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Noch mehr erstaunt es mich, daß auch ein roter Kinderwagen eingelagert ist – bis sich der rechtmäßige Besitzer meldet. Wenn das nicht innerhalb eines Jahres geschieht, hat der Finder Anspruch auf seinen Fund. Falls aber auch der den Krempel nicht haben will, werden die Fundstücke versteigert, verschenkt oder einfach weggeschmissen. Ob sich wohl jemand für die Haider-Videos findet? Oder ob sie letztendlich im Müll landen, wo sie seit eh und je hingehört hätten? Wie kann man, denke ich, bloß so ein Monstrum wie ein Surfbrett verlieren oder gar einen Kinderwagen? In einer Informationsbroschüre des St. Pöltner Fundamtes heißt es lebensklug: »Schmuck, neuwertige Handys, Fotoapparate, Laptops, MP3-Player und Brillen finden leider nicht immer den Weg ins Fundamt.« Der ärarische Lagerraum ist nicht belüftet. Eine Neonröhre, die einzige Beleuchtung, flackert. Unter solchen Umständen bin ich auf den Meldezettel von Leopold Karner gestoßen. Denn weit mehr als die Ansammlung sperriger Fundsachen, die ihrer Rückgabe, Versteigerung oder Beseitigung harren, interessierten mich die alten gußeisernen Karteikästen, die dort ebenfalls gelagert werden. Im Jahr 2002 wurde das Meldewesen in Städten mit Bundespolizeibehörden an die jeweiligen Kommunen übertragen – eine Sparmaßnahme des damaligen Finanzministers Grasser. Die Stadt St. Pölten erbte nolens volens nicht nur diese neue Aufgabe, die ihr finanziell nicht abgegolten wurde und wird, sondern auch das historische Meldearchiv der Bundespolizeidirektion St. Pölten. Mitüberstellt wurden auch die ausgeleierten Karteikästen. Dieses Archiv besteht meiner groben Schätzung nach aus 150.000 Meldezetteln, die aus dem Zeitraum der letzten Jahre des 19. bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts stammen – bis dato unbearbeitetes Material, das jeden (Lokal-)Historiker reizen müßte. Laut seinem Meldezettel wurde Leopold Karner am 21. März 1896 als außereheliches Kind seiner Mutter Theresia in Rossatzbach im niederösterreichischen Bezirk Krems geboren. Als seine »Heimatsgemeinde« ist Krummnußbaum im Bezirk Melk angegeben, als Beruf »H. A.«, also Hilfsarbeiter, als Staatsangehörigkeit Österreich, als Familienstand ledig und als Religion »r. k.«, also römisch-katholisch. Ab 11. Mai 1938 ist Leopold Karner in der Jean-Paul-Straße in St. Pölten gemeldet, die in Klammer hinzugefügte Kurzbezeichnung der Liegenschaft ist unleserlich. Unter der Rubrik »Zugezogen woher« ist in akkurater Handschrift »Wanderschaft« eingetragen. Mit Datum 21. Juli 1938 wird die Abmeldung nach »Dachau« amtlich vermerkt. In einer Datenbank des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) findet sich noch die Eintragung: »Gestorben 10. Januar 1940 in Mauthausen.« Der Sachbearbeiter Winfried R. Garscha hat noch hinzugefügt: »eingeliefert als »Arbeitsscheuer« zur Zwangsarbeit. Zu dieser Zeit wurde im KZ Mauthausen noch »Vernichtung durch Arbeit« betrieben – erst der für die Nazis ungünstige Kriegsverlauf erforderte den Einsatz von KZ-Häftlingen für produktive Zwecke und damit ihre bessere Versorgung.« Das ist alles, was von Leopold Karner geblieben ist, das ist alles, was wir von Leopold Karner wissen. Es ist wohl kein Zufall, daß ein armseliger Tagelöhner und Vagabund, der von den Nazis durch mindestens zwei KZs geschleift worden ist, bis er zu Tode geschunden war, 1938 in der Jean-Paul-Straße Obdach gefunden hatte. Diese erst 1933 geschaffene Stichstraße lag und liegt am nördlichen Ende der sogenannten Eisberg-Siedlung. Die Siedlung – heute eine der besseren Wohnlagen der niederösterreichischen Landeshauptstadt mit vielen neuen Einfamilienhäusern – wurde in den dreißiger Jahren »Bretteldorf« genannt und war ein weitgehend »wild« errichtetes Notwohnquartier von Arbeitslosen, Ausgesteuerten und Pauperisierten auf dem lehmig-sumpfigen Gelände einer aufgelassenen Ziegelei. Der alte Flurname der Gegend lautete Kaltenbrunn. Seit 1886 hatte hier eine große Ziegelbrennerei bestanden, die zahlreiche Teiche hinterlassen hatte. In den Wintern sägten St. Pöltner Gastwirte, aber auch Fleischhauer und Lebensmittelhändler große Eisplatten aus den zugefrorenen Teichen und ließen sie zur Kühlhaltung bis in den Sommer hinein in ihre tiefen Vorratskeller schaffen. Kühlschränke und Gefriertruhen waren noch nicht erfunden, aber Bier, Fleisch und andere Lebensmittel mußten kühlgehalten werden. Daher auch der Name Eisberg. Unter den Menschen des damaligen Bretteldorfes am Eisberg dürfte eine armselige Existenz wie Leopold Karner kaum aufgefallen sein, jedenfalls bis ein damaliger NS-Beamter oder -Funktionär seinen Meldezettel mit dem Vermerk »Wanderschaft« und sein Vorstrafenregister, den Sündenkatalog eines Vagabunden, der heute fein säuberlich getippt an den Meldezettel angeheftet ist, miteinander in Beziehung setzte und seine Deportation in das KZ Dachau veranlaßte. Am 23. April 1914 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Haugsdorf nach Paragraph 468 des Strafgesetzbuches, also wegen »boshafter Beschädigung fremden Eigentums« zu vier Wochen Arrest verurteilt. Danach folgten bis in die Dreißiger Jahre gut zwei Dutzend Verurteilungen durch Gerichte in St. Pölten, Krems, Mank, Kufstein, Leonfelden, Hartberg, Linz, Dornbirn, Engelhartszell, Kitzbühel und St. Peter in der Au. Karner wurde wegen diverser Diebstahlsdelikte, aber auch immer wieder nach dem sogenannten Vagabundengesetz von 1885 verurteilt, das unter anderem Folgendes unter Strafe stellte: »§ 1. Wer geschäfts- und arbeitslos herumzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitze oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher zu bestrafen. Die Strafe ist strenger Arrest von ein bis zu drei Monaten.« Auch wegen einer weiteren Straftat wurde Leopold Karner nach diesem Gesetz des öfteren angeklagt, verurteilt und eingesperrt: »§ 2. Wegen Bettelns ist zu bestrafen: 1. Wer an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch nimmt. Die Strafe ist strenger Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten.« 1927 wurde Leopold Karner vom Bezirksgericht Graz nach Paragraph 312 des Strafgesetzbuches, also wegen »Beleidigungen der öffentlichen Beamten, Diener, Wachen, Eisenbahnangestellten und so weiter« zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt. Kein Frage, daß Leopold Karner mit einer solchen Latte an Vorstrafen gerade in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der 1920er und 30er Jahre wohl nirgends in Österreich eine ordentliche Arbeitsstelle gefunden hat, wahrscheinlich auf mühselige und schlecht bezahlte Tagelöhnerjobs etwa als saisonaler Erntehelfer angewiesen war und sich daher niemals aus dem Vagabundenleben befreien konnte. Seine bittere Armut und vermutlich langjährige Obdachlosigkeit kosteten ihn schließlich sogar das Leben, der Verwaltungsmord an der armseligen Karnerschen Existenz wurde im KZ Mauthausen endgültig vollstreckt. Leopold Karner ist wohl kein beispielhaftes, kein edles und makelloses, kein heldenhaftes NS-Opfer, schon gar kein Widerstandskämpfer. Er taugt nicht für die Geschichtsbücher. Keine politische Richtung würde ihn für sich reklamieren wollen. Er ist Zeit seines Lebens öfters mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt geraten. Aber wenn er gestohlen hat, dann wohl nur, um sein armseliges Leben zu fristen, um nicht zu verhungern. 1955, kurz nach dem Abzug der Roten Armee aus St. Pölten, wurde wohl auf Betreiben des sozialdemokratischen Bürgermeisters Dr. Wilhelm Steingötter die Jean-Paul-Straße in Weinheberstraße umbenannt. Der neue Namenspatron war der österreichische Schriftsteller und einstige prominente (Kultur-)Nazi Josef Weinheber. Der 1892 in Wien geborene Sohn eines Fleischhauers und Viehhändlers wurde nach dessen Tod 1901 in das Hyrtlsche Waisenhaus in Mödling gegeben. Ab 1909 arbeitete er zunächst bei der Austria-Brauerei in Wiener Neudorf, danach als Pferdefleischhauer in Wien. 1911 trat er in die Dienste der Post. 1920 debütierte er mit dem Lyrikband »Der einsame Mensch«. 1925 erschien der autobiographische Roman »Das Waisenhaus«. 1932 ging er als Postinspektor in Pension und lebte als freier Schriftsteller. »Enttäuscht von dem mangelnden Erfolg seiner Bücher und überzeugt von der eigenen ›dichterischen Größe‹ war Weinheber schon am 18. Dezember 1931 der NSDAP beigetreten. Er avancierte zum Fachschaftsleiter für Schrifttum im österreichischen ›Kampfbund für deutsche Kultur‹ und arbeitete nach dem Verbot der NSDAP in Österreich im Juni 1933 illegal weiter für die Partei. Als Kulturreferent der Wiener Gauleitung wurde er bei einem konspirativen Treffen im März 1934 verhaftet«, schrieben Hans Sarkowicz und Alf Mentzer in ihrem biografischen Lexikon »Literatur in Nazi-Deutschland«. Im selben Jahr schaffte er mit dem Lyrikband »Adel und Untergang« den Durchbruch. 1936 wurde ihm honoris causa der Professorentitel verliehen. 1941 nahm er aus Goebbels‘ Händen den Grillparzer-Preis in Empfang. Ehrendoktortitel der Universität Wien, Ehrenmitgliedschaft der Wiener Akademie der Bildenden Künste und der Ehrenring der Stadt Wien folgten 1942. Drei Jahre später – die Rote Armee rückte heran – beging Josef Weinheber Selbstmord. Bei der Umbenennung der Jean-Paul-Straße in Weinheberstraße in der Sitzung des St. Pöltner Gemeinderates vom 21. November 1955 entwickelte sich eine hitzige Debatte. Auszüge aus dem Protokoll: »Gemeinderat Kupferschmid: Wer in den letzten 15 Jahren in St. Pölten gelebt hat, weiß, welchen Rummel man hier in den Jahren 1940 bis 1942 um Josef Weinheber gemacht hat. Es hat zahllose Abende gegeben, an denen dieser Dichter, der ein ausgesprochener Nazidichter war, Vorlesungen abgehalten hat, die große Parteiveranstaltungen waren. Ich glaube, es ist in unserer Zeit und gerade im Jahr der Befreiung und des Abschlusses des Staatsvertrages sowie des Abzuges der Besatzungsmächte wirklich nicht einer Stadt wie St. Pölten würdig, einem Nazi ein Denkmal zu setzen, indem man nach ihm eine Straße benennt. Zwischenruf Gemeinderat Lininger: Weil er zufällig kein Kommunist war! Gemeinderat Dr. Korner: Ich glaube, daß das gute Gefühl des österreichischen Volkes in dem Namen Josef Weinheber heute nur den Dichter kennt und nicht, wie hier dargestellt wird, den Nazi. Bürgermeister Dr. Steingötter: Josef Weinheber gehört – und ich bitte die Mitglieder der Kommunistischen Partei, sich in unserer Volksbibliothek die notwendigen Unterlagen zu verschaffen – zu den größten Dichtern, die wir in der Jetztzeit, also in den letzten Jahren gehabt haben. Daß damals die St. Pöltner Nationalsozialisten besonders begeistert waren, hängt damit zusammen – da muß ich die KPÖ-Gemeinderäte daran erinnern –, daß zu dieser Zeit irgendeine andere Partei ja gar keine Dichterabende veranstalten konnte. Ich bedaure heute dieses politische Abgleiten in der Beurteilung eines Dichters. Wir können weder bei Goethe noch bei Schiller oder bei irgend einem Dichter, auch nicht bei Grillparzer, über seine dichterischen Qualitäten urteilen und vielleicht dabei nachforschen, welcher Gesinnung die Betreffenden gewesen sind. Aber es ist unzweifelhaft, daß Weinheber ein großer deutscher Dichter war, und hätte er sich gerade im Sinne des Nationalsozialismus so wie viele andere geirrt, dann hat er seinen Irrtum mit dem Selbstmord besiegelt […]. Weinheber gehört zu den bedeutendsten Lyrikern, die wir in der letzten Zeit in der deutschsprechenden Welt gehabt haben. Er ist vor allem auch ein Österreicher, und infolgedessen, glaube ich, können wir gar nicht anders, als daß wir diesen Antrag auf eine Weinhebergasse annehmen. Schließlich haben wir das getan, weil Weinheber es verdient, unter allen Dichtern genannt zu werden. Und dann ist leider der Jean Paul so unglücklich mit seinem Namen daran, daß, wenn man in diese Gegend gekommen ist, man die schrecklichsten verzerrten Namen gehört hat. Das hat uns bewogen, dieser unglücklich gewählten Jean-Paul-Straße ein Ende zu machen […]. Dem Jean Paul ist Weinheber mindestens gleichwertig. Dies kann jede Literaturgeschichte bezeugen.« So war nicht nur die armselige Karnersche Existenz per Verwaltungsmord vernichtet worden, was die Gemeinderäte des Jahres 1955 natürlich nicht wußten oder schon längst wieder vergessen hatten, sondern auch der Straßenname seines letzten Quartiers vor der Deportation ausgelöscht. Weinheber triumphierte nicht zufällig. Er war damals der österreichischen Seele wohl näher als ein minderbekannter deutscher Klassiker mit einem französischen, aus Begeisterung für die Französische Revolution angenommenen Namen, den man nur schwer aussprechen konnte. Nach dem Abzug der Sowjets durfte man sich eben wieder zu den eigenen kulturellen Vorlieben bekennen.
Erschienen in Ossietzky 13/2014 |
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