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Der Erste Minister Schottlands wiederum, Alex Salmond, der seine seit 307 Jahren ins Vereinigte Königreich integrierte Heimat in die Unabhängigkeit führen wollte, akzeptierte Volkes Willen, verlangte von der britischen Regierung jedoch mehr Macht und Kompetenzen für Schottland. »Nie wieder darf Politik so sein wie bisher«, stellte Salmond klar. Es ist bereits das zweite Mal, daß die für Autonomie eintretende Scottish National Party (SNP) bei einem Referendum den kürzeren zog. Bereits nachdem das britische Parlament 1978 mit einer knappen Mehrheit den »Scotland Act« beschlossen hatte, der die Schaffung eines schottischen Parlamentes vorsah, war bei der anschließenden Volksabstimmung 1979 auch aufgrund wahltechnischer Besonderheiten keine Mehrheit dafür zustande gekommen. (Weil die Wahlbeteiligung lediglich 63 Prozent betrug, wurde die Zustimmungsquote der Wahlberechtigten mit 33 Prozent veranschlagt, was damals für heftigen Unmut sorgte.) Immerhin, am 11. September 1997 ließ der britische Premier Tony Blair erneut ein Referendum in Schottland abhalten und löste damit eines der Wahlversprechen der Labour Party ein. Bei dieser Befragung ging es allerdings nicht um staatliche Autonomie, sondern um die Etablierung eines Regionalparlaments mit eingeschränkten Befugnissen. Die Abstimmenden sprachen sich mehrheitlich dafür aus. Seit 1999 hat das Regionalparlament in Edinburgh die Berechtigung, die Grundsteuersätze der Einkommensteuer abzuändern sowie bestimmte Weichenstellungen in den Bereichen Erziehungs-, Gesundheits- und Rechtssystem vorzunehmen. Die wesentlichen Entscheidungsbefugnisse zur Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung, zur Innen-, Außen- und EU-Politik liegen allerdings nach wie vor im fernen London. Inwieweit sich die parlamentarischen Kräfteverhältnisse in nächster Zukunft verschieben lassen können, bleibt abzuwarten. Absehbar ist, daß in Großbritannien eine Art föderale Strukturreform vorgenommen wird, die das Selbstbestimmungsrecht der Schotten, Waliser und Nordiren relativ stärken dürfte. Das Ziel der Scottish National Party und anderer kleinerer Parteien, aus Schottland ein autonomes Staatsgebilde zu machen, ist damit allerdings noch nicht vom Tisch. Was im Trubel, Jubel und Wehklagen am Tag nach dem Referendum etwas unterging, war der Befund des Präsidenten des EU-Parlaments, Martin Schulz. Unter Verweis auf die Autonomiebestrebungen in Katalonien, Flandern und Südtirol betonte er, es hänge viel davon ab, was fortan geschehe. Wenn Schottland unter dem Dach des Vereinigten Königreichs eine vernünftige Selbstbestimmung erhalte, könne daraus »ein Modell werden, das auch zur Befriedung in anderen Regionen beitragen kann«. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bezeichnete das Votum gegen die Loslösung von Großbritannien vollmundig als gutes Ergebnis für »ein vereintes, offenes und stärkeres Europa«. Was er damit meinte, liegt auf der Hand. Bei einem Ja der Schotten hätten die Kommission, der (Minister-)Rat und die Regierungschefs der Mitgliedstaaten Entscheidungen treffen müssen, die auf eine Zerreißprobe des ohnehin alles andere als einigen und starken EU-Gebildes hinausgelaufen wären. Und das zu Zeiten einer Wirtschaftskrise, die die Menschen in einem großen Teil Unionseuropas in Armut und Verzweiflung treibt. Grundsätzlich sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß sämtliche EU-Mitgliedstaaten große Teile ihrer herkömmlich souveränen, rechtlichen, wirtschaftlichen und damit auch sozialpolitischen Gestaltungsmacht längst eingebüßt haben. Sie operieren im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, deren Rechtsetzung und deren Überwachung durch die »Hegemonie der technokratisch-expertokratischen Regimeform«, sprich durch EU-Kommission und Europäischen Gerichtshof, erfolgt. Vom überwölbenden Rahmen der globalisierten Welt- und Finanzwirtschaft und ihrer Institutionen ganz zu schweigen. Was die Mitgliedstaaten nach wie vor in den Grundfesten hält und von der EU abhebt, ist ihre jeweilige politische Verfassung. Allerdings verringert sich die von den einzelstaatlichen Verfassungen vorgesehene Interventions- und Regulierungsmacht im Namen und zum Wohle des jeweiligen Volkes seit Jahren spürbar – sowohl im Hinblick auf den seit 2009 gültigen Lissabonner EU-Vertrag als auch angesichts der seitdem im Rahmen der harschen Austeritätspolitik zusätzlich geschlossenen multilateralen völkerrechtlichen Verträge und Pakte. Fakt ist seit dem 18. September: Die EU hat weiterhin einen Mitgliedstaat, der unter Vereinigtes Königreich firmiert und in dem Bewohner leben, die sich je nach Region oder Herkunft als Engländer, Nordiren, Schotten und Waliser verstehen. Bei Qualifikationsspielen für die Teilnahme an der nächsten Fußball-Europameisterschaft zum Beispiel treten England, Nordirland, Schottland und Wales bezeichnenderweise als quasi eigenständige Nationen auf. Einschlägige nationalistische Töne in den Fanblöcken inbegriffen. Und das heißt auch: Das Vereinigte Königreich gehört weiterhin zusammen mit Belgien, Italien und Spanien zu den etablierten EU-Mitgliedstaaten, die tendenziell von regionalen Abspaltungen bedroht sind beziehungsweise bleiben. Die EU wiederum ist auch noch nicht aus dem Schneider, denn sollte sich die britische Regierung 2017 tatsächlich dazu entscheiden, die Bevölkerung wie angekündigt über einen Ausstieg aus der Union abstimmen zu lassen, droht neues politisches Hauen und Stechen. Wobei im Falle einer Zustimmung zum Austritt auch die schottische Region aus der EU draußen wäre, obwohl die SNP die Mitgliedschaft in der EU wünscht. Allerdings nach britischem Verständnis – am Pfund Sterling wollte und will die schottische politische Klasse festhalten, obwohl für die EU-Mitgliedstaaten der Euro als gemeinsame Währung eigentlich zwingend vorgeschrieben ist. (Großbritannien und Dänemark genießen einen vertraglichen Sonderstatus.) Der Wunsch größerer Bevölkerungsgruppen in Schottland und anderswo nach Autonomie wird vielleicht verständlicher und das damit einhergehende nationalistische Gehabe und Getöse etwas irrelevanter, wenn sich der Blick auf die jeweiligen Lebensverhältnisse und wirtschaftlichen Gegebenheiten richtet. Daß zum Beispiel in Glasgow, der größten Stadt Schottlands, eine Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmte, dürfte nicht zuletzt einen Grund haben: Die von Camerons Regierung durchgesetzten Sparmaßnahmen, Stellen- und Sozialkürzungen treffen nicht nur in England oder Wales viele Menschen extrem hart. In Glasgow lebt derzeit fast ein Viertel der Kinder in Armut, und die Bürgerinnen und Bürger klagen, die Regierung in London lasse Schottland wirtschaftlich zugrunde gehen, obwohl die Ölquellen vor ihrer Küste reichlich sprudeln. In Großbritannien wie auch in anderen EU-Mitgliedstaaten wird in den nächsten Jahren der Ruf von regional formierten Identitäts- und Wirtschaftsgemeinschaften nach Autonomierechten beziehungsweise dem Schutz vor einer Dauermajorisierung durch Zentralregierungen und EU-Kommission wohl eher zu- als abnehmen. So gesehen gibt es keinen Grund, den gerade gescheiterten Autonomiewunsch eines durchaus großen Teils der schottischen Bevölkerung nicht als das zu sehen, was er – auch – ist: die Einforderung von sozialer Gerechtigkeit. (In Belgien zum Beispiel streben die Flamen das Gegenteil an: Sie wollen den Wallonen weniger wirtschaftliche Hilfe als bisher zukommen lassen.) Zunächst einmal aber müssen sich die vom teils heftigen Pro-und-contra-Austausch vor dem Referendum erhitzten Gemüter in Schottland wieder beruhigen. Vielleicht hilft – etwa im Pub – das gemeinsame Singen des Lieds »Auld Lang Syne«, das seit dem 19. Jahrhundert zur, wohlgemerkt, britischen Tradition gehört. Geschrieben wurde es von keinem Geringeren als Robert Burns (1759–1796), dem neben Walter Scott größten und nach wie vor hoch verehrten schottischen Dichter und Verfasser politischer Texte. (Der Text von Burns basiert auf der 1711 publizierten Ballade »Old Long Syne« von James Watson.) Die erste Strophe und der Refrain klingen in deutscher Sprache so: Sollte alte Vertrautheit vergessen sein Refrain:
Erschienen in Ossietzky 20/2014 |
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