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Schon seit Monaten wandern im grünen Parteirevier allerlei Papiere herum, die dem Leitbegriff »Freiheit« Substanz verleihen sollen. Offenbar fällt es dabei schwer, über semantische Übungen hinauszukommen, aber ein Signal ist unverkennbar: Die Grünen wollen Sympathie auch für unternehmerische Freiheiten zeigen, was immer sie darunter verstehen mögen. Diese Partei werde nun erfreulicherweise »marktliberal«, liest man in der wirtschaftsnahen Presse; vielleicht könne sie demnächst den Abstieg der FDP kompensieren. Selbstverständlich werden die Grünen sich weiterhin zur ökologischen Politik bekennen, aber die ist nicht durchgesetzt mit der Freiheit zur Wahl des Energieanbieters. Auch warnen die »Freiheits«-Grünen vor »Datensammelwut«. Doch wie soll die Macht der IT-Konzerne gebrochen werden? Der »Markt« wird das nicht richten. Gesellschaftsreformerische Absichten hat die Partei – an den Vorarbeiten für den »Freiheitskongreß« ist das zu erkennen – hinter sich gelassen. Für ihre Stammanhängerschaft ist das kein Problem, die ist zwar nicht reich, aber gut betucht und materiell abgesichert. Eine grüne Partei mit zunehmend gelber Einfärbung – eine ideale Juniorpartnerin für eine schwarz geführte Bundesregierung, im Wartestand. P. S. Andere Welt»Mehr Geld für Hartz-IV-Bezieher« meldet die F.A.Z. und erklärt auch, wie es dazu kommt: Die allgemeine Lohnentwicklung sowie die Preisentwicklung des statistischen »Warenkorbs« werden berücksichtigt. Und was die Arbeitslosen den Staat kosten, weiß die F.A.Z. auch zu berichten – 19,5 Milliarden muß er in diesem Jahr für das ALG II ausgeben ... Das »Mehrgeld« jetzt beträgt acht Euro pro Monat. Welchen Luxus sollen die Empfänger sich davon leisten? Eine Möglichkeit: Dreimal monatlich eine Ausgabe des Frankfurter Blattes erwerben, um einen Blick in eine andere Welt zu tun. Dann bleibt noch so viel übrig, um eine Flasche Milch zu erwerben. Deren Genuß soll ja beruhigend wirken. M. W. GleichheiterkeitNach Grundgesetz Art. 3 sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Im Gesundheitswesen gibt es sogar zwei verschiedene Formen der Gleichheit: die Zweiklassenmedizin, dargestellt durch die gesetzlich und die privat Versicherten. Karl Lauterbach führt das in seinem Buch »Der Zweiklassenstaat« sehr einprägsam aus. Nach einer Erste-Seite-Meldung der Leipziger Volkszeitung unter der Balkenüberschrift »Leipziger Edelklinik für Scheichs« bekommt Leipzig »ein neues Medizinisches Zentrum, das vor allem für betuchte Patienten aus dem arabischen Raum und aus Rußland gedacht ist«. So beseitigt man das als ungerecht empfundene Zweiklassensystem durch die Einführung einer dritten Klasse. Günter Krone Bitte korrektAuf der Titelseite der Heilbronner Stimme erschien ein propagandistisches Foto. Unter der Überschrift »Von der Leyen: Notfalls auch deutsche Waffen für den Irak« zeigte es die Verteidigungsministerin auf dem NATO-Flughafen Hohn in Alt Duvenstedt. Mit strategisch-visionärem Weitblick schaut die oberste Feldfrau auf die in der Ferne liegenden Schlachtfelder. Vor einem wolkenverhangenen Himmel wartet das schwarze Militärflugzeug auf den Startbefehl. »Jetzt ist es freilich auch an der Zeit, daß die Bundesregierung aus Gründen der Ehrlichkeit das Verteidigungsministerium in Kriegsministerium umbenennt«, schrieb ich in einem Leserbrief an die Heilbronner Stimme. Die Rückmeldung erfolgte prompt. »Leider wurde Ihre Leserzuschrift von der Chefredaktion abgelehnt«, schrieb ein »auszubildender Medienkaufmann«, da sie »zu polemisch ist« und »somit nicht veröffentlicht werden« kann. Ich schrieb daraufhin an den Chefredakteur: »Wenn eine Armee nicht allein der Verteidigung dient, sondern auch in Kriegseinsätze geschickt wird, dann ist die zuständige Ministerin logischerweise eine Kriegs- und nicht mehr nur eine Verteidigungsministerin.« Der Chefredakteur antwortete: »Eine Verteidigungsministerin kann in unserer Zeitung nicht als Kriegsministerin bezeichnet werden. Das widerspricht unseren journalistischen Grundsätzen.« Inwiefern diese Aussage den »journalistischen Grundsätzen« der Heilbronner Stimme widersprechen soll, leuchtete mir nicht ein. Ich erinnerte den Chefredakteur an die Zeit, als der ehemalige Doktor Guttenberg Deutschland als Verteidigungsminister diente: »Damals wurde nämlich darüber gestritten, ob man die Entsendung von Bundeswehrsoldaten in Kampfgebiete als Kriegseinsätze bezeichnen könne. Inzwischen hat sich in diesem Fall die korrekte Bezeichnung durchgesetzt.« Erhard Jöst Blutiges GeschäftLauthals klagt seit längerem die deutsche Rüstungsbranche, die Auftragslage sei nicht zufriedenstellend, der Verkauf im Inland zu schwach, der Export ins Ausland müsse dringend gesteigert, die Ausfuhrgenehmigung lockerer gehandhabt werden. Sonst drohe weiterer Abbau von Arbeitsplätzen, und die Bundesrepublik verliere ihre technologischen Fähigkeiten. (Von den Profiten ist bei öffentlichen Auftritten nicht die Rede.) Tatsächlich aber hält Deutschland ungebrochen den dritten Rang weltweit als Exportnation für Militär-»Güter«. Und die hiesige Waffenindustrie kann guter Laune sein: Die deutsche Regierung liefert mit dem Segen des Bundestages nun endlich ganz direkt auch Rüstungsartikel in ein »Spannungsgebiet«. Die Bundeswehr wird so ihre Altbestände los, und Neubestellungen stehen dann an. Ein »Tabu« sei beiseite geräumt, freut sich die Bundesministerin für »Verteidigung«; zu ihren Funktionen gehört ja der Schutz von Interessen des Rüstungskapitals. Der »Islamische Staat« erweist sich so als Helfer für eine deutsche Wirtschaftsbranche; »Spannungsgebiete« werden weiterhin expandieren und den Anlaß bieten für eine »humanitäre« Zulieferung von Waffen. Schon wird gefordert, militärisches Gerät auch nach Kiew zu liefern. Und erst der Ausbau der NATO gen Osten – schöne Zeiten bahnen sich an für diejenigen, die aus dem blutigen Geschäft Gewinn ziehen. A. K. DeichbauerDeutsche Politiker, voran der Bundes-innenminister, wollen die »Asylantenflut« eindämmen, weitere Balkanländer sollen zu »sicheren« Staaten erklärt werden, so daß Flüchtlinge von dort keinen Eintritt in die Bundesrepublik erhalten und einen Antrag auf Gewährung von Asyl erst gar nicht stellen können. Diese gesetzgeberische Absicht richtet sich vor allem gegen jene Menschen, die der deutsche Volksmund Zigeuner nennt. Nun gibt es in dieser Sache noch Einwände auch in den Reihen der regierenden SPD und der regierungswilligen Grünen. Wie räumt man sie meinungsmachend aus? Die F.A.Z. weiß es. Auf einer ganzen Seite stellt sie den Unmut dar, den im sächsischen Bautzen der Plan erzeugt hat, 150 Flüchtlinge in einem nicht mehr genutzten ehemaligen Nobelhotel unterzubringen. Und wie daraus bei der Landtagswahl lokal die NPD (10,9 Prozent ) und die AfD (14,8 Prozent der abgegebenen Stimmen) ihren Nutzen gezogen haben. Also muß aufklärend etwas getan werden gegen rassistische Stimmungen? Ach was, der Politikredakteur des Intelligenzblattes hat eine andere Lösung anzubieten: Die »Gralshüter von Solidarität und Humanismus«, wie er Befürworter einer aufgeschlossenen Flüchtlingspolitik abschätzig kennzeichnet, sollen endlich von ihrer Kritik an der Verschärfung des Asylrechts ablassen. Dann könnten auch Wähler »rechtspopulistischer« Angebote wieder für die staatstragenden Parteien zurückgewonnen werden, kalkuliert er. Rassismus, so ist zu ergänzen, läßt sich doch auch bei ihnen unterbringen. M. W. NebenherImmer mal wieder mokiert sich jemand darüber, daß zahlreiche Bundestagsabgeordnete Nebeneinkünfte haben, »Nebenverdiener im Bundestag« titelt Spiegel online und schreibt: »Gauweiler kratzt an der Millionen-Euro-Grenze«. Die Liste mit den Namen der Abgeordneten, die nicht nur das Volk sondern auch andere Geldgeber vertreten, ist stattlich. Ich habe mich jetzt mit ein paar von den Stühlen unterhalten, die während der Bundestagssitzungen im Plenarsaal immer leer bleiben. Die staunten über die Debatte. Sie hatten bisher immer gedacht, die Diäten der Abgeordneten seien deren Nebeneinkünfte. Günter Krone SinnspruchDer Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn nimmt die Spitzenposition der »Einflußrangliste deutscher Ökonomen« ein, die von der F.A.Z. publiziert wird. Politisch wirken will er, nicht nur forschen; seine erklärte Devise: »Der Betriebswirt dient dem Betrieb, der Volkswirt dem Volk.« So hat denn alles seine betriebs- und volksgemeinschaftliche Ordnung, die Klassengesellschaft ist sinnig überwunden. P. S. Würde. Trotz Elend.Michael Glawoggers Dokumentarfilme wirken verstörend und bewegen sich nicht selten an der Grenze des Erträglichen. Doch nicht der Schrecken vor unbeschreiblichem Elend in den Randzonen kapitalistischer Verwertung allein ist es, der den Betrachter erfaßt. Der Regisseur zeigt die Komplexität menschlichen Lebens, Anmut und Würde inmitten des Grauens. Der spezifische Kamerablick Glawoggers ist als Spurensuche nach »dem Schönen im Schrecklichen« beschrieben worden. Wer mit Glawogger in die irdischen Höllen hinabgestiegen ist, in Mexico City, Brooklyn, Bangladesch oder Mumbai, wird die Bilder nicht wieder los. Gemeint sind Szenen wie die von Shankar in dem Film »Megacities« (1998). Shankar lebt im Elendsviertel der – geschätzt – 17-Millionen-Metropole Mumbai und faltet Luftballons. Dann erwirbt er ein urtümlich anmutendes Bioskop, auf dem er den in Scharen herbeiströmenden Slumkindern alte, immer wieder zusammengeflickte Tanzfilme zeigt. In »Workingman’s Death« (2005) wird eine Episode aus Pakistan erzählt, von paschtunischen Schweißern in traditioneller Gewandung, die fernab ihrer Familien riesige Schiffswracks zerlegen – lukrativ für die Reedereien, die Umweltauflagen umgehen und hohe Entsorgungskosten sparen. In Anbetracht der lebensgefährlichen Arbeit üben die Männer untereinander Solidarität. Am Schluß der Episode entrollt ein Arbeiter in schwindelerregender Höhe auf dem Deck eines zur Hälfte demontierten Öltankers einen Teppich für das Abendgebet. »Stadt der Freude«, Thema in dem Film »Whores’ Glory« (2011), ist der Name eines gefängnisartigen Bordells in Bangladesch, in dem auf extrem beengtem Raum 800 Frauen als »Sexarbeiterinnen« leben. Der ganze Betrieb funktioniert kreditfinanziert, und die Geldeintreiber sind erbarmungslos. Immer neue junge Mädchen werden von der Puffmutter eingekauft. Als Gegenleistung müssen sie ihren »sicheren« Aufenthalt »abarbeiten«. Der Zusammenhalt unter den Frauen ist groß. Nach dem Ende des regelmäßigen Stromausfalls sieht man Freudentänze aufführende Prostituierte – sie feiern ein wenig Licht in der allseitigen Finsternis. Am 22. April 2014 starb der vielfach ausgezeichnete österreichische Filmregisseur, Kameramann, Drehbuchautor und Essayist Michael Glawogger im Alter von 54 Jahren an Malaria während der Dreharbeiten in Liberia zu seinem Projekt »Untitled – Der Film ohne Namen«. Freunde haben zu seinem Andenken ein Musikvideo nach einem Gedicht Glawoggers zum unbeschränkten Download auf YouTube mit dem Titel »Where We Meet« veröffentlicht. Dort kann man sich auch die Filme »Megacities« und »Workingman’s Death« ansehen. Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Online-Ausgabe einen Doku-Blog mit Texten von Michael Glawogger eingerichtet: www.sueddeutsche.de/thema/Doku-Blog Carsten Schmitt Parteinahme im NahostkonfliktFür Henning Venske (Ossietzky 18/14) besteht der Nahostkonflikt lediglich aus subjektiven Gefühlen, »Unversöhnlichkeit«, »Mahnungen«, »Schuldzuweisungen«. Besatzung und Belagerung, Landraub, ethnische Säuberung fallen bei ihm offensichtlich unter diese Rubriken. Er spricht zwar auch von Toten, aber die Zahl und Proportion (1723 palästinensische und drei israelische Zivilisten) nennt er erst gar nicht. Wie selbstverständlich projiziert Venske den Nazi-Antisemitismus auf Palästinenser. Er will dem Palästinenser nicht sagen, daß Heine Jude war. Wieso nicht? Nimmt er an, daß Palästinenser grundsätzlich judenfeindlich seien? Kommt ihm nicht in den Sinn, daß Palästinenser vielleicht ein Problem mit Israelis haben, nicht weil die regierenden Israelis Juden sind, sondern weil Israel seit Jahrzehnten die Palästinenser systematisch vertreibt, ihr Land besetzt, Tausende massakriert hat? Henning Venske behauptet, er würde »nie wieder in einer politischen Diskussion über den sogenannten Nah-Ost-Konflikt Partei« ergreifen. Ein »sogenannter« Konflikt? Bilden sich die Palästinenser nur irgendwelche Probleme ein? Keine Partei zu ergreifen zwischen Besatzern und Besetzten ist Duldung des Unrechts. Es ist dann eben doch Parteinahme für die israelische Politik und gegen das Recht der Palästinenser, in Freiheit, Frieden und Würde zu leben. Wer die israelische Unrechtspolitik mit Judentum verwechselt und deshalb schweigt, der ist »nicht frei von antisemitischen Gefühlen«, denn »nur jemand, der Juden als völlig gleichwertige Mitmenschen betrachtet, kann gegenüber ihnen auch berechtigte Kritik äußern« (Avraham Burg). Es ist fortgesetzte »Sonderbehandlung der Juden« heute »mit umgekehrtem Vorzeichen« (Uri Avnery). Es ist Parteinahme auch gegen all jene Juden, die sich gegen die politische Instrumentalisierung des Holocaust wehren, die nicht nur die Verbrechen am palästinensischen Volk rechtfertigen, sondern auch Kritik am israelischen Nationalchauvinismus und seiner völkischen Politik verhindern soll. Doris Pumphrey Absurde UnterstellungenEs passiert nicht alle Tage, daß sich ein Rezensent lobend über ein Buch äußert, an dessen Zustandekommen er maßgeblich beteiligt war Da runzelt jeder die Stirn, weil das nach Eigenlob riecht. Andererseits hat Eigenlob den Vorteil, meint der englische Satiriker Samuel Butler der Ältere, daß man dick und genau an der richtigen Stelle auftragen kann. Vielleicht meinte das auch der Archivar des Fritz-Bauer-Instituts, Werner Renz, als er für die Nassauischen Annalen (Band 125, 2014) eine Lobeshymne über die Fritz-Bauer-Biografie von Ronen Steinke verfaßte, dessen Danksagung er in aller Bescheidenheit unter den Tisch fallen läßt. »Mein Dank gilt dem Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main, das mir den Status eines Gastwissenschaftlers mit allen dazugehörigen fachlichen und technischen Hilfestellungen freundschaftlich gewährt hat. Allen voran Werner Renz, sachkundig und zu meinem Glück auch großzügig.« Geradezu wohltuend sei es, meint Werner Renz, daß Steinke sich nicht in Verehrung mit Fritz Bauer beschäftige, sondern daß er ihn als Journalist und Jurist aus Fachinteresse zum Gegenstand eines Buches gemacht habe. Der Autor scheue nicht davor zurück, tradierte Tabus zu brechen. So frage er nach Bauers Judentum. In seinen Studienjahren sei Bauer aktives Mitglied einer vorwiegend von Studenten jüdischer Herkunft gebildeten Verbindung gewesen. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil (1949) habe er sich, wie Steinke darlege, aber entjudaisiert. Im Wissen um die antisemitischen Ressentiments der Deutschen habe Bauer nach der überzeugenden Deutung des Autors »seine Herkunft meist sekretiert«, also verheimlicht. Er habe Anerkennung durch die Deutschen gesucht, weil er sich Einflußnahme und Überzeugungskraft nur versprach, wenn es zwischen ihm und den vormaligen Gefolgsleuten Adolf Hitlers keine Fremdheit, kein Anderssein gab. Steinke zufolge habe sich Bauer entschieden, »von allem Jüdischen Abstand zu nehmen, um dafür wenigstens als Deutscher voll anerkannt zu werden«. Was für Unterstellungen! Fritz Bauer hatte es nicht nötig, zu täuschen und zu tricksen, er wollte sich nicht bei den alten Gefolgsleuten Hitlers anbiedern. Er entstammte einer assimilierten jüdischen Familie. Nach seinen eigenen Worten war er nur nach den Rassegesetzen Jude. Verfolgt und ins KZ gesperrt wurde er 1933 als Sozialdemokrat. Aus dem Richteramt wurde er 1933 aufgrund seiner politischen Betätigung entlassen. Bei der Rückkehr aus dem Exil hat er sich als politisch Verfolgter bezeichnet. Ihm nachzusagen, er habe, um als Deutscher voll anerkannt zu werden, von allem Jüdischen Abstand genommen, ist absurd. Fritz Bauer dachte nicht in den Kategorien des Parteiprogramms der NSDAP von 1920, das unter Punkt 4 bestimmte: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.« Daß in Deutschland so über Fritz Bauer geschrieben werden kann, ohne daß sich dagegen vernehmbarer Widerstand regt, ist beschämend. Conrad Taler Werner LierschEr hatte die Achtzig hinter sich und war erstaunlich gut zu Fuß und im Kopf; ein drahtiger Mann, immer gern bei einer Widerrede; man merkte nichts von Altersschwäche. So kam die Nachricht seines Todes am 23. August doch plötzlich. Werner Liersch war Berliner und Literat im besten Sinne: Erzähler und Essayist, Lektor und Kritiker, Herausgeber, Förderer junger Autoren und Kenner vieler Schriftstellergeschichten. Im PEN der DDR und später dem gesamtdeutschen Zentrum war seine Stimme markant. Lierschs Fallada-Biografie von 1981 ist noch immer ein Standardwerk. Ende der Achtziger war es zudem ein Ereignis, wenn ein DDR-Schriftsteller Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis sein konnte. Ab 1990 leitete Liersch die Zeitschrift neue deutsche literatur. Das hatte einen hübschen Doppelsinn, der nicht lange anhielt; Liersch wurde vom Aufbau-Großverleger rausgeschmissen, der Rausgeschmissene war nicht unschuldig. Lierschs Enthüllungen 2008 zu Erwin Strittmatters Kriegs-Vergangenheit brachten ihn ins Sensations-Feuilleton, Liersch verbiß sich in Strittmatter als persönlichen Gegner und verlor manchen Freund. Werner war von scharfem Urteil, witzig und uneinsichtig; ich saß gern mit ihm beisammen. Im April besuchte ich ihn letztmalig in seiner Wohnung in der Neuen Krugallee. Er zeigte mir Hinterlassenschaften seines Vaters: Da müßte man was draus machen. Anfang August sprachen wir am Telefon über das einstige Schriftstellerheim Petzow; er wollte zunächst nach Österreich, dann müßte doch die Petzow-Geschichte mal begonnen werden. Für die gibt es inzwischen allerlei Mitstreiter. Zu seinen »Geschichten aus dem Antiquariat« schrieb ich 2004: »Wenn erfahrene und gesellige Autoren aus ihrem Leben erzählen, will man sie immer anstoßen: Das mußt du aufschreiben! Liersch hat mit diesem Büchlein einen guten Anfang für sich gemacht: Wir lesen quasi mit aufgesperrten Augen und Ohren von einer Zeit, da alles klar schien, da neu begonnen wurde und diese Welt dann doch aus vielen Fugen geriet. Krieg und Nachkrieg, die Zensurfälle einer rechthaberischen Kulturpolitik; Bücher-Schicksale und Menschen-Leben …« Sein letztes Buch hieß »Stille finden – Brandenburg im Gedicht.« Werner Liersch findet seine Ruhe am 19. September auf dem Friedhof im märkischen Kolberg. Matthias Biskupek Mutter und TochterBinnen vier Wochen schrieb Christa Wolf im Januar 1971 einen Text, der nun erschienen ist. Da erzählt eine Ich-Erzählerin von der Flucht 1945 aus Landsberg an der Warthe. Sie war damals 15 Jahre alt, eine kluge Beobachterin ihrer Umgebung, aufgeweckte Schülerin, brave Tochter. In der Familie dominiert die Mutter. Diese geht voll auf in der Sorge um die Familie, obwohl sie doch auch noch andere Träume hatte. Als könnte sie damit die Ihren davor bewahren, spricht sie nicht von der bevorstehenden Flucht, bis doch alle mit gepackten Sachen auf dem Wagen sitzen und nur sie noch einmal absteigt. Fünf Jahre später erschien Christa Wolfs Roman »Kindheitsmuster« (1976), und die meisten Episoden, Familienbegebenheiten und die Personage kennt man von da. Im frühen Text suchte die Autorin erst einmal nach einer Erzählform, die das Erlebte erzählbar macht, als Normalität von damals, aus der Sicht von der Schwelle zum Erwachsensein – naiv und frühreif, kindlich und wissend. Da fehlen noch die späteren Überlegungen, wann das Ich der Gegenwart das Vergangene nur in der dritten Person wiederzugeben vermag, da hat noch keine Reise mit der Familie ins heutige Gorzów stattgefunden, und der Leser weiß nicht, wie alt die Erzählerin beim Schreiben ist. »Kindheitsmuster« ist reicher, problematischer, komplexer, aber in »Nachruf auf Lebende« wird erzählt – fast sprudelnd, ganz unverstellt – Lebensdetails, Familienanekdoten, Schul-erlebnisse. Dabei zeichnet Christa Wolf ein Mutterporträt und eine Mutter-Tochter-Beziehung, die im späteren Roman nur noch angedeutet werden. So entstand ein sensibler, liebevoller Nachruf (Christa Wolfs Mutter starb 1968) auf eine Frau, wie es sie in dieser Müttergeneration viele gab. Christel Berger Christa Wolf: »Nachruf auf Lebende. Die Flucht«, Suhrkamp Taschenbuch. 106 Seiten, 12 € Sonne und Wolkenwechseln sich am Nachmittag des 25. August ab. Ein Wetter wie das Leben. Das hätte Eva Kemlein gefallen. Um ein Mikrofon vor dem Hauseingang Steinrückweg 7 in der Künstlerkolonie Berlin stehen gut 50 Leute – Freunde, Wegbegleiter, Bewunderer – und spüren dem Leben und Wirken der Berliner Fotojournalistin nach, zu deren Ehren nun eine Berliner Gedenktafel enthüllt wird. Auf eine unbeschwerte Jugend in einem links-liberalen bürgerlichen Elternhaus und eine abenteuerliche Zeit als Fotoreporterin an der Seite von Herbert Kemlein in Griechenland folgen Scheidung, Ausweisung aus Griechenland und Jahre in der Illegalität, nachdem die Jüdin und Kommunistin Eva Kemlein am 11. August 1942 die Aufforderung zum Transport in den Tod erhalten hat: Mehr als 30 Mal wechseln Eva Kemlein und ihr Lebensgefährte, der Schauspieler Werner Stein, bis zum Kriegsende in Berlin ihr Quartier. Etliche heikle, lebensbedrohende Momente halten sie nicht davon ab, den Faschisten die Stirn zu bieten, politischen Widerstand zu leisten, Flugblätter herzustellen und zu verteilen. Kemlein und Stein haben gute Freunde und viel Glück. Sie überleben. Eine Leica, die einzige Habe, von der sich Eva Kemlein auch in den Jahren im Untergrund nicht trennt, wird der Grundstock für die Zukunft. Schon in der zweiten Ausgabe der Berliner Zeitung erscheint am 22. Mai 1945 ein von Eva Kemlein aufgenommenes Foto. Die Reporterin radelt durch die zerstörte Stadt und fotografiert die Aufbauarbeiten; die Fotos entwickelt sie zunächst in einem Schrank, vor dem der spätere Theaterkritiker Fritz Erpenbeck Wache schiebt, um zu verhindern, daß unverhofft ein Besucher der Redaktion die Schranktüren öffnet und die Bilder mißglücken. Die waschechte Berlinerin dokumentiert Berliner Nachkriegsgeschichte, die Trümmerfrauen, die rückkehrenden Männer der »siegreichen Hitlerarmee«, den Schwarzmarkt. Sie gehört zu einem Team, das den Abriß des Berliner Stadtschlosses mit dem Fotoapparat begleitet, jeden Raum, jede Rosette, jede Putte ablichtet. Ab den 1950er Jahren verschreibt sich die Fotojournalistin dem Theater. Kemleins Schwarzweißaufnahmen zahlloser, zum Teil legendärer Inszenierungen werden selbst legendär. Die Berliner Gedenktafeln machen »verborgene Geschichte sichtbar«, sagt die Staatssekretärin Hella Dunger-Löper während der Feierstunde zur Einweihung der Tafel für Eva Kemlein. Eva Kemlein hat mit kritisch-wachem Blick Berliner Geschichte auf Fotos festgehalten und sie so für uns bewahrt – Stadtgeschichte, Lebensgeschichten in Porträts, fünf Jahrzehnte Theatergeschichte. Mehr als 300.000 Negative überließ sie dem Berliner Museum. Katrin Kusche Literaturempfehlung: Eva Kemlein / Ingeborg Pietzsch: »Eva Kemlein. Ein Leben mit der Kamera«, Edition Hentrich, 116 Seiten, antiquarisch erhältlich Zuschrift an die LokalpresseLiebe Redaktion der Berliner Zeitung, ich finde es gut, daß Ihr außer der großen internationalen Politik, ich denke da an die Bedrohungen von Putin und an unsere Waffenhilfe für und gegen die Terroristen, auch über die kleinen Sachen des internationalen Lebens berichtet. So am letzten Wochenende über die Toilettenpapiersammlung in Japan und die Dirndlmode auf dem Oktoberfest. Vielen Dank, Euer Berni Nieselpriem (grade 67, Ihr könnt mir noch gratulieren), Rentner und Leser, 10318 Berlin Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 19/2014 |
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