von Axel Gehring
Schon in den Wochen vor der Gezi-Revolte berichteten selbst etablierte europäische Medien über eine zunehmend »intolerante« Politik der AKP-Regierung in Fragen des »Lebensstils«. Und bereits vor der Revolte bestanden wachsende Widerstände gegen neoliberale und islamistische Projekte der AKP. Bereiche wie Geschlechter-, Medien- oder Bildungspolitik waren umkämpft. Doch im »Westen« dominierte weiterhin die Erzählung eines Demokratisierungsprojektes unter der Ägide einer »islamisch-konservativen« AKP.
Die Revolte war auch eine gegen diese Erzählung und umfasste mehr, als den Kampf um Lebensstile einerseits und den Widerstand gegen neoliberale Konsumptionsmuster am Beispiel der Stadtentwicklungspolitik andererseits. Dieser Kampf gegen die kapitalistische Rationalisierung des Raumes und für selbstbestimmte Lebensweisen verschränkte die Protestbewegung mit einer Kritik am Autoritarismus und Despotismus, aber auch der Außenpolitik der Regierung. Diese unterschiedlichen Momente der Revolte verweisen auf die tiefen Widersprüche innerhalb der islamistisch kodierten (neo-)liberal-kapitalistischen Expansion.
Die geplante Rodung des kleinen Gezi-Parks für ein Einkaufszentrum in Form einer osmanischen Kaserne und die Umgestaltung des angrenzenden Taksim-Platzes stellten ein Projekt neoliberaler Stadterneuerung dar, das – wie häufig in der Türkei – von der AKP gezielt mit islamistischer Kulturpolitik verschränkt war. Gated Communties für eine wohlhabende »religiös-konservative« Klientel oder die Verdrängung von Alkohol aus dem Straßenbild bilden nur einige Beispiele.
Das Stadterneuerungsprojekt betraf mit dem Taksim-Platz auch eines der zentralen Symbole der politischen Kämpfe der türkischen Gewerkschaftsbewegung – inklusive des Massakers vom 1. Mai 1977. Diesem Ereignis folgten seither regelmäßige Niederschlagungen gewerkschaftlicher Mai-Kundgebungen auf dem Taksim. Ferner gehört der blutige 1. Mai zum Vorspiel des Militärputsches am 12. September 1980. Dennoch gehört die Gewerkschaftsbewegung heute nicht zu den Kräften, die den Taksim-Widerstand initiierten. Warum?
Die Zerschlagung der Opposition durch die Junta 1980 traf die organisierte politische Linke sowie die Gewerkschaftsbewegung besonders nachhaltig. Der Putsch brach jene Widerstände, die bis dahin der neoliberalen Wende in der Türkei im Weg gestanden hatten. Sie gewannen ihre alte Kampfstärke nie zurück. Seither begrenzen gesetzliche Hindernisse den Gewerkschaftseintritt und es bestehen hohe Anforderungen für die Tariffähigkeit. Zudem setzt die Mehrheit der Gewerkschaftskonföderationen, wie die Türk-Is, traditionell auf ein kooperatives Verhältnis zu Staat und Kapital oder unterhält, wie die Hak-Is, organische Beziehungen zum politischen Islam. Der linke Zusammenschluss von Gewerkschaften DISK organisiert heute weniger als 100.000 Lohnarbeitende. Alle Konföderationen taten sich in den letzten Jahren schwer damit, Initiativen von der Basis aufzunehmen. Dies hatte sich nicht zuletzt 2009/10 während des Widerstandes der TEKEL-Beschäftigten gegen die Privatisierung des ehemals staatlichen Tabakkonzerns gezeigt.
Unter Einbezug des informellen Sektors, der über 40 Prozent der türkischen Ökonomie ausmacht, liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei knapp über neun Prozent der Beschäftigten. Mitte Juni 2013, auf dem Höhepunkte der Gezi-Proteste, riefen die DISK und einige kleinere Konföderationen zum Generalstreik auf. Etwa zeitgleich erklärte die Regierung, dass sie das Militär gegen Protestierende und Streikende einsetzen wolle. Nur einige zehntausend Mitglieder folgten dem Aufruf. In den 1960er und 70er Jahren war die Gewerkschaftsbewegung ein wichtiger Akteur gesellschaftlicher Widerstände gewesen. Sie hatte mit der damals sozialdemokratisch-kemalistischen CHP eine Politik »nachholender Entwicklung« für eine wohlfahrtsstaatliche kapitalistische Industriegesellschaft verfolgt.
Der Putsch von 1980 markierte das Ende derartiger Versuche und den forcierten Übergang zum autoritären Neoliberalismus. Die türkische Wirtschaft sollte nun ihre Krise durch Exportorientierung lösen und dazu komparative Wettbewerbsvorteile nutzen. Letztere sollten in geringen Löhnen und deregulierten Arbeitsverhältnissen liegen. Für die Mehrheit der türkischen und kurdischen Bevölkerung hatte dies jedoch schon vor 1980 zum Alltag gehört. Während die konservative ANAP-Regierung in den 1980er Jahren eine rechtsliberale Privatisierungspolitik forcierte, bemühte sie sich zugleich um Zustimmung, indem sie zahlreiche informelle Siedlungen (gecekondu) legalisierte und so breiten Bevölkerungsschichten Teilhabe an den Wertzuwächsen des Immobiliensektors ermöglichte.
Während derartige Legalisierungen in der Regel auf klientelistischer Basis erfolgten, spielten persönliche und familiäre Netzwerke eine zentrale Rolle in der sozialen Absicherung. Der Topos der konservativ-patriarchalen Familie stand ebenfalls im Zentrum der sich ausbreitenden islamistischen Ideologie. Von den frühen 1990er Jahren an konnte der politische Islam in Gestalt der Wohlfahrtspartei auf kommunaler Ebene Erfolge verzeichnen.
Während die Wohlfahrtspartei gegen die großen türkischen Holdingunternehmen agitierte, machten sich islamistische Stadtverwaltungen die Politik der Neoliberalisierung zu eigen, denn Privatisierungen kommunaler Dienstleistungen versprachen neue geschäftliche Felder für lokale Unternehmen, die sich erkenntlich zeigten. So ließen sich Hilfsprogramme auf klientelistischer Basis finanzieren. Damit nährten nicht zuletzt Privatisierungen den Mythos islamischer Wohltätigkeit. Neoliberalisierung der Ökonomie, Klientelisierung des Zugangs zu (sozialen) Rechtstiteln und Islamisierung der Wohlfahrt bedingten einander. Dem politischen Islam gelang es, eine Koalition von VerliererInnen und GewinnerInnen der Neoliberalisierung zu schmieden, die durch die zahlreichen Wirtschaftskrisen gefestigt wurde.
2002 wurde die neu gegründete AKP in die Regierung gewählt, die die Traditionen von ANAP und Wohlfahrtspartei unter einem Dach vereinte. Sie verfolgte die neoliberale Strukturanpassungspolitik ihrer Vorgängerregierung weiter. Im günstigen Umfeld der 2000er Jahre führte diese Politik zu einem Zufluss ausländischer Investitionen, die von den Privatisierungen in der Türkei angezogen wurden. Es entstanden »religiös-konservative« Neoliberalisierungs-GewinnerInnen, die auch zu TrägerInnen von Gentrifizierungspolitik wurden. Bis etwa 2011 konnte sich die boomende Wirtschaft gegen die globale Krise behaupten. Zunehmend spielten dabei staatliche Großprojekte eine Rolle.
Der unmittelbare Regierungseinfluss auf Großprojekte, die den urbanen Raum strukturieren, erleichterte eine islamistische Kodierung der kapitalistischen Expansion. Darüber hinaus hatten türkische Unternehmen auf der Suche nach Alternativen zum fragil gewordenen Wachstum in der Türkei die arabischen Staaten und ebenso den Balkan, als Absatzraum, aber auch als Produktionsstandort entdeckt. Mittels einer so genannten neo-osmanischen Außenpolitik begann die AKP diese Expansion zu flankieren. In der Türkei bedeutet Neo-Osmanismus eine islamistische Umkodierung der türkischen nationalen Erzählung durch Zurückdrängung der republikanischen und Betonung der osmanischen Elemente. Vor allem europäische und US-amerikanische Eliten sahen im türkischen Weg eine gelungene Verknüpfung von markwirtschaftlichem Fortschritt und demokratischer Öffnung. Eine Türkei, die ihr »osmanisches Erbe« nutzte, um als regionale Führungsmacht »den Wandel in der Region« zu begleiten, schien ihnen attraktiv.
Insofern die AKP-Regierung ihre außenpolitischen Ansprüche auf Basis des innenpolitisch umstrittenen neo-osmanisches Projektes formulierte, gab es jedoch innerhalb der Türkei erhebliche Widerstände. Dies zeigte sich in besonders drastischer Weise auf dem Feld der Syrienpolitik, wo die türkische Regierung einen erheblichen Anteil daran hatte, die Revolte gegen das Assad-Regime zu einem konfessionsgeladenen innerstaatlichen Krieg zu transformieren. Dieser außenpolitische Eingriff verschärfte ebenfalls tradierte konfessionelle Konflikte zwischen sunnitischer Mehrheit und alevitischer Minderheit in der Türkei. Es besteht ebenfalls ein Zusammenhang zur Gezi-Revolte: Die Neuordnung des urbanen Raumes ist dezidiert sunnitisch. So wurde im Mai 2013 die im Bau befindliche dritte Bosporusbrücke nach Sultan Yavuz Selim benannt, der 1514 Massaker an der alevitischen Bevölkerungsminderheit befohlen hatte.
Mit der brutalen Räumung des Protestcamps gegen die Umwandlung des Gezi-Parks in eine Shopping-Mall von der Gestalt einer osmanischen Kaserne, war ein Ereignis mit außerordentlicher symbolischer Aussagekraft eingetreten. Es repräsentierte die kapitalistische Rationalisierung des Raumes, islamistische Kulturpolitik, Despotismus, die ökologische Frage, umstrittenen Regionalmachtanspruch und die sich verschärfende Diskriminierung der alevitischen Minderheit. Auch deshalb konnten sich die Proteste zu einer beinahe landesweiten Revolte ausweiten, in der Räume mit hohem (proletarisierten) alevitischen Bevölkerungsanteil einige Schwerpunkte bildeten.
Eine bleibende Leistung der Protestbewegung bildet die Offenlegung des Zusammenhanges von Neoliberalismus, Autoritarismus und Islamismus sowie die Demaskierung der Erzählung vom Demokratisierungsprojekt der AKP. Während diese die Repressionsapparate des alten Entwicklungsstaates nicht abschaffte, sondern umbaute und sich aneignete, demontierte sie (in Kontinuität zur Militärjunta) jene Staatsapparate und Gruppen, die seit den 1960er Jahren Träger einer sozialdemokratischen bis antikapitalistischen Rationalität gewesen waren.
Dazu gehört auch die Gewerkschaftsbewegung. Sicher war die Gezi-Revolte kein primär gewerkschaftlicher Kampf. Umgekehrt konnte sich die Revolte auch aufgrund der Schwäche der Gewerkschaftsbewegung nicht weiter verbreitern. So bleibt der gegenwärtige Richtungskampf in der Türkei – der sich nicht zufällig an der den Großprojekten inhärenten Korruption entlädt – möglicherweise ein Kampf innerhalb des Machtblocks. In diesem bemüht sich vor allem die Gülen-Bewegung um Beteiligung an Bündnissen, die versuchen, den kriselnden türkischen Neoliberalismus auf eine neue expansive Grundlage zu stellen. Wirtschaftspolitisch könnte das weg vom immobilien- und konsumbasierten Wachstum führen; und hin zu einer stärkeren Technologieorientierung. Die Bereitschaft der Gülen-Bewegung, die von der Protestbewegung artikulierte Kritik zu instrumentalisieren, sollte jedenfalls nicht unterschätzt werden.
Axel Gehring ist Mitherausgeber des Infobrief Türkei.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 342 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.
https://sopos.org/aufsaetze/539eb609967ce/1.phtml
sopos 6/2014