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Paradoxerweise wird aber die Ausbildung eines solchen historischen Bewußtseins ausgerechnet von derjenigen Wirtschaftsweise erschwert, wenn nicht verhindert, die als Motor der Entwicklung seit Jahrhunderten das Tempo der gesellschaftlichen Veränderung immer weiter beschleunigt und schließlich in schwindelerregende Höhen getrieben hat: der kapitalistischen Ökonomie. Je mehr sie das Leben dominiert, desto stärker verengt sich der zeitliche Blickwinkel. Ihrer inneren Logik nach ist die kapitalistische Wirtschaftsweise nämlich auf Geschichte nicht angewiesen. Sie braucht für die Aufrechterhaltung ihrer Kreisläufe kein langfristiges, über Jahrhunderte reichendes Planungsverhalten. Und sie braucht erst recht kein ebenso weitreichendes Erinnerungsvermögen. »Die Wirtschaft benötigt ein Gedächtnis«, wie Niklas Luhmann erkannte, »ausschließlich im Zusammenhang mit Kredit.« Und dabei geht es um vergleichsweise kurze Zeitspannen. Wie es scheint werden sie sogar immer kürzer. Die herrschende finanzmarktgetriebene Form des Kapitalismus ist nur noch an schnellen Gewinnen interessiert. Alles verantwortungsvolle Planen, das die Folgewirkungen der eigenen Wirtschaftsweise auf die zukünftigen Generationen miteinkalkuliert, und alles geschichtskundige Erinnern, das über die Auswertung von Feedbackdaten hinausgeht, wird von einer an der jeweils höchsten Rendite orientierten Rationalität als Effizienzbremse gebrandmarkt. Gleichzeitig und wie zum Hohn wird die bislang von der Profitgier verschonte Vergangenheit und Zukunft nun selbst von der ökonomischen Zentrifuge zu Magma verrührt und in konsumentenfreundlicher Verpackung in die Verwertungsketten eingespeist. Der »Geschichtsmarkt« (Aleida Assmann) quillt inzwischen über von Angeboten. Mal boomt die Antike, mal das Mittelalter, mal der erste, mal der zweite Weltkrieg. Jedes Jubiläum wird ausgeschlachtet, jeder nur denkbare historische Stoff zum Auflagen- und Quotenbringer gemacht. All diese Formen von Historienspektakel, Retromoden und Jubiläumstrubel befriedigen natürlich irgendwelche Bedürfnisse, aber sie erzeugen in ihrer Disparität bei uns Konsumenten kein historisches Bewußtsein. Das bleibt den Experten vorbehalten und wird de facto nur noch im Umkreis der seriösen gesellschaftlichen Erinnerungsorgane gepflegt: in den historischen Wissenschaften, einigen Museen oder dem Denkmalschutz. Die Laien bleiben meist draußen vor und sind der historischen Vergnügungsindustrie und ihren Geschichtsverfälschungen ausgeliefert. Dem Geschäft mit der Vergangenheit korrespondiert – kaum weniger abstoßend – das Geschäft mit der Zukunft. Sein problematischster Aspekt zeigt sich in der fortschreitenden Zerstörung des staatlichen Rentensystems zugunsten privater Versicherungskonzerne. Die finanzielle Vorsorge fürs Alter soll nicht mehr der Solidarität der Bürger anvertraut werden, sondern dem, wie sich gerade in den letzten Jahren gezeigt hat, hochriskanten Kapitalmarkt. Hier wird für den augenblicklichen Gewinn im wahrsten Sinne des Wortes die Zukunft verkauft, natürlich die Zukunft der andern. Der ökonomisch motivierte »Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«, der nach Alexander Kluge dazu führt, daß »die Gegenwart in der Lage ist, alle Zukünfte und Vergangenheiten zu erschlagen«, transformiert die Kultur der Erinnerung in eine Kultur der Aufmerksamkeit. Das Gesetz des Marktes verlangt nicht, sich an Dinge und ihre Gebrauchsweisen von vorgestern zu erinnern, sondern im aktuellen Warenangebot den jeweils günstigsten Tauschwert schnellstmöglich herauszufinden, also nicht das Diachrone, sondern das Synchrone zu vergleichen. Anders gesagt: Das Gesetz des Marktes verlangt allein den Blick auf Preis- und Ranking-listen. Je weiter dieses Marktkalkül in alle Lebensbereiche vordringt und auch die bisher weitgehend verschonten Subsysteme der Bildung, der Wissenschaft, der Gesundheit, der Kultur und der Altersvorsorge erfaßt, desto mehr schrumpft das historische Bewußtsein unserer Gesellschaft auf das Zeitmaß von Zinszyklen und Kreditverträgen. Niemand in der politischen Klasse veranschaulicht diese Schrumpfung des historischen Bewußtseins besser als Kanzlerin Angela Merkel. Sie ist Opfer dieses Prozesses, aber sie treibt ihn auch voran. Sie vollstreckt die neoliberale Agenda mit jenem »punktartigen Horizont«, von dem schon Nietzsche gesprochen hat. Wenn Merkel sich mit Geschichte beschäftigt, dann erschöpft sich das, wie in ihrer letzten Neujahrsansprache, in der schematischen Aufzählung von Jahreszahlen, oder es bleibt, wie die Rede von Osterhammel auf ihrem 60. Geburtstag, bloße Dekoration. Geschichte wird abgefeiert. Auf die Politik der Bundesregierung jedenfalls wirkt sie sich nicht aus. Genausowenig wie der Blick in die Zukunft. Er verschwimmt in der nebulösen Fortschreibung des Status quo: »Es gibt viel zu tun, damit Deutschland auch in Zukunft stark bleibt.« (Neujahrsansprache 2013/14). Merkel zieht weder die Lehren aus der deutschen Vergangenheit, noch interessiert sie sich wirklich für ein anderes, besseres Deutschland. Visionen sind ihr völlig fremd. Sie fährt »auf Sicht«. Für die Passagiere, vormals Bürgerinnen und Bürger, ist das nicht besonders angenehm, denn sie wissen nicht – nach einem Bild, das dem verstorbenen Sozialdemokraten Peter Struck zugeschrieben wird – wo sie schließlich landen werden. Um in dieser Situation der Ziellosigkeit wenigstens das Gleichgewicht, sprich: den Machterhalt zu sichern, oszilliert Merkels Politik in einer fast tollkühnen Manier zwischen unschlüssigem Abwarten und abrupten Kehrtwendungen. Die Fähigkeit zum Abwarten war bei Merkel schon früh zu erkennen. So hat sie lange gezögert und sich erst post festum, nachdem die Mauer gefallen war, dem Demokratischen Aufbruch angeschlossen. Merkel kann warten. In akuten Situationen vermeidet sie, Stellung zu beziehen, manchmal taucht sie ganz ab. Entscheidungen trifft sie erst dann, wenn kein Risiko mehr besteht. Man hat dieses Verhalten als rational bezeichnet und in ihm den Ausdruck klugen Abwägens gesehen. Im Hinblick auf den bloßen Machterhalt ist das wohl auch zutreffend. Doch dahinter verbirgt sich tiefe politische Orientierungslosigkeit. In beängstigendem Kontrast zu dem schon fast habituellen Zögern, das im Grunde auf eine Richtlinienkompetenzverweigerung hinausläuft, stehen die abrupten Kehrtwendungen, die sich im politischen Leben von Angela Merkel beobachten lassen. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Energiewende, bei der es Merkel gelungen war, über Nacht genau das Gegenteil von dem zu vertreten, was sie kurz vorher noch als »Atomkanzlerin« für »unverzichtbar« hielt. Ähnliches gilt für den »Mindestlohn«: erst dagegen, dann dafür. Man muß kein Prophet sein, um vorherzusagen, daß sie auch das TTIP-Abkommen, das sie gegenwärtig noch vehement vertritt, in dem Augenblick fallenlassen wird, indem der öffentliche Widerstand dagegen – hoffentlich – ihre Macht bedroht. Damit die Bürger und Bürgerinnen oder – um im Bild zu bleiben – die Passagiere angesichts derart wankelmütiger Manöver nicht in Panik geraten, müssen sie beruhigt oder besser noch – mit einer Formulierung von Roger Willemsen – »chloroformiert« werden. Zu diesem Zweck nutzt Merkel zwei höchst wirkungsvolle Strategien. Die eine Strategie betrifft ihren Umgang mit den Bildmedien, die andere ihren Umgang mit der Sprache. In den Bildmedien inszeniert sich Merkel – oder läßt sich inszenieren – als Mutter der Nation. Sie erscheint dort als jemand, der sich jenseits des kleinlichen Parteiengezänks unermüdlich und selbstlos um alles und jeden kümmert, um die Hochwasseropfer in Bitterfeld genauso wie um die Kindergärten in Dresden. Mal spricht sie im Festsaal vor Handwerken, mal freut sie sich in der Kabine mit den Jungs der Weltmeisterelf. Auch international ist sie allgegenwärtig. Sie empfängt die Großen dieser Welt und wird von ihnen empfangen. Mit Obama und Putin ist sie ständig am Telefonieren. Bei all dem hebt sie nicht ab. Sie scheint eine von uns geblieben, eine bescheidene Frau ohne Pomp und ohne Allüren. Eine Frau, die sich – anders als ihr einstiger Konkurrent Steinbrück – nicht über die Höhe des Kanzlergehaltes beklagt, gerne selber kocht und backt und Kartoffelsuppe liebt. Die Botschaft dieser visuellen Betäubungsstrategie ist klar: Ihr kennt mich. Ich bin immer da. Ihr könnt mir vertrauen. Welche Krise auch immer uns trifft, wir werden gestärkt daraus hervorgehen. Die Sprache nutzt die Kanzlerin, um vor allem in ihren öffentlichen Reden den Betäubungseffekt noch einmal zu verstärken. Das geschieht zunächst negativ, durch die Weigerung, Vorgänge von höchster politischer Bedeutung überhaupt zu thematisieren. So kommen etwa der NSU-Prozeß, der Abhörskandal, der Afghanistankrieg oder gar Lampedusa und die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa in ihrer letzten Neujahrsansprache erst gar nicht vor. Statt dessen werden die Bürgerinnen und Bürger mit Unverbindlichkeiten abgespeist: Mit belanglosen Bekenntnissen (»Ich selbst nehme mir eigentlich immer vor, mehr an die frische Luft zu kommen«), mit abgegriffenen Kalenderweisheiten (»Oft jagt ein Ereignis das andere. Manchmal verändert eines davon vieles, wenn nicht gar alles in unserem Leben«) oder mit vermeintlich mitfühlenden Platitüden von privatem Glück und Unglück (»Und natürlich ist fern der großen Schlagzeilen auch in unserem persönlichen Leben viel geschehen, Schönes wie Enttäuschendes«). Dazu kommen die üblichen Appelle an die »Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen« zu »Leistungsbereitschaft, Engagement, Zusammenhalt« und der Entwurf einer politischen Agenda, der ziemlich allgemein bleibt und sich im Grunde in Selbstverständlichkeiten erschöpft (Finanzen »geordnet übergeben«, »Energiewende zum Erfolg führen«, »gute Arbeit und ein gutes Miteinander in unserem Land«, »Familien unterstützen«, »bestmögliche Bildung«). Derartige Schlichtheiten passen zum Mutti-Image und bekräftigen es. Sie bilden nach dem gelegentlich fast unverschämten Schweigen die zweite Variante ihrer »Ich-sag-nix-Strategie«. Die dritte Variante dieser Strategie steht im Kontrast dazu. Sie liefert keine Schlichtheiten in der sprachlichen Rede, sondern Monstren. Einige davon grenzen an nichtssagende Tautologien: »Wenn alles normal läuft, dann kann ich zusagen, daß unsere Vorhaben auf einer guten Grundlage sind« (zitiert nach 3sat »Kulturzeit«, 16.7.2014), andere gehören wohl eher ins Kuriositätenkabinett: »Schließlich haben wir erreicht, daß darauf hingewiesen wird, daß es notwendig ist, insbesondere für die ostbayrischen Landkreise entlang der tschechischen Grenze, Beihilferegelungen anzustreben, die die Brüche zwischen der tschechischen Republik und Bayern nicht zu groß werden lassen« (im Parlament am 21.2.2013). Donnerwetter. Was für eine Leistung: Man hat erreicht, daß darauf hingewiesen wird, daß es notwendig ist, etwas anzustreben. Solche Sätze täuschen Kompetenz und Leistung vor und sind doch nur Belege einer genauso monströsen wie hohlen Rhetorik. All diese sprachlichen Strategien, das stoische Schweigen, die Verkündigung von Schlichtheiten und die umständliche Imponierrhetorik laufen auf die Verbreitung von Nullbotschaften hinaus. Zusammen mit der visuellen Inszenierung machen sie nicht nur Merkel unangreifbar, sie lassen auch das historische Bewußtsein der Menschen auf das Niveau von vertrauensseligen Kleinkindern schrumpfen. Die Menschen sollen vergessen und sich wohl fühlen. Politische Urteilskraft ist nicht mehr gefragt. Während so durch die Ausdehnung der »Betäubungszone« (Roger Willemsen) die Bevölkerung eingelullt wird, schreitet die neoliberale Zerstörung unseres Gemeinwesens fort: Die Eliten setzen sich ab, der Zusammenhalt zerbricht, die Reichen werden reicher und die Armen ärmer, das Parlament verliert an Einfluß, die öffentliche Daseinsfürsorge wird zurückgefahren, die Infrastruktur zerfällt, die Konkurrenz untereinander wächst, die Zahl prekärer Beschäftigungen steigt, die Militarisierung der Außenpolitik erreicht die Grenze zur Kriegstreiberei, die Meinungsmanipulation durch interessegeleitete Umfrageforschung, mediale Desinformation und Schönfärberei nimmt zu, und die Überwachung der Privatsphäre erreicht flächendeckende Ausmaße. Der Fluchtpunkt dieser neoliberalen Dynamik ist die »marktkonforme Demokratie«, eine Fassadendemokratie, hinter der sich nichts anderes verbirgt als die neue westliche Regierungsform des Finanzfeudalismus. Im Verein mit der geschichtsvergessenen und entpolitisierten Biedermeieridylle unserer gesellschaftlichen Oberfläche ergibt dies ein explosives Gemisch. Deutschland »döst«, wie es Habermas 2013 im Spiegel formulierte, »auf einem Vulkan«.
Erschienen in Ossietzky 24/2014 |
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