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Die Stadt liegt vor dem Kaiberpaß, der damals das »Tor Indiens« genannt wurde. Eine Randbemerkung Wilhelms II. auf einem Telegramm des deutschen Botschafters in Petersburg vom 30. Juli 1914 macht diese Interessen deutlich: »Jetzt muß dieses ganze Getriebe (der englischen Politik) schonungslos aufgedeckt und ihm öffentlich die Maske christlicher Friedfertigkeit schroff abgerissen werden und pharisäische Friedensheuchelei an den Pranger gestellt werden!! Und unsere Consuln in Türkei und Indien, Agenten etc. müssen die ganze mohammed. Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstande entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.« Der deutsche Generalstabschef, Generaloberst von Moltke, forderte am 2. August 1914, dem Tag des Abschlusses des deutsch-türkischen Waffenbündnisses, gegenüber dem Auswärtigen Amt: »Es müssen Versuche gemacht werden, einen Aufstand in Indien zu entfalten, wenn England als unser Gegner auftritt.« Um diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen, wurde in einer geheimen Sitzung im Auswärtigen Amt am 12. August 1914 beschlossen, eine Militärexpedition nach Afghanistan zu entsenden, um dort im Sinne Deutschlands das Volk gegen England zu mobilisieren. Anfang September 1914 reiste eine erste Gruppe aus Berlin ab. Sie bestand aus 23 Personen, erfahren durch ihren Militärdienst in deutschen Kolonien in Afrika und durch Handel im Orient. Sie führte einen von Wilhelm II. handgeschriebenen Brief mit sich, der das Ziel verfolgte, Afghanistan auf Seiten Deutschlands in den Ersten Weltkrieg einzubeziehen. Der Brief endete mit den Worten: »Es war von jeher […] mein Wunsch, die muhammedanischen Nationen unabhängig zu wissen und ihren Staaten möglichst freie Kraftentfaltung zu gewähren. So liegt es Mir nicht nur für den Augenblick am Herzen, den muhammedanischen Völkern in ihrem Kampf um die Selbständigkeit zu helfen, sondern Ich werde sie mit Meiner Kaiserlichen Regierung auch in Zukunft stützen [….] Die heute schon bestehende Interessengemeinschaft zwischen dem deutschen Volke und den Muhammedanern wird auch nach Beendigung des Krieges weiterbestehen bleiben.« Kurz nach Abreise der Expedition wurde deutlich, daß nicht alle Mitglieder der gestellten Aufgabe gewachsen waren, ihre Kenntnisse des Landes reichten nicht aus. Ende September 1914 wurden neue Mitglieder verpflichtet, unter ihnen Oberstleutnant Oskar von Niedermayer, der die Grenzgebiete Afghanistan-Indien und Afghanistan-Iran aus der Zeit vor dem Krieg gut kannte. Ihm wurde die Leitung der Expedition übertragen. In dieser Zeit hielten sich der indische Revolutionär Maulawi Barakatullah in Berlin und der indische Nationalist Mahendra Pratap in der Schweiz auf. Das Auswärtige Amt und das Kaiserliche Hauptquartier hatten mit beiden Verbindung aufgenommen und erreichten, daß eine zweite Expedition unter Leitung des Diplomaten Werner Otto von Hentig nach Afghanistan geschickt wurde. Als sich beide Expeditionsleiter am 16. Juni 1915 zum ersten Mal in Teheran trafen, kam es zwischen ihnen wegen des Führungsanspruches zu Meinungsverschiedenheiten. Daraufhin wurde beschlossen, die Expedition politisch unter Hentigs und militärisch unter Niedermayers Leitung zu stellen. Die Expedition erreichte Kabul zu Fuß, per Esel und Kamel auf vielen Umwegen am 30. September 1915, unter großen Verlusten an Menschen und Material. Beim Emir Habibullah stieß sie zunächst auf Ablehnung. Erst mit einem Hungerstreik setzte sie durch, daß er sie in einer Privataudienz empfing. Sie übermittelte das Handschreiben des deutschen Kaisers und ein Grußschreiben der deutschen Regierung an den afghanischen Emir mit der Aufforderung, auf Seiten Deutschlands gegen Britisch-Indien in den Krieg einzutreten. Doch die Audienz brachte nicht das erwartete Ergebnis, trotz großzügiger Geschenke, mit denen die Deutschen den Emir und andere einflußreiche Personen am Hofe bedacht hatten. Habibullah charakterisierte die Teilnehmer der Expedition als Kaufleute, die ihre Waren vor ihm auszubreiten hätten, damit er sich auswählen könne, was ihm gefiele. Er gab damit zu erkennen, daß mit ihm nicht alles zu machen sei. Wie Niedermayer später berichtete, mußte die Expedition an diesem Tage erkennen, »daß wir es mit einem vorsichtig und genau Vor- und Nachteile abwägenden, raschen Entscheidungen abholden, selbst über kleinste Dinge Kontrolle ausübenden Mann zu tun hatten, der stark unter englischem Einfluß stand und gewiß nicht der Negerhäuptling war, den man mit einigen Glasperlen in wilden, fanatischen Kampf gegen unsere Feinde treiben konnte, wie sich ihn wohl manche Leute in der Heimat vorgestellt haben mochten.« Die Expedition versuchte nun, Verbindungen zu maßgeblichen Kräften in Afghanistan aufzunehmen, um sie für sich zu instrumentalisieren. Den Deutschen gelang es, am Hof des Emirs eine starke prodeutsche Partei zu schaffen, die durch ihren Druck den Emir veranlaßte, den Expeditionsmitgliedern freien Raum für ihre Aktivitäten zu gewähren. So gewannen sie Einfluß »auf allen Gebieten des afghanischen gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens« (Hentig), und es wurde ein Freundschafts- und Handelsvertrag mit Afghanistan paraphiert, der der afghanischen Regierung unentgeltlich und ohne Gegenleistung »hunderttausend Gewehre neuer Art, 300 Geschütze […] und außerdem das notwendige Kriegsmaterial und 10 Millionen Pfund” zusicherte. Die deutsche Regierung verpflichtete sich laut Art. 4 des Vertrages auch, für »Offiziere, Ingenieure und andere Angestellte, die Afghanistan benötigt«, den Weg durch Persien zu öffnen. In Art. 6 erklärte sich die deutsche Seite ferner bereit, »für den Fall, daß Afghanistan in den Krieg eingetreten ist oder Vorbereitungen militärischer und innenpolitischer Art mit Schnelligkeit trifft, für den Besitz verlorengegangener und eroberter Gebietsteile einzutreten«. Zwecks »Revolutionierung« Afghanistans gegen Britisch-Indien wurde die afghanische Industrie auf Kriegsproduktion umgestellt. Niedermayer: »Ich arbeitete mit den deutschen, österreichischen und türkischen Hilfskräften eine neue Organisation und Verteilung der Armee aus, verbesserte und erweiterte eine Offiziersschule und leitete selbst eine Art Generalstabsschule, baute Befestigungsanlagen an der Straße Kabul – Peschawar und hielt Felddienst- und Scharfschießübungen in einem bisher unbekannten Umfang ab.« Doch es gelang der Expedition nicht, Afghanistan in einen Krieg gegen Britisch-Indien zu verwickeln, Die Regierung in Kabul beobachtete nämlich die Kriegslage in Europa und in Persien mit großer Aufmerksamkeit, kalkulierte die Kräfteverhältnisse und richtete danach ihr politisches Vorgehen aus. Dabei fiel auch ins Gewicht, daß Habibullah für seine Staatsausgaben und seinen bequemen Lebensstil regelmäßig hohe Zuwendungen von Britisch-Indien bezog und daß Deutschland nicht bereit war, Afghanistan im Falle seiner Kriegsteilnahme mit Truppen – Habibullah forderte eine Division – zu unterstützen. Deutschland wollte Afghanistan einfach als Instrument für seine expansionistischen Ziele benutzen. Der Emir zog die inoffiziellen Verhandlungen mit den Deutschen in die Länge, um abzuwarten, ob sich die Lage an den europäischen Fronten klären würde. Außerdem diente ihm die Anwesenheit der deutschen Expedition als Druckmittel gegen Britisch-Indien. Die Briten sollten so zu Zugeständnissen an Afghanistan und zu einer Erhöhung der Subsidien für den Emir gezwungen werden. Die Kriegslage änderte sich nicht zugunsten Deutschlands. Wäre die deutsche Armee in das russische Turkestan, also an die afghanische Nordgrenze vorgerückt, dann hätten die Deutschen auf dem Landweg ohne Hindernisse Indien erreichen können. Doch Mitte November 1915 rückten britische Truppen auf Bagdad vor und im Frühjahr 1916 russische Truppen auf Kermanschah und Isfahan. Am Hofe des Emirs in Kabul und im afghanischen Volk schlug die Stimmung um. Man gelangte zu der Erkenntnis, daß die deutschen Imperialisten eine provokative, abenteuerliche Politik betrieben und Afghanistan ohne nennenswerte militärische Hilfe in eine Katastrophe ziehen wollten. Habibullah verlor das Vertrauen zu den deutschen Expeditionsteilnehmern und schränkte deren Bewegungsfreiheit ein. Die Führung der deutschen Expedition sah sich außerstande, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie verließ am 20. Mai 1916 Kabul, zunächst in nördlicher Richtung, wo sich die Teilnehmer dann am Hindukusch trennten, Hentig in Richtung Nordosten über den Pamir nach China, Niedermayer in Richtung Westen über Russisch-Turkestan nach Iran. Die beiden Inder Mahendra Pratap und Maulawi Barakatullah, die mit Hentig nach Kabul gekommen waren, um von Afghanistan aus die indischen Völker zum Aufstand gegen die britische Kolonialmacht zu bewegen, blieben zurück und bildeten mit anderen in Afghanistan lebenden indischen Nationalisten eine provisorische indische Regierung unter Mahendra Pratap. Damit schien die ohne nennenswerten Erfolg gebliebene Tätigkeit der deutschen Afghanistan-Expedition abgeschlossen zu sein. Niedermayer zog im September 1916 das Fazit, daß der Kriegseintritt Afghanistans – das Hauptziel der Afghanistan-Expedition – nicht erreicht werden konnte. Doch der deutsche Imperialismus fand sich mit seiner Niederlage von 1918 nicht ab, und der nächste Krieg wurde ein untrennbarer Bestandteil seiner außenpolitischen Strategie. Die Deutschen hatten bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die Verbindung mit Afghanistan nicht ganz abgebrochen, sie hegten auch nach dem verlorenen Krieg immer noch die Hoffnung, ihre Position in Afghanistan wieder auf- und auszubauen. Sie kannten nunmehr die innen- und außenpolitische Situation des Landes gut und versuchten weiter, Nutzen daraus zu ziehen, was ihnen nach Ende des Ersten Weltkrieges größtenteils auch gelang. Während der Regierungszeit des Königs Amanullah (1919–1929) waren sie in fast allen Bereichen des afghanischen gesellschaftlichen Lebens wieder präsent. Matin Baraki wird demnächst ein Buch zu diesem Thema vorlegen. Soeben erschienen ist die Broschüre »Am Ende nichts? Krieg in Afghanistan – Bilanz und Ausblick«, hg. von Hubert Thielicke, Verlag WeltTrends, 75 Seiten, 9,90 €
Erschienen in Ossietzky 25/2014 |
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