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Die FAZ hat mit dem deutschen Filialchef des US-amerikanischen Finanz-»Dienstleisters« CBRE gesprochen, der weltweit umsatzstärksten Firma für Investitionen in Immobilien. »Würde der deutsche Immobilienmarkt von einer Eskalation der Ukraine-Krise sogar profitieren?« fragte sie ihn; die Antwort: »Ja, damit ist zu rechnen. Eine Eskalation würde dazu führen, daß das ohnehin schon starke Interesse an Deutschland als stabilem Investitionsziel weiter beschleunigt wird.« So hat auch die Explosion von Gewalt, wenn sie anderenorts geschieht, ihre wirtschaftsfördernden Wirkungen, jedenfalls für die Liebhaber von »stabileren Assetklassen mit weniger Volatilität«, wie der Experte für Kapitalverwertung es ausdrückt. M. W. Merkel in der ZwickmühleBeim Versuch der Westmächte, die Kontrolle über die Ukraine zu gewinnen und die militärische Einkreisung Rußlands (und Chinas) fortzusetzen, dürfen wir die Widersprüchlichkeit ihres Vorgehens nicht übersehen: Einerseits das gemeinsame Interesse von USA und EU, die fortschreitende Krise des Kapitalismus durch die Erschließung neuer Märkte zu überwinden, da eine gründlichere Ausbeutung vorhandener Märkte wegen des zunehmenden Widerstands der Bevölkerungen an ihre Grenzen stößt (als einziger Ausweg bliebe ihnen allenfalls noch der Faschismus). Andererseits unterschiedliche, dem Wesen nach gegensätzliche Interessen im Streben nach der Vormachtstellung innerhalb des kapitalistischen Lagers (USA, EU und Japan, dem erst im Konflikt mit China eine größere Rolle zuwachsen wird). Ziel der USA ist es einerseits, gemeinsam mit der EU die Kontrolle über die Ukraine zu gewinnen (und damit der NATO das weitere Vorrücken gegen Rußland zu ermöglichen), andererseits Rußland und die EU zu schwächen, um sich über beide zur »Einzigen Weltmacht« (Zbigniew Brzeziński) zu erheben. Im Kriegsfall wird Entsprechendes gelten – nach dem Muster des Zweiten Weltkriegs: Nazideutschland und Sowjetunion bis zum Ausbluten beider Länder kämpfen zu lassen, um dann abzuräumen – was damals noch nicht ganz gelang, weil die USA die Rote Armee unterschätzt hatten. Die Spitzen der europäischen Wirtschaft begreifen das offenbar, Folge sind ihre Einsprüche gegen Berlin und Brüssel. Angela Merkel ist dadurch in die Zwickmühle geraten: Druck aus den USA, sich gegen Rußland zu positionieren, und Warnungen aus der deutschen Wirtschaft vor ungünstigen Auswirkungen einer verstärkten antirussischen Sanktionspolitik auf die fortschreitende Krise der EU, denn die Wirtschaftsbeziehungen vor allem der BRD mit Rußland haben sich entwickelt und entwickeln sich weiter, während die USA keine nennenswerten Handelsbeziehungen mit Rußland haben. Rolf Becker Neben- und HauptsächlichkeitenDa hat ein Journalist und promovierter Jurist, dessen 2013 erschienene Biografie über Fritz Bauer mit Lob überschüttet worden ist, auf Teufel komm' raus abgeschrieben, ganze Absätze hat er mit winzigen Abänderungen aus einem 1995 erschienenen Spiegel-Artikel übernommen, und bis auf die Universität Heidelberg, an der Fritz Bauer studiert hat, hat es bisher niemand gemerkt (Ronen Steinke: »Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht?«). Steinke nimmt es offenbar nicht so genau mit seinen Quellen und mit den Fakten. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung schrieb er, bei Beginn des Auschwitz-Prozesses 1963 sei die Weltpresse in einen 120 Meter langen Saal eingeladen worden. Das bezog sich auf den Plenarsaal der Stadtverordneten im Frankfurter Römer. Ich schrieb ihm, diese Angabe sei unzutreffend. Er antwortete – ohne Berichtigungsabsichten zu erwähnen –, ihm sei etwas durcheinandergegangen. 120 Meter lang sei der Saal im Bürgerhaus Gallus gewesen, in dem der Prozeß seit Frühjahr 1964 stattgefunden habe. Der Plenarsaal im Römer sei zwar auch lang, nämlich 80 Meter, aber doch nicht ganz so lang. Damit fügte er der einen falschen Angabe zwei falsche Angaben hinzu. Denn die Länge des Plenarsaals beträgt nach Angaben des Büros der Stadtverordnetenversammlung nicht 80, sondern 23,8 Meter, und der Saal im Haus Gallus nach Auskunft der Hausverwaltung nicht 120, sondern 24,9 Meter. Ich finde es schon bemerkenswert, daß ihm die Absurdität einer Gerichtsverhandlung in einem Saal von der Größe eines Fußballfeldes nicht aufgefallen ist. Noch bemerkenswerter finde ich es, daß er es nicht für nötig befunden hat, seine falschen Angaben zumindest nachträglich zu überprüfen. Das sind Nebensächlichkeiten, gewiß, aber auch sie verdienen es, der Nachwelt wahrheitsgemäß überliefert zu werden. Nicht nebensächlich ist es, daß Ronen Steinke in seiner Bauer-Biografie das Gerücht über Bauers angebliche Homosexualität in die Welt setzt, zu der sich der hessische Generalstaatsanwalt selbst öffentlich nie bekannt hat. Steinke lenkt damit von den Verdiensten eines Mannes ab, dessen sexuelle Orientierung für die Bewertung seines Lebenswerkes völlig unerheblich ist. Obendrein unterstellt er Bauer, dieser habe 1933 zusammen mit anderen inhaftierten Sozialdemokraten, eine Unterwerfungserklärung unterschrieben, um die Freiheit wiederzuerlangen. Beides, die angebliche Homosexualität Fritz Bauers und dessen angeblicher Kotau vor der Naziführung werden aus unerfindlichen Gründen auch in einer Frankfurter Ausstellung thematisiert, die dem Namen nach Fritz Bauers Wirken als Staatsanwalt gewidmet ist. Conrad Taler Unser Freund Archistammt aus einer armenischen Familie und ist Maler und Grafiker. Er stellte 2012 in der Berliner GBM-Galerie seine Kunstwerke aus und wurde dort von der armenischen Ministerin für die Diaspora im Beisein des armenischen Botschafters mit der Verdienstmedaille der Republik Armenien ausgezeichnet. Im April 2015 jährt sich zum 100. Male der grausame Genozid am armenischen Volk (Ossietzky 10/12). Archi lebt in Deutschland. Er ist Mitglied der Bürgerbewegung »Das Wesen der Zeit«, die am 8. Mai 2014 vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten eine Aktion durchführte unter dem Thema »Faschismus im XX. und XXI. Jahrhundert«. Diese Aktion wurde am 9. Mai vor dem Treptower Ehrenmal weitergeführt. Zum Wesen des ukrainischen Nationalismus, der Faschisierung und zu den heutigen Ereignissen in der Ukraine überzeugten Studenten die Besucher mit Fakten. Ziel der Veranstaltung war es, sich zu wehren gegen Geschichtsrevisionismus und russophobe Propaganda, gegen einen neuen Krieg für alte Ziele. Vor allem junge, wißbegierige Menschen waren gekommen, legten Blumen nieder, auch an den Panzern, die ja nach dem Willen von CDU-»Pazifisten« verschwinden sollten, und gedachten der gefallenen Sowjetsoldaten. Archi Galentz ist Kurator einer noch bis zum 7. Juni 2014 laufenden Ausstellung im »Sprechsaal« in der Marienstraße in Berlin-Mitte (geöffnet Mi. bis Sa., 14 bis 22 Uhr) unter dem Thema »Armenien, Armenien! Fünf Annäherungen an eine Wiederentdeckung«. Zu sehen sind Werke der Gegenwartskunst aus Armenien und armenischer Künstler, die in der Diaspora leben. Zahlreiche Veranstaltungen (s. www.sprechsaal.de) begleiten die Ausstellung und bringen neue Erfahrungen. Maria Michel Ungeschönte Erinnerung»Sie sind eine Persönlichkeit, der man keinen Unsinn vormachen kann«, sagte die Wahrsagerin zu der gerade Zwanzig gewordenen Marie Jalowicz. Ein sehr hellsichtiges Urteil, und auch die »Vision«, von der sie ihr während der »Sitzung« berichtete, sollte sich als eine geradezu lebensrettende herausstellen. Fünfzig Jahre später, 1993, meinte Marie Simon in einem Vortrag: »Das Überleben jedes einzelnen Untergetauchten beruht auf einer Kette von Zufällen, die nicht selten kaum glaublich und wunderbar zu nennen sind.« Diese Selbstreflexion der emeritierten Professorin für antike Philosophie und Kulturgeschichte findet sich jedoch nicht in ihrem Erinnerungsbericht, sie ist in dem schönen Nachwort ihres Sohnes Hermann zitiert. Was Marie Simon in ihrem letzten Lebensjahr auf 77 Kassetten sprach, zeigt bloß, mit Ranke zu reden, »wie es eigentlich gewesen«, schonungslos und ungeschönt, ohne Selbststilisierung und auch ohne jede Quellenkritik. »Ich wollte eigentlich keine anderen Quellen benutzen als meine Erinnerung«, meinte sie zu ihrem Sohn: »Ein Frosch sollte seine Erlebnisse aus der Froschperspektive schildern. Bei aller Begrenztheit des Ausschnitts, bei aller Färbung dieses Bildes, das entsteht, ist das dann von objektivem Wert, nämlich als das Objektive seiner Subjektivität. Der Frosch soll nicht so tun, als könne er fliegen und sehe die Dinge aus der Adlerperspektive. Dann wird alles falsch und schief.« Das wird gleich deutlich im Prolog, wo das »Fröschlein« mit dem »Gummidirektor« Galecki zusammentrifft, einem fanatischen Nazi, bei dem Marie Jalowicz für einige Tage unterkommen sollte. Seine Umwelt nannte ihn berlinisch »Galekki«, aber als sie das Namensschild an seiner Wohnungstür sah, »machte ich meinen ersten Fehler«: Sie sprach ihn korrekt mit »Galezki« an, was ihm wohl noch nie widerfahren war. Es kostete sie eine kleine Lüge, ihm weiszumachen, woher sie wisse, wie ein polnisches »ck« auszusprechen ist. Künftig zog es das Mädchen aus gutbürgerlichem Hause vor zu berlinern. Dies wiederum wäre ihr bei einem kurzzeitigen Aufenthalt in Magdeburg fast zum Verhängnis geworden, denn dort fiel sie mit ihrem Dialekt auf. Auffallen aber, das konnte eine Untergetauchte am wenigsten gebrauchen. Ihre Eltern hatten noch eines natürlichen Todes sterben dürfen, die Mutter 1938, der Vater 1941, und Geschwister hatte sie keine. Nun war sie Vollwaise, wollte überleben und ließ sich deshalb aus der Zwangsarbeit entlassen (kündigen durfte sie ja nicht). Als der Postbote ihr eine erneute Aufforderung vom Arbeitsamt übergeben wollte, sagte sie ihm, daß das Fräulein Jalowicz »unbekannt in den Osten verzogen« sei (wodurch sie aus der Kartei des Arbeitsamts verschwand). Solches Amtsdeutsch hatte sie zehn Sekunden zuvor aus seinem Munde vernommen. Ihre schnelle Auffassungsgabe, ihre Fähigkeit, blitzartig zu reagieren und auf doof oder ordinär umzuschalten, dazu das damals ziemlich »arische« Aussehen, das ihr, wie die dem Band beigegebenen Fotografien zeigen, der Vater »vererbt« hatte – all dies waren lebensrettende Zufälle, die sie mit ungeheurem Lakonismus erzählt, und zu denen auch dieser gehört: Als sie den Gestapoleuten, die sie »abholen« sollten, im Unterrock entwischt war – eine absolut filmreife Szene –, sprach sie hinter der nächsten Straßenecke »den Erstbesten« an, einen älteren Arbeiter, der ihr mit seiner Windjacke aushalf, sie bis zu irgendwelchen Bekannten von ihr begleitete und vor dem Hauseingang die Jacke zurückbekam. Ebenso lakonisch spricht sie über ihre »sexuellen Dienste«, die bald nach dem Tod der Mutter begannen. Vater und Tochter wohnten schon zur Untermiete bei einem jüdischen Ehepaar, und zwischen dem Vater und der Frau des Hauptmieters entspann sich eine Liebesbeziehung. Sie berichtet: »Die Situation spitzte sich zu. Wenn wir nicht auf die Straße gesetzt werden wollten, so dachte ich, muß ich etwas tun. Das bedeutete: Ich mußte dem Ehemann dieser Frau zu Willen sein. Ich war in sexueller Hinsicht schon erfahren und dachte: Was soll’s. Bringen wir es hinter uns.« Dies Bringen-wir-es-hinter-uns mußte sie sich in den folgenden Jahren noch manches Mal sagen. Hier aber, sie gingen in ein ehemals sehr gutbürgerliches jüdisches Hotel, geschieht etwas Urkomisches: »Und wen traf ich da auf der Treppe? Meine Turnlehrerin. Wir lächelten uns an. Die war also auch mit einem Mann da. Und ich war noch Schülerin.« Absatz. Neue Geschichte. In den Erinnerungen fehlt die eingangs angesprochene Ebene metatheoretischer Reflexion, über das Objektive der Subjektivität und so weiter, scheinbar völlig. Wer sich aber der Arbeiten von Marie Simon und ihrer Vortragsweise erinnert, wird sie hinter dem Erzählten immer wieder entdecken. Das ist schon große Kunst, Kunst des Erzählens, an deren Wiedergabe die Bearbeiterin, Irene Stratenwerth, einen gewiß nicht kleinen Anteil hat: »Die Stimme meiner Mutter höre ich aus jeder Zeile ihres vorliegenden Textes«, bezeugt ihr Sohn, der, selber Historiker, die Erinnerungen im nachhinein überprüft und, zur Selbstvergewisserung, den verwickelten Gang der Ereignisse rekonstruiert hat. Beide stellten bei der Bearbeitung immer wieder fest: »Marie Simon hatte recht. Sie hat eigentlich alles Notwendige dazu gesagt.« Thomas Kuczynski Marie Jalowicz Simon: »Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940–1945«, bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, S. Fischer Verlag, 415 Seiten, 22,99 € Selbstbewußt und stolzEin Schöngeist zu sein und dennoch Sinn für das jeweils Machbare der Zeit zu haben – zwei Eigenschaften, die ein Verleger braucht. Elmar Faber besitzt sie. Als Leiter der Edition Leipzig hat er mit ausgewählt schönen Büchern der DDR Devisen und Ansehen verschafft, und als Chef des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar und von Rütten & Loening wichtigen zeitkritischen Büchern in die Öffentlichkeit verholfen. Der Lebenslauf des Achtzigjährigen unterscheidet sich nicht viel von dem anderer Generationsgefährten: Aus armen Verhältnissen aus einem Thüringer Dorf kommend, nimmt der wißbegierige, kluge Junge nach dem Krieg alle Möglichkeiten wahr, um zu lernen, etwas zu werden, sich einzubringen. Als Student sitzt er schließlich im berühmten Leipziger Hörsaal 40 und lauscht begeistert dem Weltbürger Hans Mayer. (Der Saal muß riesig gewesen sein, glaubt man allen, die jetzt in Memoiren ihre Anwesenheit dort behaupten!) Die Liebe zur Literatur wird die Aufgabe seines Lebens, erst als Lektor, später als Verleger. In diesem Beruf kämpft er mit Papierkontingenten, Zensoren, Autoren, lernt interessante Leute kennen, reist. Daß er ein Verleger von Format wurde, wird im Buch in den starken Passagen deutlich, in denen er seine Arbeit gleichrangig der anderer Verlage und Verleger zur Seite stellt. Er mißt sich mit ihnen und akzeptiert keinen Unterschied zu den Unselds oder Rowohlts. Sie alle waren und sind Idealisten eines harten Geschäfts, gleich ob das von Ideologie oder dem Markt bestimmt wird. Der Thüringer, der seine Wurzeln zur engeren Heimat nie gekappt hat, blickt mit Stolz und Selbstbewußtsein auf ein Leben, dessen Erfolge er sich nicht ausreden läßt. Christel Berger Elmar Faber: »Verloren im Paradies. Ein Verlegerleben«, Aufbau-Verlag, 308 Seiten, 22,99 € Zum letzten Mal im Wiener WaldFaulheit, Bosheit, verlogene Frömmigkeit, Giftigkeit, Borniertheit – die Abschiedsaufführung von Ödön von Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald« in der Regie von Enrico Lübbe zeigte von all dem zu wenig an diesem 8. Mai, sie war eine Nummer zu klein für das Berliner Ensemble. In einem Umfeld, das den Namen Bühnenbild nicht verdiente, mußten die Darsteller über Bodenwellen stolpern, schlittern, tapsen – da war nichts, in das sie sich hätten einpassen können, keine ärmliche Hütte, kein Fleischerladen, kein Kiosk mit Wettbüro, kein Donauufer, kein bunt-schillerndes Maxim. In grauer Leere hatten sie sich zu offenbaren, zu entblößen, sich anzuschreien, zu beschimpfen, zu beleidigen, zu demütigen, und immer wieder zu belügen: Was alles sie auch taten, oft sehr laut, geradezu schreiend, doch ohne dieses innere Beteiligtsein, das mitreißt und berührt. Allzu wenig der Handlung ging wirklich unter die Haut. Auch fehlte jene plauschige österreichische Sprechweise mit dem hinterhältigen Unterton, das Gefährliche in der Trunkenheit, das Sentimentale beim Singen von der schönen Wachau. Aus dem Horvàth-Stück, aus dem unendlich viel zu machen ist, wurde verglichen mit BE-Theaterabenden vor der Wende zu wenig herausgeholt. Walter Kaufmann Anruf beim AmtIch brauche eine Auskunft. Auf dem Bescheid, den mir das Amt geschickt hat, steht die Nummer des »Service-Telefons«. Ich wähle sie. Ein automatischer Anrufbeantworter meldet sich, um mir mitzuteilen, daß momentan leider kein Mitarbeiter für mich frei sei; er bittet mich um etwas Geduld. Es folgt schlechte Musik. Nach einer langen Minute meldet er sich wieder und informiert mich über die Öffnungszeiten des Amtes – die schon dem Bescheid zu entnehmen waren. Ich will nicht hinfahren, das würde mich viel Zeit und 5,20 Euro für die Hin- und Rückfahrt in Bussen oder Bahnen kosten. Wieder die schlechte Musik. Nach einer sehr langen Minute beginnt der Anrufbeantworter, mir die verschiedenen Möglichkeiten zu erklären, wie ich das Amt per Internet erreichen könnte; dafür nimmt er sich viel Zeit. Ich will aber mit dem zuständigen Sachbearbeiter telefonieren. Die Musik setzt immer an derselben Stelle desselben Stückes ein, mitten im Takt. Wenn das Stück zu Ende ist, hört man einige Sekunden nichts. Man hofft, jetzt werde sich der Sachbearbeiter melden. Aber dann ist der Anrufbeantworter wieder da. Er beschränkt sich diesmal auf die Mitteilung: »Leider ist noch immer kein Mitarbeiter für Sie frei. Bitte gedulden Sie sich noch etwas oder« – das ist neu – »versuchen Sie es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal.« Auf mich wirkt das so, als verhöhnte mich das Amt, weil ich immer noch nicht gemerkt habe, daß das Amt nichts mehr mit mir zu tun haben will. Hätte ich nicht schon längst den Aus-Knopf drücken sollen? Musik. Anrufbeantworter. Musik. Anrufbeantworter. Soll ich weiter warten? Oder die Verbindung beenden? Um es später noch einmal zu versuchen? Wann denn am besten? Oder soll ich doch besser dran bleiben, nachdem ich schon so lange gewartet habe? Ein Verdacht wächst: In dem Amt wurden so viele Angestellte entlassen, daß jetzt niemand mehr da ist, der mir Auskunft erteilen könnte. Einsparungsmaßnahme. Menschenleere Büros. An einigen Computern blinkt es vielleicht noch rot oder grün. Von den Anrufern. Die es immer wieder versuchen. Wie ich? Arnold Venn
Erschienen in Ossietzky 12/2014 |
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