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Seit Monaten machen sie sich nun nach Norden auf, weil ein anfängliches Gerücht besagte, daß unbegleitete Minderjährige nach dem illegalen Grenzübertritt in die USA nicht automatisch von der US-Grenzpolizei nach Mexiko zurückgeschickt, sondern in Auffanglagern versorgt oder aber sogar auf Staatskosten zu entfernten Verwandten weiter begleitet würden. Und wer gar niemanden habe, dem würde von katholischen Organisationen geholfen werden. Inzwischen ist dieses Gerücht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Die Bundesbehörden in den US-Grenzstaaten Texas und Arizona haben tatsächlich mit der Einrichtung dieser Lager begonnen, die Hilfsorganisationen bis hinauf nach New Jersey haben zahlreiche Initiativen gestartet, den Jungen und Mädchen grundlegende Versorgung zukommen zu lassen. Regelmäßiges Essen, ein geschützter Schlafplatz, Waschmöglichkeiten und Schulbesuch sind dabei die Konstituenten einer gesellschaftlichen Grundversorgung, in deren Genuß diese jungen Migranten in ihren drei Herkunftsländern nie gekommen wären. 69 000 Kinder und Jugendliche ohne erwachsenen Schutz haben seit Oktober 2013 den weiten Weg aus den Barrios von Guatemala, San Salvador oder Honduras, dem gegenwärtig gefährlichsten Staat der Welt mit der höchsten Mordrate, zurückgelegt. Sie bezahlen erst die Coyotes, die Schleuser aus der Nachbarschaft, um über die Grenze nach Mexiko an die Haltestationen der Güterzüge zu gelangen, die sie nach Norden bringen sollen. »La Bestia« ist der Sammelbegriff für diese Züge, die sich auf ihrer zumeist langsamen Fahrt tagelang durch ganz Mexiko in den Norden schieben. Die Kinder werden von den erwachsenen Migranten dabei nicht willkommen geheißen. Wer einen Schlafplatz auf den Dächern der Waggons ergattert, gehört zu den ganz wenigen Privilegierten. Kinder und Jugendliche jeden Alters drängen sich zwischen den ständig wechselnden Mitfahrern. Tödliche Unfälle durch Stürze vom Zug, Vergewaltigungen und Raub sind Begleitumstände bei diesem Exodus, dem klar benennbare Ursachen zugrunde liegen: Die Kinder fliehen buchstäblich aus lebensgefährdenden Umständen. Die Jugendbanden Mara Salvatrucha und M 18 regieren den Alltag der verarmten Bevölkerung in den drei genannten Staaten. Dabei führen die Banden nicht nur einen erbarmungslosen Krieg gegeneinander. Sie terrorisieren auch die Kleinverdiener und die völlig Mittellosen. In Guatemala etwa exekutieren zehnjährige Jungen im Auftrag der Maras Busfahrer und Taxifahrer, wenn diese keine Schutzgelder an die Banden zahlen wollen oder können. Weil die Maras immer brutaler vorgehen und mehr und mehr unbeteiligte Minderjährige in ihre Reihen pressen, schicken die verzweifelten Eltern ihre Kinder auf die ungewisse Reise in den Norden. In Guatemala weiß jedes Kind, daß es, wenn es der Aufforderung zu einem »Vorstellungsgespräch« bei den Maras nicht nachkommt, vogelfrei ist. Die Maras verdienen ihr Geld je nach Ort und Gelegenheit mit organsiertem Drogen- oder Waffenhandel, immer jedoch mit Schutzgelderpressung im unmittelbaren Umfeld. Es gibt de facto keinen Friseur, keinen Eisenwarenhändler, keinen Eisverkäufer, der nicht an einen der Unterbosse von Salvatrucha oder M18 Geld zu zahlen hat. Oder an mehrere. Als Dankeschön bleibt er bis zur nächsten Zahlung am Leben. Maras in Honduras nennen diese Opfer zynisch »vacas«, Kühe, weil sie nur solange etwas wert sind, wie sie »gemolken« werden. Daß die USA nun von einer nichtabreißenden Welle an minderjährigen Flüchtlingen überrollt werden, ist geschichtlich gesehen auch ein hausgemachtes Problem. Als die Staaten El Salvador und Guatemala in den 1980/90er Jahren von brutalsten rechten Militärdiktaturen regiert wurden, flohen Abertausende in die USA. Während die US-Administrationen unter Ronald Reagan und George Bush sen. die zentralamerikanischen Juntas mit Geld und militärischer Logistik vor dem angeblichen Vorrücken des Kommunismus unterstützten – wohl wissend, daß Militärs wie Rios Montt in Guatemala oder Emilio Ponce in Salvador politisch Mißliebige systematisch ermordeten oder ihre indigene Bevölkerung Dorf für Dorf ausrotteten –, nahmen die USA gleichzeitig die Flüchtlinge dieses Terrors auf – einer der vielen Widersprüche der damaligen US-Politik im Spannungsfeld des lateinamerikanischen Kalten Krieges. Die Maras entstanden zuerst in den Migrantenghettos von Los Angeles. Als in El Salvador und Guatemala nach Jahrzehnten blutigster Bürgerkriege endlich die Waffen schwiegen, wurden die inzwischen hochkriminellen Jugendbanden zurück in ihre Herkunftsländer geschickt. Dort wüten sie seither und bilden, wie im Falle von El Salvador oder Honduras, das mörderische Regulativ zu den hier fehlenden zivilgesellschaftlichen Strukturen. Wer sich ihnen nicht unterordnet, wer nicht kooperiert und die Vorherrschaft der Maras nicht akzeptiert, wird umgebracht. Und noch eine andere Ursache, eine paradoxe noch dazu, läßt die Kinder nach Norden fliehen: Hauptkonsumenten der von den Maras geschmuggelten Drogen sind die Abnehmer in den USA. Die Kinder fliehen also in das Land, dessen Abhängige indirekt für die lebensbedrohliche Gewaltkriminalität zuhause verantwortlich sind. Die minderjährigen Flüchtlinge aus Zentralamerika haben in der Obama-Administration nun für einen handfesten Konflikt zwischen dem Präsidenten und den Kritikern seiner nach Liberalisierung strebenden Einwanderungspolitik gesorgt. Im Juni ließ Obama noch verlauten, die illegalen Einwanderer auf legislativer Grundlage zu legalen Flüchtlingen machen zu wollen. Dann hatte er jedoch diese Entscheidung durch einen Aufschub bis zu den gerade beendeten Kongreßwahlen relativiert – und auch dadurch der republikanischen Mehrheit zu ihrem jetzigen Sieg verholfen. Menschenrechtsorganisationen, die sich für die minderjährigen Flüchtlinge einsetzen, werfen Obama Wortbruch vor, selbst demokratische Weggefährten Obamas und Kongreßabgeordnete wie Roberto Menéndez sind »tief enttäuscht darüber, daß der Präsident in dieser Angelegenheit nicht handelt«, wie er am 7. September in einem für Fox News gegebenen Interview verlauten ließ. Obamas Entscheidungsinsuffizienz in der Frage der humanitären Anerkennung der minderjährigen Flüchtlinge wird von finanziellen und logistischen Notlagen begleitet, denen sich einzelne Regionen durch die Aufnahme und Versorgung der elternlosen Kinder und Jugendlichen ausgesetzt sehen: Die Stadt New York beantragte bei der Regierung am 16. August 24 Millionen Dollar für die Unterbringung der Flüchtlinge. Bill de Blasio, New Yorks Oberbürgermeister, wies die Einwanderungsbehörden seiner Stadt an, sich anstelle nachgeordneter Verwaltungsaufgaben nun einem Notprogramm für die schulische Unterbringung und medizinische Versorgung zu widmen. »Diese jungen Menschen werden wahrscheinlich auf lange Sicht zu Bewohnern der Stadt New York werden. Bitte unterstützen Sie diese Kinder, um ihnen eine Zukunft bei uns zu sichern« rief auch Kevin Sullivan, Koordinator katholischer Hilfsorganisationen die Vertreter der New Yorker Stadtverwaltung auf. Nach Texas und Maryland ist New York die am drittstärksten betroffene Region der Vereinigten Staaten. Doch gerade in Texas oder Arizona protestieren sogenannte Komitees besorgter Bürger für die bedingungslose Rückführung der Minderjährigen mit Plakaten wie »Und wer sorgt sich um unsere Kinder?« oder »Setzt doch eure Diktatoren ab«. Sie schüren die stärker werden Ressentiments der Mittelschicht gegen Mittelamerikaner, die zuallererst als unliebsame Mitbürger wahrgenommen werden, dann aber gerne auch als billigste und oft illegale Putzfrauen oder Gärtner, Babysitter oder Küchenkräfte von eben dieser Mittelschicht beschäftigt werden. In der von der NBC ausgestrahlten Sendung »Meet the Press« gab Obama vor kurzem zu: »Tatsächlich hat diese Krise die politische Situation unseres Landes verändert.« Das klingt nach einem verspäteten Eingeständnis, nach verzagtem Reagieren auf ein massives Einwanderungsproblem, von dem viele US-Bürger wissen, daß es auch der jüngsten Geschichte der Vereinigten Staaten und den eigenen Drogen- und Kriminalitätsproblemen geschuldet ist.
Erschienen in Ossietzky 25/2014 |
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