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Doch der Friedensnobelpreisträger in Washington zögert – ebenso wie seine sonst so willigen Koalitionäre. Knickt die »freie Welt« vor dem Ansturm der Gotteskrieger ein? Wird der fanatische Islam den Lebensnerv der westlichen Zivilisation, die Ölquellen des Nahen Ostens, besetzen und uns alle, unsere Lebensart und Kultur erpressen? Haben wir vergessen, daß die Taliban und Osama bin Laden einst von den USA und Saudi-Arabien ausgebildet und finanziert wurden, um als »Freiheitskämpfer« in Afghanistan gegen den »gottlosen Kommunismus« zu kämpfen? Haben wir vergessen, daß George W. Bush als erster vom »Islamfaschismus« sprach, den es zu bekämpfen gelte? Schon der Anschlag vom 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York wurde als Angriff des Islam auf »unsere« Freiheit und Gesittung interpretiert. Da mutet es geradezu rational an, wenn der (nach Auskunft der zuständigen Dienste) damalige Stellvertreter und heutige Führer des Netzwerks Al Kaida, Aiman al-Sawahiri, in einer Botschaft zum zweiten Jahrestag von 9/11 auf dem Sender Al Jazeera erklärte: »Der zweite Jahrestag der Angriffe auf New York und Washington ist nun auf uns zugekommen. Er erinnert uns an das Opfer unserer heldenhaften 19 Brüder, die mit ihrem Blut eine neue Seite der amerikanischen Geschichte aufgeschlagen haben, eine Absage der Moslems an Amerikas Arroganz und Tyrannei, ein Ausdruck ihres Stolzes auf ihre Religion, ihren Glauben und ihre Würde und ihre Entschlossenheit, die Moslems und die Unterdrückten der Menschheit zu rächen […] Wenn Ihr den Islam zurückweist, haltet wenigstens inne in Eurer Feindseligkeit gegen unsere islamische Weltgemeinschaft. Über Jahrzehnte habt Ihr unsere Frauen und Kinder getötet, unseren Wohlstand gestohlen und Tyrannen unterstützt, die unsere Gemeinschaft brutal beherrschen.« Dieser Diskurs klingt eher anti-imperialistisch als religiös. Und er transportiert die Stimmungslage in großen Teilen der islamischen Welt. Die Instrumentalisierung der Religion wurde nicht nur Analysekategorie von Konflikten, sie wurde auch Instrument der Politik: Im Irak setzte der Westen auf die Schiiten und Nuri al-Maliki, der die unter Saddam Hussein dominierenden Sunniten diskriminiert und unterdrückt – und sich skrupellos bereichert. In Syrien sollte der Diktator Assad um jeden Preis gestürzt werden. Dafür war es recht und billig Islamisten jeder Couleur finanziell und militärisch zu unterstützen, teils direkt durch die CIA und über den Bündnispartner Türkei, teils durch die reaktionären Despotien am Golf, besonders Saudi-Arabien und Katar. All dies vollzog sich vor dem Hintergrund des schleichenden aber anscheinend unvermeidlichen Abstiegs der USA, die nicht mehr fähig oder willens sind, ihre Interessen weltweit militärisch durchzusetzen und sich außerdem auf einen neuen – realen oder imaginierten – Feind im Pazifik konzentrieren. Die Folgen sind fatal: Einhundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wird nun jene »Ordnung« des Orients in Frage gestellt, die die Siegermächte im Pariser Vorort Sèvres bei ihren Verhandlungen über die Verteilung der Gebiete des zerstörten Osmanischen Reichs geschaffen hatten: Die türkische Regierungspartei AKP träumt von einem neo-osmanischen Reich und glaubt, es unter Instrumentalisierung des sunnitischen Islam wieder herstellen zu können. Die reaktionären Despotien am Golf hoffen, mit einer Islamisierung des ganzen arabischen Raums im Sinne des fanatischen wahabitischen Islam ihre eigene Führungsposition in der Region zementieren zu können, und unterstützen – finanziell wie militärisch – die unterschiedlichsten dschihadistischen Gruppen, die sich zum Teil gegenseitig bekämpfen (die International Crisis Group zählt allein in Syrien dreizehn dieser Banden). Diese wiederum emanzipieren sich von ihren Geld- und Auftraggebern, indem sie in den von ihnen kontrollierten Gebieten eine Gewaltökonomie errichten und sich durch Raub, Plünderung, Erpressung und Entführungen eine eigene finanzielle Basis schaffen: Gerade ISIS stellt inzwischen einen gewaltigen Machtfaktor dar, ist sie doch im Irak durch Plünderung der Banken und durch Übernahme modernster Waffen von der flüchtenden Armee des Ministerpräsidenten Maliki zu einem mächtigen militärischen Akteur geworden. Hinzu kommt die durchaus vorhandene Unterstützung durch die seit Jahren drangsalierte sunnitische Bevölkerung des Landes. Mittlerweile kontrolliert ISIS auch die wichtigen Erdölfelder in Nordirak – den Konzernen dürfte es egal sein, von wem sie das Öl kaufen. Die Unterstützung der dschihadistischen Banden durch die Türkei droht zum Bumerang zu werden: In Sèvres stand 1919 die Errichtung eines kurdischen Staates noch auf der Tagesordnung, auf der Nachfolgekonferenz 1932 in Lausanne wurde diese Forderung endgültig begraben. Nun gibt es einen kurdischen Quasi-Staat im Nordirak und eine von den Kämpfern der PYD (deutsch: Partei der Demokratischen Union) gesicherte autonome kurdische Zone in Nordsyrien. Weshalb sollten die türkischen Kurden auf diesen Status verzichten – mit der langfristigen Perspektive der Schaffung eines Kurdenstaates? Die türkischen Aleviten, sie machen rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung der Türkei aus, sehen den Kampf der türkischen Regierungspartei, der sunnitischen AKP, gegen Assad als Bedrohung für sich selbst. Die Türkei ist – jenseits der inneren Turbulenzen – nicht mehr der viel beschworene Anker der Stabilität der NATO. Die neue Situation macht den Iran zu einem zentralen und wichtigen Unterstützer nicht nur von Assad, sondern auch des Schiiten Maliki. Also wird man den Iran einbinden müssen im Kampf gegen ISIS. Die USA hatten (unter Druck Israels?) die Teilnahme des Iran an den Genfer Verhandlungen über Syrien verhindert. Jetzt wird man mit ihm reden müssen – mit möglichen Folgen auch für die Haltung des Westens in den Atomverhandlungen. Der unvermeidliche Aufstieg des Iran zu einem wichtigen Verhandlungspartner gefährdet aber unmittelbar den saudischen Anspruch auf eine hegemoniale Stellung in der postrevolutionären arabischen Welt. Hinzu kommt der massive Interessengegensatz zwischen Katar, das die Muslimbrüder unterstützt, die wegen ihrer Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit Erzfeinde der Saudis sind: Nicht zufällig haben Saudi-Arabien und andere Scheichtümer ihre Botschafter aus Doha abberufen, weil weiterhin der Chefideologe der Muslimbrüder al-Karadawi auf Al Jazeera seine Freitagspredigten verbreiten darf. Dafür genießen die Generäle in Ägypten die Unterstützung der Saudis, haben sie doch die denen verhaßten Muslimbrüder aus dem Amt geputscht – und Saudi-Arabien mobilisierte binnen 24 Stunden gemeinsam mit einigen anderen Scheichtümern einen Kredit in Höhe von zwölf Milliarden US-Dollar – und warf Katar aus dem Geschäft, das im Vorjahr die Muslimbrüder mit acht Milliarden US-Dollar unterstützt hatte. Um ihren Einfluß nicht vollends zu verlieren, nahmen die USA ihre Militärhilfe an Ägypten, die wegen des Putsches zunächst eingefroren worden war, in Höhe von jährlich 1,3 Milliarden US-Dollar wieder auf. Gelänge es ISIS, ein syrisch-irakisches (sunnitisch-wahabitisches) Kalifat zu errichten, wäre auch Israel unmittelbar bedroht. So bahnen sich möglicherweise bündnispolitische Revirements an, die in ihrer Widersprüchlichkeit und Lebensdauer kaum einschätzbar sind. Die westliche Politik des regime change, die sich nach vierzig Jahren besten Einvernehmens gegen die herrschenden Diktatoren richtete, destabilisiert nachhaltig ganze Regionen (einschließlich Nordafrikas und des Sahel). Das in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen angerichtete Chaos läuft Gefahr, auf das Internationale System überzugreifen. Die den Gotteskriegern unterstellte Irrationalität wird von der Perspektivlosigkeit westlicher Politik und der opportunistischen Wahl ihrer Verbündeten noch übertroffen.
Erschienen in Ossietzky 14/2014 |
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