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Ich brauchte Tage, um diesen erschütternden Eindruck einigermaßen zu verarbeiten. Der große arabisch-israelische Konflikt entlud sich im Libanon, und Israel und Palästina präsentierten sich 1984 in der gleichen Unversöhnlichkeit wie 2014: Auf Raketenangriffe folgen Militärschläge. Es gab Tote und Verletzte, Mahnungen und Schuldzuweisungen. Die einen wußten ganz genau, daß es an der Siedlungspolitik der Israelis lag, die anderen wußten, es lag am Terrorismus der Hamas. Und wer sich auf der einen Seite komfortabel eingerichtet hatte, fand auf der anderen ohne Problem auch den Beweis für seine/ihre Einseitigkeit. Als ich mich eines Nachmittags in Netanya in einem Café mit einem Bekannten unterhielt, kam eine alte Dame an unseren Tisch und lud uns ein, zu ihr und ihrem Gatten an den Tisch zu kommen, sie würden sich gerne mal wieder auf deutsch unterhalten. Sie erzählten, daß sie gleich nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 aus Berlin entkommen und nach Israel emigrieren konnten. Und dann fragten sie mich selbstverständlich, wie es mir in Israel gefällt. Ich antwortete, es sei ein sehr schönes, sehr abwechslungsreiches Land, und die Menschen seien alle überaus freundlich. Nur, sagte ich weiter, die vielen Bewaffneten überall – in den Verkehrsmitteln, in den Restaurants, im Kino, auf den Straßen, in der Hotelhalle – überall Soldaten und Soldatinnen mit schußbereiten Waffen – und da wurde ich sogleich unterbrochen: »Ja, ist das nicht beruhigend?« sagte der alte Herr, »das sind unsere wunderbaren jungen Leute, die uns beschützen«. Und die alte Dame fügte hinzu: »Damit uns nicht nochmal so etwas passiert wie damals – in Deutschland.« Da saß ich nun neben diesen Zeitzeugen und wußte keine Antwort. In diesem Moment habe ich mich entschlossen, nie wieder in einer politischen Diskussion über den sogenannten Nah-Ost-Konflikt Partei zu ergreifen. Es erschien mir plötzlich allzu einfach, fernab in Mitteleuropa ein klares politisches Bild von den Zuständen im Nahen Osten zu entwickeln. Mein Kopf, in dem ich bislang nur preiswerte Patentrezepte aufbewahrt hatte, war vollgestopft mit unbeantworteten Fragen. Dankbar nahm ich später am Abend die Einladung des arabischen Barkeepers im Hotel an, ihn und seine Familie am nächsten Tag zu besuchen. Er wohnte in einem kleinen arabischen Dorf in der Nähe von Nazareth. Jede Menge Brüder waren da, sein Vater, Nachbarn, und die jüngeren Schwestern begrüßten mich mit wunderbar gelerntem: »Herzlich willkommen!«, bevor sie der Mutter in der Küche halfen. Der Empfang war großartig und formvollendet. Die am Gespräch beteiligten Männer boten alles auf, was ihnen an englischen Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung stand, um sich gegenseitig die gebührende Ehrerbietung zu erweisen. Wir saßen in großer Runde auf dem Balkon, tranken Mokka und übten uns in blumiger Konversation. Die Essenstafel war reichhaltig, abwechslungsreich, geschmackvoll und fremdartig. Ich hatte damit meine Schwierigkeiten. Die Unterhaltung am Nachmittag drehte sich um Politik. Der Vater war früher Rektor einer ziemlich großen Schule gewesen und hatte den Posten verloren, weil er sich weigerte, mit der israelischen Polizei zusammenzuarbeiten und rebellische Schüler zu denunzieren. Nun arbeitete er in einer Fabrik, und obwohl es ihm wirtschaftlich nicht schlecht ging, war er doch sichtlich verbittert. Ich müßte das doch verstehen, meinten seine Verwandten, schließlich käme ich ja auch aus einem besetzten Land: Die Franzosen besetzten doch immer noch Elsaß-Lothringen ... Und dann zeigte mir einer der jüngeren Brüder seine Seminararbeit über Heinrich Heine »aus Düsseldorf«. Er wußte alles über den Dichter, hatte auch einige Gedichte gelesen. Daß Heine Jude war, wußte er offenkundig nicht. Ich mochte es ihm auch nicht erzählen. Für ganz elend und sinnlos halte ich seit dieser Zeit – 1984 – Diskussionen über den Nah-Ost-Konflikt, wie sie mit Vorliebe in »linken« Kreisen geführt werden: Ganz sicher ist ein »Linker«, sogar »mit linker Vergangenheit« dabei, der schon immer Antifaschist war und deswegen gar nicht gegen Juden sein kann; aber dieser aufgeklärte »Linke« sagt, die Israelis verhielten sich gegenüber den Palästinensern leider wie Nazis, womit er den Holocaust nicht unbedingt auf eine Stufe mit den Verbrechen Israels stellen wolle, das nicht, aber er als Freund Israels habe geradezu die Pflicht, israelkritisch zu sein, denn er könne zu neuem Unrecht nicht schweigen, aber das dürfe er eigentlich gar nicht sagen, weil er dann ja sofort als antisemitisch gelten würde. Statements dieser Art sind das Peinlichste, was ein Deutscher absondern kann, auch wenn ihm »die Gnade der späten Geburt« zuteil wurde. Diese Formulierung benutzte Helmut Kohl 1984, als er zur gleichen Zeit wie ich Israel besuchte. Am Abend vor seinem Besuch sah ich zusammen mit etwa 30 Leuten in der Hotelhalle ein Interview des israelischen Fernsehens mit dem deutschen Bundeskanzler. Wir hörten den deutschen Original-Ton, denn das israelische Fernsehen lieferte die Übersetzung ins Hebräische per Untertitel. Der Kanzler stand auf einem der langen Bonner Korridore neben dem israelischen Reporter, und er erzählte, daß er aus einer Gegend stamme, in der das deutsche Judentum immer eine wichtige Rolle gespielt habe, und es sei ihm eine liebe Gewohnheit, mit seinen beiden Söhnen nach dem sonntäglichen Kirchgang einen Spaziergang zu machen über den nahe gelegenen jüdischen Friedhof. Daraufhin schaltete der Hotelmanager das Fernsehgerät aus, und in der Hotelhalle herrschte die peinlichste Stille seit der Vertreibung aus dem Paradies. Auszug aus dem im Herbst von Henning Venske im Westend-Verlag erscheinenden Erinnerungsband »Es war mir ein Vergnügen«, 280 Seiten, 19,99 €.
Erschienen in Ossietzky 18/2014 |
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