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Ich habe damals Armut und Hunger gelitten und mußte, um zu überleben, alle möglichen vom Akademischen Hilfswerk vermittelten Arbeiten übernehmen, wie Kartoffelschälen in der Mensa, Holzhacken, Kundenwerbung für einen Kohlenhändler und Hausieren mit unzerbrechlichen Kämmen und Rasierklingen. Eine armselige Existenz, die damals »Werkstudent« genannt wurde. Daß es auch Liebe, Freundschaften und Spenden vom Akademischen Hilfswerk und freundlichen Menschen gab, soll nicht unerwähnt bleiben. Ich denke oft an die Menschen, die mir in diesen bitteren Jahren nach dem Krieg geholfen haben, mit einem Gefühl großer Dankbarkeit zurück. Dazu gehörte auch der Haumeister Mügge aus Altenritte, der merkte, daß ich bei meinen Kasseler Verwandten nicht genug zu essen kriegte, und manchmal, wenn wir im Wald Bäume fällten, ein Gefäß mit gehaltvoller Suppe für mich dabei hatte. Ich hatte den Krieg, seine Mißachtung menschlichen Lebens und seinen Wahnsinn, nur aus der Sicht eines Soldaten kennengelernt, der mit viel Glück überlebt und viele bekannte und unbekannte Kameraden hatte sterben sehen. Erst in der nachfolgenden Lebenszeit habe ich nach und nach die ganze Dimension des ungeheuerlichen Geschehens und des unermeßlichen Verbrechens begriffen. Und damit bin ich immer noch nicht fertig. Erste Zweifel an den Führerqualitäten des »Führers« und seiner Generäle tauchten schon in meinem Elternhaus auf, als in Stalingrad eine ganze Armee geopfert wurde, die befehlsgemäß bis zur letzten Patrone kämpfen sollte, statt rechtzeitig den Rückzug anzutreten. Ich gab sicher auch die Meinung meiner Eltern wieder, als ich am 7. Februar 1943 in mein Tagebuch schrieb: »Demgegenüber was ich bei Stalingrad empfunden habe, erscheint mir alles klein, was darüber gesagt worden ist. Görings Rede, die wir Sonnabend in der Aula hören sollten, aber wegen der Verspätung schließlich doch zu Hause hörten, hat mich geradezu erschreckt, denn sie strotzte von völlig unangebrachtem Optimismus. Ich hatte gehofft, daß Stalingrad für die deutsche Führung eine Lehre sein könnte, die uns vielleicht vor der Niederlage bewahrt, wenngleich dafür Tausende deutscher Männer Blut und Leben lassen mußten.« Dieser sprachlich etwas mißglückte Satz verrät, daß wir den sofortigen Friedensschluß und die Räumung des unter immensen Verlusten an Menschenleben auf beiden Seiten eroberten Landes für die einzig vernünftige Lösung hielten. »Wenn man angesichts des russischen Gegners noch nach Stalingrad sagen kann, daß dies nun endgültig die letzte Erhebung dieses Kolosses sei, scheint man eine Lehre wohl kaum gezogen zu haben.« Mein Nachdenken über den Wahnsinn des Krieges setzte also früh ein und hat bis heute nicht aufgehört. Noch mehr hat mich das Entsetzen über den Massenmord an den Juden, an Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen politisch, rassisch oder religiös unerwünschten Minderheiten gepackt, als ich davon nach dem Krieg erfuhr. Einige Überlebende des antisemitischen Terrors sind mir zu guten Freunden geworden. Ich nenne die Züricher Literaturagentin Ruth Liepman, die sich in den Niederlanden bei mutigen Menschen verbergen konnte, den Filmemacher Karl Fruchtmann, der nach Palästina auswandern konnte, den Juraprofessor Arnold Heidenheimer, der mit seinen Eltern 1938 ins amerikanische Exil geflüchtet war, den Journalisten Leon Szulczynski, der Ende der 60er Jahre vor antisemitischer Verfolgung aus Polen flüchtete, und Rechtsanwalt Fritz Wolff, mit dem zusammen ich Hans Modrow, den zweitletzten Ministerpräsidenten der DDR nach der Wende gegen eine politisch motivierte Anklage verteidigt habe. Und nicht zuletzt müßte ich Walter Kaufmann nennen, dessen Buch »Schade, dass du Jude bist« man nur mit tiefer Erschütterung lesen kann. Walter Kaufmann und der Journalist Alfred Fleischhacker, den ich als Reporter des DDR-Rundfunks während des Thälmann-Mordprozesses kennenlernte, gehörten zu den etwa zehntausend jüdischen Kindern, die nach der Pogromnacht des 9. November 1938 auf Einladung der britischen Regierung nach England auswandern konnten und so dem Massenmord entgingen. Mit Emil Julius Gumbel, dem bedeutendsten Justizkritiker der Weimarer Republik, der als jüdischer Emigrant in den USA lebte und dort als Professor für statistische Mathematik wirkte, habe ich mich zu gemeinsamen Ferientagen im Schwarzwald getroffen. Er hat mein Manuskript »Politische Justiz 1918 – 1933« zustimmend gelesen. Das Erscheinen des Buches (1966) hat er leider nicht mehr erlebt. Einige Jahre vorher hatte er eine Gastprofessur in Hamburg wahrgenommen und die enttäuschende Erfahrung gemacht, daß man ihn in Deutschland nicht mehr kannte. Die Überwindung faschistischen Denkens in der Rechtswirklichkeit konnte schon wegen der personellen Kontinuitäten im Parlament und in der Justiz kaum gelingen. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ein aus der Emigration zurückgekehrter jüdischer Jurist und Demokrat, dem das Zustandekommen des Auschwitz-Prozesses und viele bedeutsame Veröffentlichungen zu verdanken sind, hat über seine berufliche Existenz in der frühen Bundesrepublik gesagt, wenn er sein Dienstzimmer verlasse, befinde er sich in Feindesland. Das skandalöse Versagen der bundesdeutschen Justiz bei der Verfolgung der Naziverbrechen ist nie ins politische Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit gedrungen. Ich habe es als Nebenklagevertreter für die Tochter des auf Hitlers Befehl von einem SS-Kommando ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann vor Gericht miterlebt, als der angeklagte SS-Funktionär in einem durch Rechtsbeugung manipulierten Verfahren freigesprochen wurde. Um so eifriger kriminalisierten die Politiker der parlamentarischen Mehrheit und die von alten Nazis dominierte Justiz die Kommunisten. Erst der Tätigkeit als Strafverteidiger in politischen Prozessen verdankte ich Kenntnis von der noch immer geflissentlich verschwiegenen Tatsache, daß es vor allem Kommunisten waren, die schon vor Hitlers Machtübernahme entschiedenen Widerstand gegen dessen angekündigten Krieg geleistet haben und dafür zu Tausenden ermordet worden sind. Nach einem der kommunistischen Widerstandskämpfer, die im Nazi-Reich zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren, benannte die KPD nach dem Krieg ihr Parteihaus in der Bremer Lindenhofstraße Robert-Stamm-Haus. Das Haus war 1933 von den Nazis enteignet worden, dann nach dem Krieg als Wiedergutmachung nazistischen Unrechts an die KPD zurückgegeben und mit dem KPD-Verbot von 1956 zum zweiten Mal enteignet worden. Ich sehe noch den alten KPD-Genossen Albert Krohn, der seine Ersparnisse für die Renovierung dieses Hauses geopfert und zwei Mal die Enteignung erlebt hatte, weinend vor Wut und Verzweiflung in meinem Büro sitzen. Mein Bemühen, ihm und anderen kommunistischen Mandanten das Eigentum am Robert-Stamm-Haus zu erhalten, blieb erfolglos. Die Macht der aus dem Hitler-Reich stammenden Repräsentanten der Staatsgewalt war stärker. Einen in Bremen populären kommunistischen Widerstandskämpfer, Willi Meyer-Buer, habe ich im Jahr 1963 vor dem Landgericht Bremen verteidigt. Meyer-Buer war bis zum KPD-Verbot von 1956 ein auch bei politischen Gegnern geachteter Bürgerschaftsabgeordneter, der als brillanter Redner und erfolgreicher Kaufmann auch in der Bevölkerung viele Sympathien genoß. Man wußte, daß er wegen seiner politischen Gesinnung im Hitler-Reich sieben Jahre Freiheitsentzug und Mißhandlungen in Zuchthäusern und Konzentrationslagern erlitten hatte. Und als er sich nach dem KPD-Verbot als unabhängiger Sozialist an der Bundestagswahl beteiligte und dabei bekannte, daß er immer noch Kommunist sei, sahen Staatsanwälte und Richter, die zum Teil schon im Nazi-Reich amtiert hatten, darin einen Verstoß gegen das Verbot und verurteilten ihn zu einer Gefängnisstrafe. Ihre Urteilsgründe lasen sich wie ein Plagiat des Nazi-Urteils, das ihn einst als Kommunist ins Zuchthaus gebracht hatte. Hitlers Ermächtigungsgesetz im März 1933 wäre nicht möglich gewesen, wenn er nicht die 81 kommunistischen Reichstagsabgeordneten hätte verhaften oder ermorden lassen und wenn die anderen Parteien das nicht hingenommen hätten. Nur so konnte er trotz Gegenstimmen der SPD die verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit erlangen. Das Ende der Naziherrschaft, ihrer Zwänge und ihres Terrors haben viele junge Menschen meiner Generation als Tor zu einer friedlicheren Welt erlebt. »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!« war die Parole, die das ausdrückte, was wir aus der Nazizeit gelernt hatten. Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür« und seine Antikriegserzählungen waren die literarische Dokumentation einer Gesinnung, die eine menschlichere Welt schaffen wollte. Wir glaubten eine Zukunft vor uns zu haben, in der die Menschheit den Krieg für immer überwunden hatte. Wir lernten die verbrannten Dichter, die verbotenen Komponisten und die als »entartet« verfemten Maler und Bildhauer kennen. Aber bald gaben wieder die Gestrigen den Ton an. Und Vieles, das die zum Kriegsdienst, zu Hitler-Jugend und anderen NS-Organisationen gezwungene oder verführte Generation in ihrer gestohlenen Jugend versäumt hat, ließ sich nicht nachholen. Heute sind wir verpflichtet, unseren Planeten für künftige Generationen in bewohnbarem Zustand zu hinterlassen. Daß unsere Nachkommen den in unserer Zeit gewinnträchtig produzierten strahlenden Atommüll noch in Jahrtausenden bewachen und mit den Konsequenzen anderer folgenschwerer Mißhandlungen des Planeten und seiner Bewohner fertig werden müssen, wird sie an einige der unverantwortlichen Staatsaktionen des globalen Kapitalismus erinnern, die sie der heute lebenden Generation vorwerfen werden. Und was wird man, wenn irgendwann der dritte Massenmord mit Atombomben verübt wird, zu der versäumten Möglichkeit sagen, Herstellung und Anwendung dieser Massenvernichtungsmittel als für alle Nationen gültiges finales Kriegsverbrechen zu definieren? Wird man sich dann des von 500 Millionen Menschen in aller Welt unterzeichneten Stockholmer Appells zur Ächtung der Atomwaffe von 1950 erinnern, der im Zeichen des kalten Krieges als kommunistischer Täuschungsversuch diffamiert und sabotiert werden konnte? Als Verteidiger im Düsseldorfer Friedenskomitee-Prozeß, der im November 1959 begann, habe ich in meinem Plädoyer an die schrecklichen Folgen der in Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben für Neugeborene erinnert, denen Körperteile fehlten oder die mit anderen schweren Schäden auf die Welt kamen, und ich habe die Befürchtung ausgesprochen, daß uns erst, wenn unsere Kinder ohne Augen auf die Welt kommen, die Augen dafür geöffnet werden könnten, welche unbeherrschbaren Gefahren mit der Erfindung der Atombombe entstanden sind. Ich bin in dieser Frage lebenslang sensibilisiert durch die Tatsache, daß eines meiner Kinder, das zur Zeit der größten radioaktiven Verseuchung der Atmosphäre durch Atombombenversuche Ende 1961 geboren wurde, im Alter von sieben Jahren an Leukämie gestorben ist. Selbstverständlich ist es der Lobby der Rüstungsinteressenten und deren politischen Mitläufern gelungen, das Bekanntwerden des statistischen Nachweises zu verhindern, daß es einen kausalen Zusammenhang zwischen radioaktiver Verseuchung der Atmosphäre und vieltausendfachem Kindertod gibt. Menschen, die noch den Zweiten Weltkrieg miterlebt und die verlogenen Rechtfertigungen von Krieg und Waffenproduktion durchschaut haben, werden durch die Fortsetzung der Politik mit menschenfeindlichen Mitteln immer wieder daran erinnert, daß die Menschheit in unserer Lebenszeit nicht vernünftiger geworden ist. Die Realität deutscher Nachkriegsgeschichte läßt mich auch im Alter nicht zur Ruhe kommen. Das Tor zu einer friedlicheren Welt, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs offen zu stehen schien, ist längst wieder zugeschlagen. Die törichte, mit Bedrohungslegenden popularisierte antikommunistische Aufrüstung war wichtiger als die Ächtung des Krieges, bei der gerade wir Deutschen ein Wort hätten mitreden können. Stattdessen werden deutsche Soldaten und deutsche Waffen wieder zur Kriegführung in alle Welt geschickt. Nach dem Wegfall der antikommunistischen Bedrohungslegende waren neue Feinde und neue Vorwände für militärische Interventionen schnell gefunden. Da werden wieder Milliarden Dollars für Rüstung und Militär verpulvert, die anderswo nötig gebraucht würden. Der reale Kapitalismus mutet den Menschen zu, in einer Welt zu leben, in der an Kultur und Bildung gespart wird und Menschen in anderen Weltgegenden an Hunger sterben. Wenn das Leben auf unserem Planeten für alle Menschen lebenswert werden soll, bleibt für Jüngere und Junggebliebene noch viel zu tun. Vielleicht können dabei aber auch die Geschichten helfen, die ich zusammen mit Kindern erfunden habe. Geschichten, in denen das Unmögliche möglich wird, Pferde über Häuser springen, Mücken telefonieren können. Für mich war es immer eine Erholung, in die kindliche Phantasiewelt abzutauchen und mit Kindern zu lachen.
Erschienen in Ossietzky 12/2014 |
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