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Seit der schweren Weltwirtschaftskrise 1974/75 kann kontinuierlich von dem verheerenden Zustand einer weit unterbeschäftigten Volkswirtschaft und damit von gesamtwirtschaftlich suboptimalen Verhältnissen gesprochen werden. Unsere Wirtschaft lebt weit unter ihren Produktionsmöglichkeiten und wird durch hohe fiskalische Kosten für die Arbeitslosigkeit belastet. Auch die jüngste Entwicklung an den Arbeitsmärkten gibt keinen Grund für Jubelstürme, wie uns die »schwarz-rosarote« Bundesregierung, die Unternehmerverbände sowie die ihnen ideologisch nahestehenden wirtschaftswissenschaftlichen und medialen Claqueure erzählen. Demnächst liege sogar Vollbeschäftigung vor, und es bestünde ein erheblicher Fachkräftemangel, behaupten ernsthaft die neoliberalen Apologeten. Dies grenzt an Volksverdummung, hat aber mit der wirtschaftlichen Realität nichts zu tun. Schauen wir uns die Fakten an. Zwar ist die durchschnittliche Zahl der registrierten Arbeitslosen von 2000 bis 2013 von 3,9 auf 2,9 Millionen Arbeitslose, also um 25,6 Prozent zurückgegangen. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit, die auch statistisch wegdefinierte Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt, lag dagegen um eine Million höher. Also betrug die wirkliche Arbeitslosenzahl 2013 rund 3,9 Millionen. Werden außerdem an den Arbeitsmärkten fälschlicherweise nur »Köpfe« gezählt, so hat es zwar von 2000 bis 2013 einen Anstieg der Erwerbstätigenzahlen (abhängig Beschäftigte plus Selbständige) von 39,4 Millionen auf gut 41,8 Millionen, um 2,4 Millionen Erwerbstätige oder um 6,1 Prozent gegeben. Das für Beschäftigung entscheidende Arbeitsvolumen (Beschäftigte mal Arbeitszeit/Beschäftigten) stagnierte aber beziehungsweise nahm nur marginal um 0,3 Prozent zu. So wurden 2000 insgesamt 57,9 Milliarden Arbeitsstunden in Deutschland geleistet, 2013 waren es 58,1 Milliarden Stunden. Die jahresdurchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen ging dagegen von 1.471 Stunden (2000) auf 1.388 Stunden (2013) um 5,6 Prozent zurück. Differenziert man die Erwerbstätigen in abhängig Beschäftigte und Selbständige, so nahm von 2000 bis 2013 die Zahl der abhängig Beschäftigten von 35,4 auf 37,4 Millionen, um zwei Millionen oder um 5,6 Prozent, zu. Und die Selbständigenzahl stieg um knapp 500.000 von vier Millionen (2000) auf 4,5 Millionen, um 12,5 Prozent. Zumeist entfiel hier aber die Zunahme bei den Selbständigen auf Solo-Unternehmer ohne einen einzigen Beschäftigten. Viele Solo-Unternehmer sind davon nur Scheinselbständige mit geringstem Einkommen. Bei den abhängig Beschäftigten reduzierte sich von 2000 bis 2013 die jahresdurchschnittliche Arbeitszeit um 4,5 Prozent, sie sank von 1.375 auf 1.313 Stunden. Diese nicht freiwillige Arbeitszeitverkürzung ergibt sich aus dem Tatbestand, daß von 2001 bis 2013 die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um 1,2 Millionen oder um fünf Prozent abgenommen und die Teilzeit- und geringfügige Beschäftigung um 2,9 Millionen, um 29,0 Prozent, zugenommen hat. Seit 1991 sind die Vollzeitstellen sogar um 4,9 Millionen oder um 16,7 Prozent gesunken und die Teilzeitstellen haben um 7,1 Millionen, um 123,6 Prozent, zugelegt. Durch diese Spreizentwicklung an den Arbeitsmärkten ergab sich 2013 für die abhängig Beschäftigen eine rechnerische jahresdurchschnittliche 30-Stunden-Woche, aber bei völlig ungleich verteilten Arbeitszeiten bezogen auf die einzelnen Beschäftigten. Von den 37,4 Millionen abhängig Beschäftigten insgesamt hatten 2013 nur knapp 24,3 Millionen eine Vollzeitstelle mit 38 Stunden pro Woche. Das ergibt ein Arbeitsvolumen von 39,9 Milliarden Stunden. 13,1 Millionen abhängig Beschäftigte mußten sich dagegen ein Arbeitsvolumen von 9,1 Milliarden Stunden teilen, so daß hier die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei nur 16 Stunden lag. Überwiegend waren Frauen von geringer Arbeitszeit betroffen. Sie reicht zum Leben ohne anderweitige Unterstützung nicht aus. Eine Umrechnung der Zahl der Arbeitslosen von rund 3,9 Millionen und der Unterbeschäftigten laut Konzept der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von knapp 4,7 Millionen in Vollzeitäquivalente (VZÄ = 38-Stunden-Woche) zeigt, daß 2013 in Deutschland rund 14 Milliarden Arbeitsstunden gefehlt haben oder nicht nachgefragt wurden, um vom Zustand einer vollbeschäftigten Wirtschaft sprechen zu können. Vor diesem gesamten Hintergrund von einem »guten« oder »stabilen« deutschen Arbeitsmarkt und einem allgemeinen Fachkräftemangel zu sprechen ist blanker Zynismus und zeugt von einem hochgradigen Realitätsverlust. Dies umso mehr, als auch noch von den abhängig Beschäftigten gut sieben Millionen, das sind fast 20 Prozent, zu Stundenlöhnen von unter 8,50 Euro arbeiten müssen. Die bestehende Massenarbeitslosigkeit und die durch die Agenda 2010 ausgebaute prekäre Beschäftigung haben dabei zunehmend die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmerverbänden geschwächt. Nichts macht den Arbeitslosen – aber genauso den noch Beschäftigten – so gefügig, wie bestehende Arbeitslosigkeit. Die von den Beschäftigten geleistete Arbeit wird dann nicht mehr äquivalent bezahlt. Absolute Löhne werden gedrückt, und die Beschäftigten partizipieren auch nicht mehr an den Produktivitätsfortschritten und Wertschöpfungszuwächsen. Im Ergebnis sinkt die gesamtwirtschaftliche Lohnquote, und es steigt die Gewinnquote: Es kommt zu einer Umverteilung von unten nach oben. Da jeder Unternehmer – trotz Kündigungsschutzgesetzen – die einmal eingestellten Arbeitskräfte, und sei es auch nur aus Gründen der Gewinnmaximierung, wieder entlassen kann, die Gesellschaft als Ganzes dieses aber nicht kann, müssen die Arbeitslosen (die einzelwirtschaftlich »Externalisierten«) gesellschaftlich alimentiert werden, wobei diese Unterstützung politisch ständig Gefahr läuft, gekürzt zu werden. So entstand sukzessive der Nährboden für alle möglichen Zugeständnisse bei der Lohnhöhe, bei der Arbeitszeit und bei den Sozialleistungen. Zudem unterstützt die herrschende neoliberale Politik einseitig das Interesse der Unternehmer an maximalem Profit. Es ist offensichtlich: Statt eine Machtbalance zwischen Kapital und Arbeit und eine zumindest neutrale Verteilung der Wertschöpfungen zu schaffen, entsteht ein Machtgefälle zugunsten der Kapitalseite als Dauerzustand. Tarifverhandlungen werden nicht mehr auf Augenhöhe geführt, sondern Unternehmer und ihre Verbände in die Lage versetzt, den Gewerkschaften ihre Handlungsfähigkeit – das wichtigste Gut, das sie im Kapitalismus besitzen – schleichend zu nehmen und ihnen letztlich die Ziele bei Tarifverhandlungen bezogen auf Arbeitsentgelte und Arbeitszeiten zu diktieren. Ohne kollektive Arbeitszeitverkürzung wird es in Deutschland nie mehr Vollbeschäftigung geben, auch wenn in Deutschland Arbeit in vielen Bereichen momentan nicht getan wird und Stellen geschaffen werden könnten. So gibt es im öffentlichen Sektor viele Defizite, etwa bei der Infrastruktur, im Bildungs- und Umweltbereich oder auch fehlende öffentliche Dienstleistungen. Hier könnten gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen und durch höhere Steuern auf völlig ungleich verteilte Vermögensbestände und durch eine unnachgiebige Bekämpfung von Steuerkriminalität finanziert werden. Dagegen wird in der privaten Wirtschaft viel überflüssiger Schrott an Waren produziert, den im Grunde keiner benötigt. Würden wir darauf zum Wohle der Umwelt verzichten, so müßte die hier ausfallende Produktion zusätzlich durch Arbeitszeitverkürzungen aufgefangen werden. Ein auf uns zukommender demographischer Bevölkerungsrückgang wird dabei nicht die Lücke zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage schließen können. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot geht in den nächsten 20 bis 30 Jahren zurück, es reicht nicht annähernd aus, um allen erwerbsfähigen Menschen in Deutschland, die eine Vollzeit-Arbeit wollen, eine entsprechende Stelle zu bieten. Hierfür gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens wird, wie schon in der Vergangenheit, die Produktivitätsrate in der Wirtschaft höher ausfallen als die reale Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes und damit das benötigte Arbeitsvolumen sinken. Zweitens: Selbst wenn auch zukünftig die beiden entscheidenden Raten gleich groß wären, so könnte aber die seit Mitte der 1970er Jahre bestehende Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung in Deutschland nicht abgebaut werden. Davon geht übrigens auch das Bundesarbeitsministerium in einer großangelegten Studie aus. Dies muß aber nicht sein. Arbeitslosigkeit ist kein Naturgesetz. Eine 30-Stunden-Woche für alle könnte entscheidend die »Geißel Arbeitslosigkeit«, die einen »Gewaltakt gegen Menschen« (Oskar Negt) bedeutet, bekämpfen. Arbeitszeitverkürzung verbessert nicht nur die Arbeitsbedingungen ohne Burnouts, sondern beendet auch den Ausschluß der Arbeitslosen aus der Gesellschaft, ihr Minderwertigkeitsgefühl, ihre Scham, und bringt sie wieder in Arbeit und Brot. Auch kann durch Arbeitszeitverkürzungen die geschlechtergerechtere Aufteilung der Hausarbeit, der Erziehungs- und Pflegearbeit verbessert werden. Die Lebensplanung erhält einen höheren Freiheitsgrad durch weniger fremdbestimmte Arbeit in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Nicht zuletzt brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung um mehr Zeit für gesellschaftliches und politisches Engagement zu haben. Und die Gesellschaft als Ganzes wird durch Arbeitszeitverkürzung von jährlich 50 bis 70 Milliarden Euro fiskalischer Kosten, die durch die Massenarbeitslosigkeit entstehen, befreit. Wäre die Wirtschaft, nur gerechnet für die Jahre von 2001 bis 2013, vollbeschäftigt gewesen, dann hätte der Staat im selben Zeitraum nicht zusätzlich 625 Milliarden Euro neue Schulden machen müssen. Im Gegenteil: Die öffentlichen Haushalte hätten sogar einen Überschuß in Höhe von gut 17 Milliarden Euro verbuchen können. Die wesentliche Ursache für Staatsverschuldung in Deutschland ist eben nicht ein angeblich verschwenderischer Staat, sondern die bestehende Massenarbeitslosigkeit. Die einzigen, die von Arbeitslosigkeit profitieren, sind die Unternehmer und Kapitaleigner. Rein ökonomisch wäre die Umsetzung von Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ganz einfach. Wenn beispielsweise in einer Volkswirtschaft die Produktivität um zwei Prozent zulegt, dann kann auch der Lohnsatz um diese zwei Prozent steigen und gleichzeitig die Arbeitszeit um zwei Prozent gesenkt werden. Das bedeutet, die Beschäftigten behalten ihr Einkommen und arbeiten dafür in Höhe der Produktivitätsrate weniger. Durch die freigesetzte Zeit der Beschäftigten können dann gleichzeitig Arbeitslose und Unterbeschäftigte eine Vollzeitstelle zu den gleichen Bedingungen erhalten. Das gesamtwirtschaftliche Ergebnis wäre nicht belastend, sondern lohnstückkostenneutral. Die Lohnkosten pro produzierte Leistungseinheit bleiben konstant. Und das Schöne für Unternehmer: Auch ihre Gewinne steigen automatisch noch um zwei Prozent in Höhe der Produktivitätsrate. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist damit im wissenschaftlichen Befund nicht nur lohnstückkostenneutral, sondern auch im Hinblick auf die arbeitsteilig geschaffene Wertschöpfung verteilungsneutral. An der Höhe der gesamtwirtschaftlichen Lohn- und Gewinnquote ändert sich nichts. Kritiker sagen deshalb zu Recht, die Beschäftigten und Arbeitslosen finanzierten sich somit ihre Arbeitszeitverkürzung selbst. Es kommt in der Tat zu einer klassenimmanenten Umverteilung. Dies ist aber überhaupt nicht einzusehen. Auch die Besitzeinkommensempfänger haben sich zu beteiligen. Das müssen sie schon deshalb, weil in der Vergangenheit versäumt wurde, die Arbeitszeiten gemäß der gestiegenen Produktivität zu verkürzen. Die 30-Stunden-Woche wird sich daher heute nicht mehr innerhalb eines Jahres umsetzen lassen. Es werden mindestens fünf Jahre nötig sein, mit einer Verkürzung der Arbeitszeit um fünf Prozent in jedem Jahr. Um das zu finanzieren, wäre eine Produktivitätsrate von ebenfalls fünf Prozent pro Jahr nötig, die aber nicht realistisch ist. In den Jahren 2000 bis 2013 stieg die Produktivität im Jahresdurchschnitt nur um knapp 1,2 Prozent. Das heißt, etwa vier Prozentpunkte müßten durch eine Umverteilung aus den Besitzeinkommen zur Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung aufgebracht werden. Vor dem Hintergrund der gigantischen Umverteilung in Deutschland seit dem Jahr 2000 in Höhe von gut 1,1 Billionen Euro von den Arbeits- zu den Besitzeinkünften ist dies jedoch – rein ökonomisch betrachtet – überhaupt kein Problem. Die Lohnquote müßte nur wieder ein Stück weit ansteigen. Dagegen wehren sich die Unternehmer und Kapitaleigner. Wer Arbeitszeitverkürzung fordert, stellt genauso wie bei Lohnerhöhungen die Machtfrage. Daher bedarf es eines breit angelegten Gegen-Bündnisses von Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen, Sozial- und Umweltverbänden sowie nicht zuletzt den Kirchen, um in einer konzertierten Aktion eine dringend notwendige kollektive Arbeitszeitverkürzung im Rahmen eines gesamtgesellschaftlichen Projektes umzusetzen. Der Erfolg wird dabei davon abhängen, wie eine umfassende Aufklärung, eine ökonomische Alphabetisierung, gelingt und eine intensive Debatte in den Betrieben und staatlichen Verwaltungen sowie Bildungseinrichtungen, letztlich in der ganzen Gesellschaft, geführt wird. Materialien: Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat: »Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit« mit einem Vorwort von Eckart Spoo, Ossietzky-Sonderdruck, Verlag Ossietzky 2011, 20 Seiten, 2 € zzgl. 1,50 € Versandkosten; Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat: »Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche fordern! Mit dem Manifest zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit«, pad-Verlag, Bergkamen 2013, 74 Seiten, 5 €; Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat: »Offener Brief an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände und Kirchenleitungen in Deutschland, 30-Stunden-Woche fordern! Ohne Arbeitszeitverkürzung nie wieder Vollbeschäftigung«, 2013
Erschienen in Ossietzky 15/2014 |
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