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Die 545 Menschen auf dem Schiff waren als Arbeitsemigranten nach Libyen gekommen, durch die Wüste Afrikas, aus Eritrea, Ghana, Mali. Rassistische Ausschreitungen im libyschen Bürgerkrieg hatten sie vertrieben. Das ist die Vorgeschichte. Das Hamburger Thalia-Theater hat sich dieser Flüchtlinge angenommen. Nicolas Stemann inszenierte »Die Schutzbefohlenen«, ein Stück von Elfriede Jelinek. Bei einer Protestaktion in Wien war ihr eine Broschüre des Innenministeriums, die Flüchtlingen den Freiheitsbegriff nahe bringen soll, in die Hände gefallen: »Zusammenleben in Österreich«. Sätze wie: »Freiheit kann ein Gefühl sein, wie man es beispielsweise beim Sport … wie beim Skifahren in den Bergen erlebt.« Jelinek verdichtet es: »Freiheit brauchen wir für die Freizeit.« Auf der Thalia-Bühne sechzehn der Lampedusa-Flüchtlinge sowie weitere aus dem Iran und Afghanistan. Menschen, die Hamburg erreichten und in der reichsten Stadt des Landes hin- und hergeschoben werden. Die Freiheit wird auf der Bühne irgendwann durch hohe Drahtverhaue versperrt. Die rote Leuchtschrift: OPEN, die den ganzen Abend lang strahlt, eine Verheißung – für wen? Und eine Zahl, anfangs 23.171, die sich verändert, immer größer wird. Sind es Flüchtlinge oder gar die Toten – es bleibt offen. »Man kann nicht hierzulande die Armutsprobleme der Welt lösen«, weiß der zuständige Minister Thomas de Maizière – für ihn kommen die Asylsuchenden nur aus finanzieller Not. Im Programmheft einige Stimmen von Flüchtlingen, die oft aus dem Grenzgebiet von Pakistan und Afghanistan stammen. Sohil Khan spitzt es zu: »Wir mußten entweder für die Taliban oder für die Regierung kämpfen. Aber ich wollte für niemanden kämpfen.« Da hat er seine Heimat verlassen. Die Flüchtlinge dürfen in Deutschland grundsätzlich keine Arbeit aufnehmen. Auch nicht auf der Bühne als Darsteller ihrer selbst. Man fand die Zwischenlösung, sie ehrenamtlich gegen eine Aufwandsentschädigung auftreten zu lassen. Das Thalia-Theater lädt das Publikum ein, nach jeder Aufführung an Gesprächen teilzunehmen. Die Flüchtlinge agieren – wie in der griechischen Tragödie – als Chor oder erheben einzeln ihre Stimme auf dem kreisrunden Bildschirm in holprigem Englisch oder übersetzt. Ihre Einzelschicksale sind es, die sich im Kopf festsetzen – nicht aber der Text von Elfriede Jelinek. Ihre Sprachspielereien verwehen im Raum, wirken oft komisch, manchmal entlarvend. Eine Frage beschäftigte die Schauspieler: Wie können sie als weiße – unbeteiligte – Europäer die Probleme der meist schwarzen Flüchtlinge darstellen? Wer vertritt hier wen? Und wer spricht? Wann wechselt die Perspektive? Der Satz: »Wir sprechen ihre Sprache leider nicht« – die Zuschauer quittieren ihn mit bitterem Beifall. »Wo ist denn der Dolmetscher?« Es ist den Asylsuchenden verwehrt, offiziell die Landessprache zu erlernen, denn, ein Satz, der wiederkehrt: »Die gehören nicht hierher.« Ein weißer Schauspieler schwärzt auch mal sein Gesicht, es werden Masken aufgesetzt, ein Bart umgehängt. Das Dilemma: Wir sind nicht dieses Wir, das Jelineks Text suggeriert. Wenn die weißen Schauspieler die Äußerungen (aus einer Umfrage) von Bewohnern Hamburg-Pöseldorfs zu einem dort nebenan geplanten Flüchtlingsheim wiedergeben, beginnt die Scham. »Wo sollen die denn einkaufen? Die können die Preise ja gar nicht bezahlen. Wissen Sie, Gäste versorgt man gern, aber…« Und das Schild: »Wir sind Lampedusa« – längst umgedreht, zeigt: »Wir sind Pöseldorf.« Die Hoffnung der Flüchtlinge auf das Kirchenasyl – ins Bild gesetzt durch einen großen herabschwebenden Christus am Kreuz. Doch nur kurz, er wird wieder hochgezogen vor das Auge Gottes. Auf der Videoscheibe versuchen viele Hände nach ihm zu greifen. Von oben kommen Pakete gepurzelt. Es sind keine Goldstücke darin: Kleider. Overalls, die alle gleich machen. Der Satz: »Wenn wir keine Würde haben, sind wir keine Menschen mehr«, symbolisiert durch überdimensionale Dinge. Einer kommt: »Hallo, ich bin das Handy«. Oder: »Ich bin das Ölfaß«. Albern? Die Bewohner, auf die kostbaren Rohstoffe ihrer Herkunftsländer reduziert. Die sind begehrt, die Menschen nicht. Kritik an Künstlern, Selbstkritik der Schauspieler? Sie kleiden sich in Abendkleider. Einer singt ein Lied, als wär´s von Schubert, am Flügel begleitet: »Unser kleines Boot«, ergreifend. Er wird durch einen der Flüchtlinge gestört, der einen Schlafplatz sucht. Der Künstler: »Du, warte mal kurz«, will erst seinen Gesang beenden. Alle: »Wir aber sind Gezeichnete, vom Meerwasser gezeichnete.« Sie liegen am Boden wie schlafend oder tot. Gläser mit Kerzen werden neben jeden gestellt – wie Grablichte. Auf einen hellblauen Vorhang projiziert: ein Meer mit hohen Wellen, ein überfülltes Schlauchboot. Jemand im Abendkleid, pathetisch: »Lasset die Kindlein zu mir kommen.« Auf dem Video: Särge, Kindersärge. Dazu Elfriede Jelinek: »Auf den Sarg setzen wir ein kleines Bärli drauf.« Wir sehen genau das und nicht nur einen Sarg. Der Vorhang weg. Alle kommen mit Stühlen, sagen ihren Namen, ihre Herkunft. »We are here.« Sie schwingen die Fäuste. Sie leben. »Viel mehr ist´s auch nicht – es ist gar nichts mehr.« Am Ende stehen die Stühle leer auf der Bühne, darüber hängen die Overalls, leer.
Erschienen in Ossietzky 20/2014 |
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