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Einhundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist der Mensch nicht nur medial in der Lage, das weltweite kriegerische Grauen scheinbar mitzuerleben, sondern es auch in atemberaubender Geschwindigkeit im Sinne seiner jeweiligen politischen Überzeugungen zu interpretieren. Aus dem uns zur Verfügung stehenden Repertoire an geschichtlich Durchlebtem, aus dem Fundus philosophischer Lehren, aus ideologischen und religiösen Erfahrungen, aus dem Nachhall revolutionärer Umwälzungen und nicht zuletzt aus ökonomischen und völkerrechtlichen Gegebenheiten heraus deuten wir die heutigen Kriege. Und dies in dem dumpfen Wissen, daß sich der finale Sinn des Ganzen, das Töten unserer eigenen Spezies, nie ändern wird. Darum auch sind die Grunderkenntnisse zu Herkunft, Wesen und Charakter eines Krieges statisch. Von Heraklit über Clausewitz bis hin zu den Erkenntnissen der modernen Friedens- und Konfliktforschung hat sich über Jahrtausende hinweg am Töten wenig geändert, sieht man von technischen Möglichkeiten einmal ab. Am Krieg profitieren häufig auch diejenigen, die ihn anzetteln, provozieren und möglichst intensiv betreiben. Nichts Bleibendes wird durch ihn selbst und um seiner selbst willen geschaffen, nichts »gereinigt«, nichts produziert. Welche Politik mit anderen Mitteln er fortsetzt und welche nicht, ist im Augenblick des Tötens und Vernichtens nicht immer mit Sicherheit zu sagen. Zu ermitteln bleibt: Wer beginnt ihn mit welcher Absicht, und wie führt er ihn aus? In jüngerer Zeit nun haben sich vereinzelt westliche Geisteswissenschaftler mit Theorien zu Wort gemeldet, die in den intellektuellen Habitaten von Harvard bis zur Sorbonne mit einer Verve diskutiert werden, als hätte es bestimmte Grunderkenntnisse zu den Entstehungsbedingungen von Kriegen nie gegeben. Den Beginn machte wohl der kanadische Entwicklungspsychologe Steven Pinker 2011 mit seiner von Sebastian Vogel übersetzten Studie »Gewalt«, einem umfangreichen Werk, das mit einer beeindruckenden Konfliktstatistik und innovativen mathematischen Modellen ein Abnehmen kriegerischer Auseinandersetzungen seit dem Altertum beweisen will. Obwohl Pinkers Aussagen zur nachlassenden Akzeptanz von Gewalt in westlichen Gesellschaften und seine Beobachtungen zur relativen Kriegsanfälligkeit von Staaten mit unterschiedlichsten Regierungsformen stimmig scheinen, bleibt er Erklärungen zur Gegenwart schuldig. Warum etwa zeigen sich die Vereinten Nationen mit ihrem Sicherheitsrat und die westliche Regierungen so auffällig zurückhaltend, wenn es um Konfliktprävention in Afrika oder Asien geht? Oder wie und warum sind die geowirtschaftlichen Interessen des Westens mit der Unterstützung staatlicher Organisationen, Institutionen oder im Extremfall der Regierenden direkt verbunden? Pinker definiert den Terrorismus des 21. Jahrhunderts als Taktik und nicht als Ideologie, er verweist auf die historische Erfolglosigkeit terroristischer Bewegungen und belegt dies vornehmlich mit nicht-global agierenden Beispielen aus dem 20. Jahrhundert (RAF, ETA oder IRA). Er nennt die seit 1945 anhaltende Phase der Konfliktfreiheit in Europa den »langen Frieden« und sieht die Gründe dafür in einem von Bündnisverpflichtungen stabilisierten System nationalstaatlicher Sicherheit. Allerdings übergeht Pinker hier den jugoslawischen Bürgerkrieg und die Anfang der 90er Jahre einsetzende NATO-Intervention. Den ukrainisch-russischen Konflikt konnte er nicht voraussehen, aber gerade das vom Westen forcierte Interesse an bündniserweiternden Staaten wie der Ukraine beweist den erwähnten Schwachpunkt seiner Argumentation. Die Interessen der westlichen Bündnispolitik ignorieren entweder willentlich bestehende Konfliktpotentiale oder provozieren sie nach ihrem ergebnisorientierten Gusto. Die unter dieser Voraussetzung erfolgende Einflußnahme führt in den Zielstaaten immer zu einer Konflikteskalation, sprich zu Krieg. Die westliche Ausnutzung von ethnischen, religiösen oder ressourcenbedingten Disparitäten innerhalb souveräner Staaten wird die Kriege des 21. Jahrhunderts verursachen, wie es ja bereits geschieht: Die kurdische Diaspora, die fehlende Nationalstaatlichkeit Palästinas, die ungelösten innerislamischen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten im Irak, die interreligiösen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen in Afrika oder Muslimen und Hindus in Asien sind nur die aktuellsten Beispiele einer sich abzeichnenden Tendenz intrastaatlicher Kriege mit andauernder Intervention äußerer Mächte (Arabische Liga, Afrikanische Union, NATO- und US-Streitkräfte mit oder ohne UN-Mandat, ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich in Mali). Dabei wird in den kommenden Jahrzehnten auch eine große Rolle spielen, wer die westliche Außenpolitik gestalten und wie diese sich in der Frage nationalstaatlicher Anerkennung verhalten wird. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty beschreibt in seinem von Ilse Utz und Stefan Lorenzer übersetzten aufsehenerregenden Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« die Gefahr, die westlichen Demokratien aus der sich immer schneller entwickelnden Ungleichheit der Vermögensverhältnisse in hochindustrialisierten Staaten oder Schwellenländern ersteht. Piketty verweist auf einen paternalistischen Kapitalismus, der Milliardäre und Oligarchen ermächtigt, ganze Staaten einzukaufen. Als Sozialdemokrat schlägt er ein abgestuftes Besteuerungskonzept für Super- und Schwerreiche vor. Deren Vermögen wächst schon allein auf Grundlage kapitalrechtlicher Festschreibungen derart, daß Piketty die bestehenden Demokratien in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet sieht. Wäre Piketty Marxist, hätte sein Buch wohl kaum so viel Aufsehen erregt. Schon 1996 hat der in Lateinamerika lehrende deutsche Soziologe Heinz Dieterich in seinem Buch »Der Sozialismus im 21. Jahrhundert« genau diese Entwicklung nicht nur konstatiert, sondern eben auch für die sich zukünftig abspielenden Kriege quasi nebenher verantwortlich gemacht. Piketty betont plakativ, er trete für das Privateigentum ein, um sich von Marx – oder eben Dieterich – abzugrenzen. Seine Erkenntnis also, daß die immer schneller wachsende Kapitalmacht die Grundexistenz demokratischer Regierungen unterminiert und diese auch zu einer aggressiveren Bündnispolitik gegen Dritte antreibt, läßt ihn den herrschenden Eigentumsbegriff dennoch nicht in Frage stellen. Wie aber einige jenseits von kapitalismuskritischen Betrachtungen agierende Intellektuelle die kommenden Kriege des 21. Jahrhundert und ihre Ursachen erklären, kann man bereits jetzt erahnen: In seinem jüngsten Buch »A Troublesome Inheritance«, veröffentlicht im April 2014, erklärt der kanadische Soziologe Nicholas Wade die kriegerischen Konflikte im Iran, im Jemen oder in der Subsahara mit einer zum Krieg neigenden genetischen Prädisposition der dort lebenden Völker, bei ihm auch wieder »Rassen« genannt. Unser Wissen darüber, wie man mit vorgeblich erblich, ethnisch oder rassisch »Minderwertigen« in den Kriegen des 20. Jahrhunderts verfuhr, sollte uns gegenüber dieser Art von Erklärungsversuchen äußerst wachsam bleiben lassen.
Erschienen in Ossietzky 21/2014 |
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