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Schwellenland EuropaMarc-Thomas Bock Die in nur wenigen Metropolen der Welt residierenden Verwahrer des globalen Finanzkapitals unterteilen die Staaten unseres Planeten in genau vier wirtschaftspolitische Kategorien: die hochindustrialisierten Führungsstaaten, nach Rußlands Hinauswurf gern wieder G7 genannt, die sogenannten Schwellenländer wie Brasilien, China oder Indien, denen das Signet G20 zugewiesen wird, die Entwicklungsländer, die den übergroßen Rest der volkswirtschaftlich und infrastrukturell schwachen und politisch oft erratischen Staaten Afrikas, Asiens oder auch Lateinamerikas ausmachen, und schließlich die völlig gescheiterten Staaten (failed states) wie Sierra Leone oder Somalia, die in London, New York, Frankfurt oder Tokio wegen ihrer jahrzehntelangen Bürgerkriegslagen als unregierbar und damit auch als wirtschaftspolitisch abgeschrieben gelten. Welche Staaten zu welcher Kategorie gehören, darüber entscheiden die mit dem globalen Finanzkapital unmittelbar verbundenen und von ihm abhängigen Regulierungsbehörden: der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank, die regionalen Zentralbanken oder die entsprechenden Abteilungen der legislativ oder korporativ zuständigen Kontinentalbehörden (OECD, OAS oder ASEAN) mit ihren Klauseln zu gegenseitigen Finanz-, Freihandels- oder Steuerinteressen. Je nachdem, wie sich die politischen Verhältnisse eines Entwicklungs- oder Schwellenlandes zu seiner Investitionssicherheit, objektiven Ausbeutbarkeit der Produktivkräfte oder seiner kapitalrechtlichen Eigentumssicherung verhalten, je nachdem also, wie das globale Finanzkapital kurz- oder mittelfristige Renditevisionen lokal gestärkt oder gefährdet sieht, wird die Indizierung oder Zuordnung der größtenteils in Armut lebenden Weltbevölkerung und ihrer Staaten vorgenommen. Diesem ausschließlich globalen Kapitalinteressen folgenden Wertungsmuster ist die Tatsache zu verdanken, daß Rußland finanzpolitisch nun ein europäisches Paria-Dasein fristen soll, daß Syrien auf dem besten Wege ist, als arabischer failed state dem westlichen Ressourceninteresse zu entgleiten oder daß das lateinamerikanische Ecuador, von der EU aufgrund günstiger Sozialprognosen vor noch nicht allzu langer Zeit als Schwellenland vorgeschlagen, nun doch wieder der Dritten Welt zugehörig ist. Doch gerade die europäischen Regulierungsbehörden sollten sich als globalpolitisch eher schwerfällig daherkommende Verwaltungsinstitutionen an die eigene Nase fassen. Denn es sind die nur vorgeblich unabhängig agierenden US-Ratingagenturen, die ganze Kontinente, auch den europäischen, ins Fadenkreuz nehmen und ihren im Hintergrund agierenden Börsenjobbern, Großbanken und industriellen Lobbyisten deren finanzpolitische Einflußsphären von Frankreich bis zur Ukraine, von Schweden bis nach Griechenland zurechtevaluieren. Die Europäer verfügen im Gegenzug über keine derart aggressiven Finanzdienstleister, geschweige denn Behörden, wenn transatlantische Rücksichtnahme auf nordamerikanische Finanzinteressen immer nur in eine Richtung wirkt: nämlich nach Westen. Gerade den EU-Kommissionen und hier in Deutschland dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) mag es vielleicht tatsächlich um die objektivere Erweiterung eines finanzpolitisch geprägten Tunnelblicks gehen, der die Lage der Weltgemeinschaft lediglich aus einer Melange von wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen und demographischen Kriterien heraus nicht nur wachstums-, sprich profitorientiert, abbildet. Diese Erweiterung sollte auch in der Lage sein, ein nach sozialen Fortschrittsindikatoren geformtes Weichbild der Weltentwicklung nachzuzeichnen. Dies wird den OECD-Beamten jedoch kaum gelingen, dreht man ein wenig an der Kompaßnadel, die auf Definitionsbereiche für vermeintlich erfolgreiche Schwellenländer verweist. Neben rein demographischen Angaben zur Lebenserwartung und dem Pro-Kopf-Einkommen eines Staates, seiner Analphabeten-Rate und seinem Korruptionsindex stehen eben auch harte wirtschafts- und finanzpolitische Marker wie die Wachstumsrate, die Ausbildung des »Humankapitals«, die Lohnsteuern, Lohnkosten und Arbeitsproduktivität, die definieren, ob ein Staat unterentwickelt, entwickelt, schwellengleich oder aber eben hochentwickelt ist. Weist die Kompaßnadel auf diese Bereiche, so ist der Kurs Europas durchaus nicht klar auf ein hochindustrialisiertes und sozial entwickeltes Festland ausgerichtet. Europa in seiner Gesamtheit nähert sich in vielen Bereichen eher einem durchschnittlichen Schwellenland an. In verschiedensten Studien der letzten Monate und Jahre kam unter anderem folgendes zum Vorschein: Jeder fünfte EU-Bürger ist von funktionalem Analphabetismus betroffen, in Deutschland zum Beispiel 15 bis 20 Prozent aller Jugendlichen. Der erste Antikorruptionsbericht der EU überhaupt, veröffentlicht am 3. Februar 2014 (davor schien dieses Problem in Europa offenbar nicht untersuchungsrelevant) sprach von einer »atemberaubenden« Dimension europäischer Bestechungskriminalität. Deutschland wurde gerügt, weil es neben seinen ans Licht gekommenen Bestechungsskandalen gerade im Spannungsfeld zwischen Politik und Geschäfts-verkehr (das Hauptstadtflughafen-Fiasko als Beispiel par excellence) noch nicht einmal – wie in vielen Schwellenländern üblich – ein verbindliches Antikorruptionsgesetz für alle gesellschaftlichen Bereiche verabschiedet hat. Die Ausbildung von »Humankapital«, die frühzeitig durch wirtschaftliche Interessen eines Staates einsetzende berufliche und akademische Ausbildung seiner zukünftigen Arbeitnehmer also, wird in weiten Teilen Europas, nicht nur in Südeuropa, auf das Sträflichste vernachlässigt. Dies eben auch in Deutschland, wo der Bundesbildungsbericht des Jahres 2012 jedem fünften deutschen Schulabgänger keine Chance darauf einräumt, jemals in stabile Ausbildungs- oder Beschäftigungsverhältnisse übernommen zu werden. Dazu kommt ein nicht erst seit der sogenannten Wirtschafts- und Finanzkrise von 2009 europaweit wirkender Prozeß der gesellschaftlichen Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile im Zuge einer geradezu erpresserischen EU-Austeritätspolitik. Sie soll eine ethisch gebotene und europaweit legislativ umzusetzende Besteuerung von unverhältnismäßig hohen Zinsertrags- und Spekulationsgewinnen, von staatlichen Kontrollen des Banken- und Finanzsektors durch die Daumenschrauben einer verschärften Bildungs- und Sozial-, Renten- und Beschäftigungspolitik in ganz Europa ersetzen. Und noch eines scheinen die Entwicklungs- und Schwellenländer besser hinzubekommen als Europa, als Deutschland jedenfalls allemal: Die größten grenzüberschreitenden Migrationsströme weltweit und eine oft unkontrollierte Binnenmigration finden jenseits europäischer Grenzen statt. Die Armen helfen den Ärmsten. Dies ist – vor dem Hintergrund verfehlter Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europas FRONTEX-Flüchtlingsabwehr – ein weiterer Punkt, den die Schwellenländer im Vergleich zu unserem Kontinent zumindest moralisch für sich verbuchen können.
Erschienen in Ossietzky 16/2014 |
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