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GB 84: Der Streik der Bergarbeiter gegen die Thatcher-Regierung

Rezension

von Stefan Janson

David Peace, "GB 84" – Roman, liebeskind Verlag München 2014, 536 Seiten

"Herr, bitte öffne den Menschen Englands Augen und Ohren. Aber die Menschen sind blind und taub ? eine Armee der Nacht. Eine Armee der Rechten ? Wegen euch sind wir hier, sagen sie. Wegen euch ? Sie nehmen uns unsere Sprache und unser Land. Unsere Familien und unseren Glauben. Unsere Götter und unsere Lebensart ? Wir sind nur Streichholzmännchen, mit Streichholzhütten und Schuhen ? Und sie rasieren uns die Schädel. Schicken uns in die Duschen ? Stecken uns in ihre Züge. Stecken uns in ihre Zechen ? die Käfigtür schließt sich, der Käfig fährt ein ? um uns mit Erde zu bedecken?.und sagt, Erwacht! Erwacht! Dies ist England, Euer England ? im Jahre Null."
(S. 536)

Der Bergarbeiterstreik 1984 war ein tiefer Einschnitt nicht nur in der britischen Geschichte, sondern darüber hinaus ein europaweit wirksames Signal für die gewaltsame Durchsetzung des Neoliberalismus in einem Wohlfahrtstaat. Von dieser Niederlage haben sich weder die britischen Gewerkschaftsbewegung noch die Linke erholt und für die Labour Party begann die tief greifende Transformation von einer keynesianischen orientierten Wohlfahrtsstaatspartei zum "linken Flügel" des Neoliberalismus unter der dubiosen Gestalt eines Blair. Der britische Krimiautor David Peace beschreibt Verlauf und Geschehnisse dieser spannenden Periode in einem atemberaubenden Thriller und schreibt damit ein spannendes Kapitel Sozialgeschichte.

Peace' Roman ist nichts für schwache Nerven. Er ist kein Thriller im herkömmlichen Sinne, sondern ein durch und durch politisches, von der ersten bis zur letzten Seite packendes Lehrstück über die wohl wichtigste Phase Großbritanniens nach 1945, seiner Arbeiterbewegung, dem Sieg des Neoliberalismus. Diese Geschichte erzählt der Roman durch seine Protagonisten, durch ihr Handeln und ihre inneren Monologe, Phobien, Träume und Phantasien. Ich habe selten einen Roman gelesen, der auf so spannende Weise Zeitgeschichte, politische Bewegung und individuelle Schicksale miteinander verknüpft.

Es geht um das Großbritannien des Jahres 1984, um den Bergarbeiterstreik gegen die Privatisierungs- und Schließungspolitik der Thatcher-Regierung, um einen Kampf, der mit großer Militanz auf beiden Seiten geführt wird. Die National Union of Mineworkers (NUM) glaubt sich am Anfang dieses einjährigen Streiks auf der Gewinnerseite, glaubt, die Kampagne ähnlich siegreich bestehen zu können wie 1974, als es ihr gelang, eine konservative Regierung unter Edgar Heath in die Knie zwingen. Der Führung der NUM wird Peace bis zum Ende des Buches bescheinigen können, dass sie ebenso Kompromiss unfähig ist wie Regierung und Mainstream zu einem Kompromiss unwillig sind. Er zeigt immer wieder Zeitpunkte auf, an denen eine Beendigung der Streikbewegung bei einem Erhalt einer erheblichen Anzahl von Gruben und Arbeitsplätzen möglich gewesen wäre ? wenn denn Thatcher gewollt hätte und Scargill, der NUM-Vorsitzende (Im Buch immer: "der Präsident") verstanden hätte, wem er da gegenüberstand. Der Sieg der neoliberalen Tories unter Thatcher im Jahre 1979 wird von der NUM nicht als das begriffen, was er war: eine grundlegende Wende in den industriellen und gesellschaftlichen Beziehungen. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften ? wie auch die Linke ? hat lange nicht verstanden, dass spätestens mit dem Putsch in Chile 1973 und der Inthronisation der "Chicago Boys" als Wirtschaftsregierung dort das Zeitalter des weltweiten Siegeslaufes der totalitären Ideologeme von "Freien Märkten" und des "Homo Economicus" begonnen hatte. Der Wahlsieg der Konservativen 1979 war nur die nächste Etappe. Die kalte Politik der Margaret Thatcher war die europäische, durch Verfahren der politischen Demokratie gemilderte Variante dieses neuen Totalitarismus. Die Solidarität der kontinentalen Gewerkschaften reichte zwar zu Lebensmittelhilfen und anderer materieller Unterstützung, wurde aber auch dadurch unterlaufen, dass damals noch stalinistisch regierte Länder wie Polen während des Streiks fleißig Kohle nach Großbritannien lieferten. Die trotzkistischen Splittergruppen kommen bei Peace nicht gut weg, diese "Tweedjackenträger" schirmen den Präsidenten der NUM gegen Realitätseinbrüche ab. Die Bergarbeiter standen also mehr oder minder allein, politisch schlecht vorbereitet, durch eine somnambule Führung vertreten und strategisch wie taktisch hilflos.

So waren zu einem Machtkampf mit der Thatcherregierung weder Labour bereit noch die Gewerkschaften gerüstet. Ihr politisches Repertoire erschöpfte sich in hohlen Ritualen einer materiell nicht eingelösten verbalen Solidarität. Peace gelingen wunderbare Passagen, in denen deutlich wird, wie faktisch Solidarität verweigert wird. Während auf den Podien Phrasen von der Einheit heruntergebetet werden und man das Lied von der "Red Flag" anstimmt, wird im Hinterzimmer dem Präsidenten und der Führung der NUM bedeutet, dass man unter allen Umständen im "Rahmen der Legalität" bleiben werde. Peace stellt aber auch den Mangel an Demokratie in der Gewerkschaft, ihre fatalen Kontakte zu libyschen Stellen und Ostblockgewerkschaften dar. Die NUM gibt sich die Blöße, dass es in wichtigen Bergbauregionen keine demokratischen Abstimmungen über den Ausstand gab. Ein Umstand, der sofort gegen den Streik instrumentalisiert wird. Thatcher stilisiert sich als Verfechterin der Demokratie gegen "ihre Feinde im Inneren". So konnte es der Regierung und den überwiegend feindlichen Medien gelingen, den Streik als demokratisch nicht legitimierten Angriff auf eine demokratisch gewählte Regierung darzustellen. Es gelingt ihnen ebenso, eine Gruppe von Bergarbeitern in der Gewerkschaftsbewegung gegen den Streik zu organisieren. Diese fungieren als demokratisches Feigenblatt für die Vernichtungsstrategie der Thatcher-Regierung. Peace zeigt, wie einige der Bergarbeiter daran zu Grunde gehen, als sie das erkennen. Ihm gelingt es, in der Figur des Stephen Sweet den Koordinator dieser vielfältigen Aktionen zu personifizieren und zu zeigen, wie die politische Strategie der Regierung in einem mühseligen, immer wieder durch kompromissbereitere Manager und Politiker gefährdeten Prozess durchgesetzt wird. Peace zeigt uns diesen Sweet aber andererseits als gebrochenen Menschen, jemanden, der sich im Auftreten und Kleidung extravagant, als Snob gibt, dem aber als Angehörigem der jüdischen Minderheit nichts mehr am Herzen liegt als endlich anerkannt zu werden von den Eliten, so reaktionär und antisemitisch diese "upper classes" auch sein mögen. Im wirklichen Großbritannien des Jahres 1984 hieß dieser Sweet Sir Joseph.

Durch Sweet werden Polizei und als solche getarnte Militärverbände, werden Geheimdienste und faschistische Schlägertruppe koordiniert auf die Streikposten und Gewerkschafter gehetzt. Die Militanz der Kumpel bleibt überwiegend reaktiv, ihre Versuche, Streikbruch zu verhindern, scheitern wieder und wieder. Sie verteidigen nicht nur ihre Arbeitsplätze sondern auch ihre Lebensweise in den kleinen Bergarbeiterdörfern fernab der großen Metropolen und Zentren. Peace gelingt es in eindringlichen Beschreibungen die Welt der Bergarbeiter Martin und Peter darzustellen, ihre Kampfbereitschaft, ihr Pflichtbewusstsein, ihr Verhältnis zu ihren Frauen und Kindern. In einer täglichen Chronik wird die Aushöhlung jeder zivilisierten Lebensweise, ihre wachsende Armut, ja der beginnende Hunger geschildert. Die Sozialbürokratie agiert gnadenlos, sie stellt sich als bedingungsloser Handlanger der Regierung dar: den Kindern der Bergarbeiter werden Mittel für Schuluniformen und Tornister verweigert. Die Ehen und Beziehungen der Bergarbeiter leiden, sind nach einem Jahr dem Druck nicht mehr gewachsen, am Ende löscht die physische und psychische Erschöpfung die Hoffnung auf einen Sieg aus. Zu ihrer Schwächung trägt bei, dass Peter und Martin der kleinen Welt ihrer Gemeinden und Gruben verhaftet bleiben, denn ein Bündnis mit den Menschen in den wachsenden Dienstleistungszentren wird weder als strategisch wichtig erkannt noch gibt es erkennbare Versuche der Arbeiter und Angestellten anderer Branchen, über Geld- und Sachspenden hinaus zu helfen.

Die Niederlage der NUM hat die Insel jenseits des Ärmelkanals verändert. Mit ihr war der Sieg des Neoliberalismus vervollständigt. Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung als handlungsfähiger politischer Faktor war auf Jahre beseitigt. Der Aufstieg und die Regierungspolitik eines Tony Blair und "New Labour" sind ohne diese Streikniederlage nicht zu verstehen. In diesem Streik blamierte sich nicht nur die ziel- und planlose Labourführung, wurde die Unfähigkeit der Exekutive des Trade Union Congress zu einer wirksamen Solidarität deutlich, und ist die radikale Linke, allen voran ihre trotzkistischen Bestandteile nicht in der Lage, dem Anbruch einer neuen Zeit angemessen, also realistisch zu begegnen.

Die Herausforderung einer konservativen Regierung, die sich zäh und geschickt Schritt für Schritt die Initiative unter Zuhilfenahme von Special Branch, MI6, Presse, Medien, der britischen Wohlfahrtsbürokratie, der offenen Klassenjustiz und der ganzen Macht der herrschenden Klasse zurückeroberte, wurde letztlich auf dem Rücken der Kohlekumpel ausgetragen, die nach einem Jahr ohne ein greifbares Ergebnis wieder einfahren mussten: deprimiert, ausgehungert, verschuldet. Lediglich dass die Frauen der Minenarbeiter sich in der beispiellosen Solidaritätskampagne mit ihren Männern emanzipierten, mag auf die Habenseite dieses überaus harten ökonomischen und politischen Kampfes gezählt werden. Das ist die rote Linie dieses Romans, der aber an keiner Stelle seinen Charakter zu Gunsten eines politischen Pamphlets aufgibt.

Die wichtigsten Protagonisten werden häufig nicht beim Namen genannt. Sie heißen: Der Präsident (der NUM), der Vorsitzende (des National Coal Boards ? der Bergbaubehörde), der Jude (gemeint ist offenbar Sir Joseph, der die Kampagne gegen die Bergarbeiter im Auftrage der Regierung koordinierte), der General (ein reaktionärer Veteran mit militärischer Nordirlanderfahrung mit Putschgelüsten), der Milliardär (wohl Rupert Murdoch), der Mechaniker (ein Abhör- und Terrorspezialist der Special Branch). Namen haben zwei Bergarbeiter, Martin und Peter, aus deren Perspektive der Streikalltag, die Auseinandersetzungen untereinander und mit Streikbrechern, die militanten Kämpfe mit den Polizeikräften, aber auch die Konflikte mit und in ihren Familien geschildert werden ? Tag für Tag, in einer Art Tagebuch zu Anfang eines jeden Kapitels. Namen haben aber auch ein Terry Winter, der, Finanzchef und Justitiar der Gewerkschaft, der schließlich als Betrüger entlarvt wird und sich an den Streikgeldern der NUM vergreift sowie Neil Fontaine, einem Handlanger von Sweet mit guten Beziehungen zu Geheimdiensten und Schlägerbanden. Diese alle sind Individuen, deren Leben und deren Obsessionen Peace in dieses dramatische gewerkschaftliche und politische Kampfgeschehen einordnet, das in einem unvergleichlich lebendigen und spannenden Roman eingefangen wird. Gäbe es doch mehr politische Romane wie diesen!

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sopos 11/2014