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Daß ich als Kind auch tschechisch gesprochen habe, läßt Freunde und Bekannte mitunter zaghaft fragen, ob meine Eltern Deutsche oder Tschechen gewesen seien. 1938 hielten viele Franzosen die drei Millionen Deutschen in den Randgebieten der Tschechoslowakischen Republik für eine Erfindung der Nazipropaganda. Dabei betrug die Entfernung zwischen ihnen nur wenig mehr als 200 Kilometer. Ähnlich verhielt es sich mit Auschwitz. Das vermuteten auch viele in den Weiten des Ostens, obwohl es nur 30 Kilometer hinter der alten reichsdeutschen Grenze lag. Daß mitten in Europa ein slawisches Volk lebt, nämlich das tschechische, haben manche bis heute nicht realisiert. Für die meisten Europäer gehören die Tschechen zu Osteuropa. Die Tschechen selbst haben sich seit jeher zum abendländischen Kulturkreis gezählt. Auf dem Höhenpunkt der Sudetenkrise, als die Befürchtung geäußert wurde, die Tschechoslowakei sei ein Vorposten des sowjetischen Kommunismus, erklärte ihr Präsident Edvard Beneš: »Wir sind ein westliches Land, verbunden mit der Evolution Westeuropas.« Eine Landkarte aus dem Jahr 1597 verzeichnet Böhmen als das Herz Europas. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Tschechoslowakische Republik ausgerufen wurde, bestand das Staatsvolk zu zwei Dritteln aus Tschechen und Slowaken und zu einem Drittel aus Deutschen, eine für alle Beteiligten neue und ungewohnte Situation. Für die Tschechen, die zur Zeit der Donaumonarchie als »Dienstbotenvolk« eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, war der Wunsch, ihr Schicksal künftig selbst bestimmen zu können, in Erfüllung gegangen. Die drei Millionen Deutschen in den Randgebieten Böhmens und Mährens, die bis dahin sprachlich der Mehrheit angehört hatten, sahen sich plötzlich in der Rolle einer Minderheit. Abgesehen von nationalistischen Hitzköpfen, die es zu allen Zeiten auf beiden Seiten gab, waren aus friedlichen Nachbarn über Nacht Privilegierte und Unterlegene geworden. Da nutzte es wenig, daß behördliche Formulare in beiden Sprachen abgefaßt waren, Staatssprache war Tschechisch. Was früher als normal galt, daß zum Beispiel deutsche Eltern ihre Kinder während der Ferien zum Erlernen der anderen Sprache zu tschechischen Verwandten schickten und umgekehrt, das hatte nun den Beigeschmack der Unterwerfung. Zu allem Unglück wurde die Tschechoslowakei, wie andere Länder auch, Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts von den Folgen der schweren Weltwirtschaftskrise heimgesucht, die sich in den industriell geprägten Randgebieten mit ihrer deutschen Bevölkerungsmehrheit besonders nachteilig auswirkten und viele Menschen arbeitslos machten – der beste Nährboden, einen sozialen Konflikt in einen ethnischen umzumünzen. Nationalistische Scharfmacher warfen der tschechischen Staatsführung vor, nicht genug zur Linderung der sozialen Not in den deutschsprachigen Gebieten zu tun, während sich im benachbarten Deutschen Reich unter Hitlers Führung die Lage rasch zum Besseren hin gewendet habe. Die Sudetendeutsche Partei als Sprachrohr der unzufriedenen Deutschen gab sich zunächst gemäßigt. Allerdings verschärfte ihr Vorsitzender Konrad Henlein in Abstimmung mit der Reichsregierung in Berlin nach jedem Zugeständnis der tschechischen Staatsführung den Ton gegenüber der Regierung in Prag. Den Kurs hatte Hitler1934 vorgegeben, als er von den auslandsdeutschen Gruppen verlangte, sie sollten nicht bloß das Deutschtum pflegen und erhalten, sondern es zu »einer Kampftruppe« schulen. Von einer Abtrennung der deutsch besiedelten Gebiete sprach damals niemand, abgesehen von der Kommunistischen Partei des Landes, die 1933 in Anlehnung an die damalige sowjetische Nationalitätenpolitik die Parole ausgab: »Für das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen bis zur Lostrennung!« Henlein rechtfertigte sein Taktieren 1941 als Gauleiter der NSDAP mit den Worten: »Um uns vor tschechischer Einmischung zu schützen, waren wir gezwungen, zu lügen und unsere Ergebenheit für die Sache des Nationalsozialismus zu leugnen. Lieber hätten wir uns offen zum Nationalsozialismus bekannt. Es ist jedoch die Frage, ob wir dann imstande gewesen wären, unsere Aufgabe zu erfüllen – die Tschechoslowakei zu vernichten.« (Der Neue Tag, Prag, 5. März 1941) Zur Destabilisierung der Tschechoslowakei wurde 1938 auf reichsdeutschem Gebiet das »Sudetendeutsche Freikorps« gegründet, das die Lage durch bewaffnete Überfälle auf tschechische Grenzposten verschärfte. Finanziert wurde es auch vom IG-Farben-Konzern, der sich später an Häftlingen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz bereicherte. Nach Aussage des IG-Farben-Direktors Fritz ter Meer im Flick-Prozeß überwies der Vorstandsvorsitzende Hermann Schmitz eine Spende von 100.000 Reichsmark an das Sudetendeutsche Freikorps. (Reimund Schnabel, Macht ohne Moral, Frankfurt/M. 1957) Mit Kriegsdrohungen und begleitet von dem Schlachtruf der Henlein-Anhänger, »Wir wollen heim ins Reich«, setzte Hitler die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens unter Druck, die Abtrennung der sudetendeutschen Gebiete zu akzeptieren. Am Ende standen das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 und der bejubelte Einmarsch der deutschen Wehrmacht in das Sudetenland. Ein halbes Jahr später folgte die Besetzung der von Hitler so bezeichneten Rest-Tschechei. Spätestens dann wurde auch den Gutgläubigen bewußt, daß die Sudetenkrise nur das Vorspiel zu weitaus Schlimmeren war.
Erschienen in Ossietzky 17/2014 |
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