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Zu den ersten Holzschnitten Kirchners gehört die Folge »Zwei Menschen« (nach Richard Dehmels Roman in Romanzen) von 1905/6, noch stark dem Jugendstil verhaftet. Blatt 1 »Die Sehnsucht« erinnert an Hodlers Gemälde »Blick ins Unendliche« – etwa gleichzeitig entstanden. Blatt 5 »Über den Köpfen der Philister«: das Motiv wie auch der Zusatztitel »Vor den Menschen«. Ebenso wie das Gemälde von Kirchner in der Hamburger Kunsthalle von 1924: ein nacktes Paar, verhöhnt von feixenden Gaffern. Warum ist das Bild nicht als »Gegenüberstellung« zur Druckgraphik und Malerei (wie in den »Raumtexten« an der Wand beschrieben) ausgeliehen worden? 1905 gründet Kirchner – er hat gerade sein Architekturstudium in Dresden beendet – zusammen mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff die Künstlergruppe »Brücke«. 1906 entstehen viele Bilder junger Frauen, so der Farbholzschnitt »Ruhendes Mädchen mit Kopfschmerzen«. Die Hand an der Stirn sitzt sie im blauen Kleid inmitten von lodernden Flammen. Der Schwarz-Weiß-Holzschnitt »Dodo im gestreiften Kleid« hat einen genauso unruhigen Hintergrund. Hier wirken die Blätter oder Pflanzen als graphisches Element gegenüber den Streifen des Kleides. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Holzschnitten von Félix Vallotton ist nicht zu verkennen. Doch Kirchner verneinte kategorisch, daß er von anderen Malern beeinflußt sei. Er sah jeden Abzug vom Druckstock als eigenständig an – nicht als Vervielfältigungsmittel – und machte diese Arbeit selbst. Immer wieder Tänzerinnen und Badende an den Moritzburger Teichen, auf Fehmarn. Die »Mit Schilf werfende Badende«, ein Farbholzschnitt von 1909 in Grün, Schwarz und Ocker, sehr stilisiert. 1911 zieht Kirchner nach Berlin. Seine handkolorierte Lithographie in Violett »Eisenbahnunglück« von 1914 wird in der Pressekonferenz als eine Vorahnung auf den kommenden Weltkrieg gesehen und Jakob van Hoddis‘ Gedicht »Weltende« zitiert: »Die Eisenbahnen fallen von den Brücken«. Ludwig Meidners »Apokalyptische Landschaften«, die visionär den Krieg voraussehen, wurden schon 1912 gemalt. Kirchner wird den Krieg noch kennenlernen, kurz, aber es reicht. 1915 hatte er sich »unfreiwillig freiwillig« gemeldet. Er hoffte, so Einfluß nehmen zu können auf die Waffengattung. Er hat Glück, sein Reitlehrer ist der mit Nolde befreundete Jurist Hans Fehr, der ihn bald beurlaubt vom Mansfelder Artillerie-Regiment in Halle. Und schon Mitte Dezember wird Kirchner als »dienstuntauglich« zurückgestellt und in ein Sanatorium im Taunus eingewiesen. Das Jahr 1915 ist für den Künstler sehr fruchtbar. Es entstehen Gemälde wie »Der Maler als Soldat«, ein Selbstbildnis in Uniform. Sein rechter Arm – nur noch ein Stumpf, die Hand fehlt. Es ist die Angst vor Verletzung, besonders der Hand. Nicht mehr malen zu können – für den Künstler das Schlimmste. Was ihm bevorsteht, kann er nicht wissen: die teilweise Lähmung der Hände. Eine Folge von Farbholzschnitten zu Adelbert von Chamissos »Schlemihl«, auch 1915 geschaffen. Das Blatt »Schlemihl in der Einsamkeit des Zimmers«: So sieht er sich selbst, geflüchtet vor den ihn bedrängenden Menschen, die hinten – in giftigen Gelbtönen – anrücken. Immer wieder muß er ins Sanatorium. 1917/18 verbringt er im schweizerischen Kreuzlingen am Bodensee. Schlaf- und Schmerzmittel haben seine Gesundheit zerrüttet. Es entstehen dort Holzschnitte, Porträts von dem Arzt Ludwig Binswanger, vom Komponisten Otto Klemperer, von Leonhard Frank, Carl Sternheim. Und dieses merkwürdige »Selbstporträt als Kranker« (1917). Sein Gesicht hat etwas von einem Tierfell oder gar keine Haut? Er nennt es auch »Kopf des Kranken«, doch die Hände sind es, die wie in Zeichensprache etwas Unsagbares ausdrücken. 1918 entstand auf der Rückseite dieses Holzstocks das Porträt von seinem Kunsthändler Ludwig Schames, sehr ruhig, ja würdig, ganz im Gegensatz zum Selbstporträt. Im September 1918 mietet Kirchner in der Nähe von Davos ein Bauernhaus. Seine Lebensgefährtin Erna Schilling bleibt vorerst in Berlin, um dort sein Atelier zu betreuen. Aus Berlin kommt 1933 ein Brief vom Präsidenten der Preußischen Akademie der Künste, Max von Schillings, mit der Bitte, Kirchner möge doch austreten. »Etwas komisch« erschiene es ihm, antwortet der Maler, nach so langer Zeit zurückzutreten. Seit 16 Jahren lebe er im Ausland. Er kämpfe durch seine Arbeit für eine »neue, starke und echte deutsche Kunst«. Er sei, schrieb Kirchner, »weder Jude noch Sozialdemokrat noch sonst politisch tätig gewesen und habe auch sonst ein reines Gewissen«. War es Lakonie oder Unwissenheit? Bald wurden 639 seiner Werke beschlagnahmt, 32 an die Schandausstellung »Entartete Kunst« ausgeliefert 1937. Ende Juli desselben Jahres schließt ihn die Akademie aus. Vorher, am 12. Juli, hatte er noch dem stellvertretenden Präsidenten Georg Schumann geschrieben: »Ich bin doch kein Feind. Wenn ich gesund wäre, würde ich ja so gern mitarbeiten am Aufbau einer neuen deutschen Kunst.« Er habe nie einer politischen Partei angehört. »Meine Arbeit kommt aus dem einfachen menschlichen Empfinden und richtet sich an dasselbe.« Da lebte er schon lange in der Schweiz. Österreichs Anschluß an Deutschland im März 1938 führt bei Kirchner nun doch zur Angst, die Nazis könnten über die österreichische Grenze in Graubünden einmarschieren. Er zerstört viele seiner Druckstöcke und Holzskulpturen. Am 6. Mai hat er seinen 58. Geburtstag. Aus Deutschland kommt keine Gratulation. Er beantragt das Aufgebot zur Eheschließung mit Erna und zieht es bald darauf wieder zurück. Was geht in ihm vor? Am 15. Juni erschießt er sich. »Kirchner. Das expressionistische Experiment« – noch bis zum 7. September; Katalog, 238 Seiten, 39 €
Erschienen in Ossietzky 13/2014 |
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