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Entsprechende Zeremonielle vollzogen sich in der Zeit unserer Altvorderen, als die Bahn noch nicht für Verspätungen aufkommen mußte, weil es noch keinen Schienenverkehr gab, vermutlich auf Posthaltereien, wo die Fernkutschen mit ausgeruhten Mähren und ausgenüchterten Postillionen neu bespannt wurden, später dann in den schloßartigen Bahnhofsgebäuden, in denen die Dampfrösser noch einen letzten Schnaufer taten, bevor sie die berühmte Persönlichkeit mitsamt ihrem Gefolge dem auf dem Bahnsteig versammelten Empfangskomitee überantworteten. Dieses bestand – handelte es sich um die regionale Ebene – aus dem Bürgermeister, dem Kantor, dem Leiter der örtlichen Feuerwehr, dem Bahnhofsvorsteher, einer TÜV-geprüften Ehrenjungfrau, einem Blasorchester und dem betagten Siedlerchor der Kleingartenanlage »Großbobritzsch-Südost 1904«. Erreichte der Empfang nationale politische Dimensionen, schritten der Gast und der staatliche Repräsentant gemeinsam die Bahnsteigkante ab, und das Nationale Sinfonieorchester unter Leitung von Generalmusikdirektor Professor Hannshellmut Käsebier intonierte die dritte Strophe beider Landeshymnen bei jedem ihrer beherzten Schritte. Seitdem selbst lukrative, einst von Schinkel, Schwechten oder Hundertwasser erbaute Bahnhöfe ihre Aufgaben vertrauensvoll an Automaten delegiert haben, finden die ehemaligen Stationsgebäude eine neue Berufung als Supermärkte, oder sie stehen unnütz in der Landschaft herum und blicken traurig aus den vernagelten oder eingeschlagenen Fenstern. Als architektonische Zeugen einer überwundenen Epoche führen sie im Zeitalter der digitalen Freiheit ein ruinöses Dasein. Die »großen Bahnhöfe« vollziehen sich heutzutage auf nicht vollendeten Flughäfen, vor luxuriösen Regierungspalästen oder in gestylten Möbel- und Autohäusern, und Empfänger und Empfangene versichern sich dabei ihrer unverbrüchlichen Freundschaft und eines abgeschalteten Abhörsystems. Parallel zum Empfangskomitee protestieren alte Achtundsechziger mit quietschenden Rollatoren und junge Radikale mit entblößtem Hinterteil gegen die Begrüßung der Repräsentanten durch die zentrale oder örtliche Hautevolee und liefern sich Scharmützel mit der Polizei, die mit Pfeffer und Wasser bereitsteht. Die geschilderten Trends werfen die Frage auf, was mit den abgehalfterten Bahnhofspalästen oder entwidmeten Stationsgebäuden geschehen soll beziehungsweise wie sie eine neue Zweckbestimmung in unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung erhalten könnten. In einigen Fällen sollen junge hörgeschädigte Familien die Objekte zu einem bezahlbaren Preis erworben und zu kinderreichen häuslichen Domizilen umgebaut haben. An anderen frißt erbarmungslos der Zahn der Zeit. Wie aus unterrichteten Kreisen verlautet, soll sich die Verwendung von ehemaligen Güterschuppen und Lokspeichern als Erlebniszentrum, Herberge, Theaterkulisse bewährt haben. Was mir besonders imponiert: Manche triste Bahnhofswirtschaft hat sich dank der Initiative und des Mutes der Betreiber zu einer Kleinkunststätte mit Schankbetrieb umgestylt. Die übliche volkstümliche Nachrede »Wer nichts wird, wird Wirt, und wer gar nichts wird, wird Bahnhofswirt« wird dadurch überzeugend konterkariert. So auch die Inhaber der »Bahnhofsstube« Zühlsdorf an der idyllischen Heidekrautbahn, nördlich von Berlin. Hier halten zwar zur vollen Stunde und kurz darauf noch mal Dieseltriebwagen, aber wenn sich die Kleinkunst mit den Fahr- und Haltezeiten arrangiert, kann der Einbau der Stopps in das jeweilige Programm durchaus die Vorstellungen bereichern. Und der Bahnhofskleinkunstfan kann sich der günstigen Anschlüsse an das Berliner S-Bahn-Netz bedienen und sein Auto vor der Haustür stehen lassen, zumal er durch die Verquickung günstiger Umstände gerade zwei Monate zuvor eine Parktasche gefunden hat, die er verständlicherweise ums Verrecken nicht preisgeben will. Mini-Konzerte, Lesungen, Kabarettveranstaltungen, heimatgeschichtliche Vorträge, nostalgische Eisenbahnfahrten, Chansonabende und Modepräsentationen verbinden sich mit gepflegten Getränken und regionalen Speisen und lassen die Einkehr in die Restauration zu einem unterhaltsamen Abenteuer werden. Das hätte sich der Bahnhof nicht träumen lassen, als er noch ein Bahnhof war. Ein Beispiel dafür, daß und wie ein überflüssiges Relikt auch ohne Dampf weiter unter Dampf stehen kann, wenn sich Leute mit Ideen und Engagement finden. Da damit zu rechnen ist, daß die DB wegen weiterer Streckenschließungen, unvermeidbarer Personalverschlankungen oder der Fernbuskonkurrenz weitere Bahnhöfe wie Dornröschen dem Tiefschlaf überlassen muß, erscheint mir das Zühlsdorfer Beispiel fast wie ein Fanal. Vielleicht sollte man bei der Planung von Supermärkten generell ein paar Bahnsteige mit einkalkulieren, und möglichst wie in Berlin, Stuttgart und Leipzig im Untergrund, damit sie das Verkaufsgeschäft nicht so stören!
Erschienen in Ossietzky 16/2014 |
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