ununterbrochen, manisch – verzweifelt. Gesang der Müllbewohner – nur gelallt. Ein Kopf, mit Lumpen bedeckt, erstickt? »Unter jedem Grabstein liegt ein Stück Weltgeschichte« sagt Estamira in Deutsch. Steine gibt es hier nicht. Das Tatwerkzeug: Stoff, zusammengerollt zum Messer geworden, angelegt an den Hals. Sie spricht vom Ermorden. Ertrinken? Ein Paddeln im Kleidermeer. Immer wieder Versuche zu singen, hilflose Töne ins Mikro gehaucht. Estamira will nicht tauschen. Ist das Leben hier Freiheit? Im Müll, ein Baby – eine Puppe nur. Einer tanzt artifiziell: ein Faun im Stoffgarten. Ich denke an den großen Nijinsky, an sein Ende – er verdämmerte sein Leben in Heilanstalten, als schizophren abgetan. Am Mikro, eine Mücke. Ein Tänzer. Er ist die Mücke, die Angst hat, immer lauter, zum Mensch wird, der schreit, immer schneller. Wie ein Versteigerer. Oder Börsenmakler? Das Echo von hinten – dazu Bach. Der Tänzer fängt die Mücke, die er selbst ist. Estamira will nur Frieden, sagt sie. Alle liegen zitternd auf dem Kleiderberg. Der Faun hat das Rad der Schubkarre entdeckt, um sich daran zu erregen. Ein Funke springt über. Die ungewöhnlichsten Verbindungen zwischen Menschen. Wie Tierchen, die sich liebevoll in Zungentänzen verlieren. Sie fragt: »Hörst du den Sturm? Er ist in mir.« Das Mikro, ein Mitspieler. Wasser? Nur die Tropfen umarmen sie, wir können es hören. Der Faun kommt zu ihr, umtanzt sie, ohne zu berühren. Sie steht starr: Er drückt das aus, was sie fühlt. Der Höhepunkt des Abends, ein Wunder, dieser Tanz. Dann überkommt es ihn, er reißt ihr das Kleid vom Leib, drückt es wie einen Fetisch an sich. Rufe: »Feuer, Feuer!« Das ist, glaubt Estamira, die Lösung: »Burn it all.« Und zur großen Stimme gewandt: »Thank you.« Aber nichts verbrennt. Orgeltöne erfüllen den Raum und die Tänzer – ohne Berührung, ohne zu hören – bewegen die Arme in der Luft, rhythmisch. Fließen mit Bach in einen Massenorgasmus. Die Lippen bewegen sich. Es ist wie ein Erwachen, die Welt ganz neu erfahren. Als sei es das erste Mal. Vogelgezwitscher, Schreie. Ein langsames Sich-umeinander-Bewegen. Eine Stimme spricht vom Hören. Der Faun bedeckt seine Blöße – wie einst Adam. Eine Stimmgabel wird angeschlagen, liegt dann am Boden. Leiser Gesang von allen. Es klingt nicht wie von Tauben.
Erschienen in Ossietzky 25/2014 |
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