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Schon deshalb sind die Vorgänge in der EU ein dankbares Objekt der wissenschaftlichen Begierde darauf spezialisierter Forschungsbereiche an unzähligen Universitäten und Hochschulen. Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers Philippe Schmitter betreibt die Europäische Union das komplexeste politische System, das »menschliche List« je kreiert hat. Es liegt folglich nahe, die Union als Irrgarten zu bezeichnen. Ein Irrgarten täuscht durch seine künstlich hergestellte Unübersichtlichkeit den Orientierungssinn des Menschen. Seine Anlage sieht absichtlich so vielfältig verzweigte Wege vor, daß ein gelegentlicher Besucher immer schön in die Irre geht. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Weg zurück zum Eingang oder voraus zum Ausgang nicht gefunden wird. Der Unions-Irrgarten liegt gut erreichbar zwischen Brüssel, Luxemburg, Straßburg und Frankfurt am Main und wird umgeben von reizvoll abwechslungsreichen europäischen Regionen und Landschaften. Was in ihm möglich ist beziehungsweise maximal vorgehen darf, ergibt sich aus dem gemeinschaftlichen Besitzstand der schwer zu durchdringenden europäischen Verträge, der zusätzlichen zwischenstaatlichen Verträge wie etwa dem Fiskalpakt sowie der stetig neu erlassenen Verordnungen, Richtlinien und Einzelentscheidungen. Im Unions-Irrgarten schaltet und waltet eine schwer greifbare Macht, die die Lebenswirklichkeiten und Zukunftschancen der Unions-Europäer gravierend beeinflußt. Machiavellistisch klug, wie sie ist, nennt sie sich nicht Regierung, obwohl sie grundsätzlich und faktisch wie eine verfährt – wenn auch nicht in nationalstaatlich vertrauter, direkt identifizier- oder faßbarer Form. Vielleicht nennt sie sich auch deshalb nicht Regierung, weil sie vom Souverän nicht abgewählt werden kann. Die Wege und Vorgänge im unionseuropäischen Irrgarten sind schwer zu durchschauen, verändern sich laufend und lassen sich mit den üblichen Kenntnissen über demokratische Prozeduren nicht ohne weiteres entschlüsseln. (Was an der EU europäisch ist, wird übrigens in keinem der Verträge definiert.) Das von den mitgliedsstaatlichen Regierungen seit Jahrzehnten stets erweiterte politische System der EU wird von Wissenschaftlern als Mehrebenensystem charakterisiert. Damit ist gemeint, daß mehrere europäische wie einzelmitgliedsstaatliche Organe und Institutionen zusammenwirken müssen, wenn ein von Vertretern aller Mitgliedstaaten beschlossenes Gesetz beziehungsweise eine Verordnung oder Richtlinie umgesetzt wird und bis hinunter zu den Gemeindeverwaltungen die gewünschte Wirkung entfalten soll. Während eine europäische Verordnung direkt wirkt, muß eine Richtlinie innerhalb einer bestimmten Frist in nationales Recht umgesetzt werden, wobei den Mitgliedstaaten ein kleiner Gestaltungsspielraum verbleibt. Im unionseuropäischen Irrgarten ist kundiges Personal zwar nicht übertrieben zahlreich, aber dennoch quasi hinter jeder Hecke anzutreffen. Mehr als 50.000 Beschäftigte verdienen ihren Lebensunterhalt direkt durch eine Tätigkeit für die EU – etwa in den Generaldirektionen der Kommission, in den zahllosen Ausschüssen (der Komitologie), im Parlament der Europäischen Union, in den Agenturen sowie im Gerichts- und Rechnungshof und der Europäischen Zentralbank (EZB). Nicht minder kundig sind die indirekt von der EU lebenden Regierungsmitglieder und Abgeordneten der Mitgliedstaaten sowie die Zigtausende in Brüssel verkehrenden Fachleute und Lobbyisten der Thinktanks, Kammern, Verbände, Unternehmen, Gewerkschaftszentralen, Hochschul- und Universitätsinstitute, Nichtregierungsorganisationen, Regionen, Kommunen et cetera. Zu den kritischen Beobachtern aller relevanten Unionsvorgänge gehört die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory (CEO). Sie vertreibt den »Lobby Planet Guide«, der die Gänge und Ziele der Lobbyisten im EU-Viertel in Brüssel in den Blick rückt, und sie kommentiert kritisch das europäische Gesetzgebungs- und Verhandlungsgeschehen. Die für die USA seit langem typische Vielzahl untereinander rivalisierender Verbände und Interessengruppen ist auch in Brüssel längst Realität, besonders im Hinblick auf das Konzern- und Auftragslobbying durch Public-Affairs-Unternehmen und Kanzleien. Daß die meisten Interessenvertreter, die massiv auf die politische Ausrichtung und den Gesetzgebungsprozeß der EU Einfluß nehmen, im Auftrag der Unternehmens- und Finanzwelt handeln, dürfte sich herumgesprochen haben. Daß – auch – Abgeordnete des EU-Parlaments zum Teil keine Hemmungen haben, gleich ganze Passagen aus den ihnen zukommenden Informationspapieren der Unternehmens-, Finanz- und Verbandslobbyisten in ihre Änderungsvorschläge zu übernehmen, belegt die Initiative LobbyPlag auf ihrer Internetplattform lobbyplag.eu minutiös. Die Gesetzesentwürfe der Kommission enthalten sie ohnehin von vornherein, allerdings wesentlich geschickter verarbeitet. Die Verfahrenswege und Vorgänge im waltenden unionseuropäischen System lassen sich mit den üblichen Kenntnissen über demokratische Prozeduren schon deshalb nicht ohne weiteres entschlüsseln, weil die EU selbst keine Demokratie ist. Der englische Historiker Christopher Clark vermerkte 2009 treffend, daß der EU, würde sie selbst die Aufnahme in die EU beantragen, wegen offenbarer Demokratiemängel die Aufnahme verweigert würde. Solange nicht einmal die Einhaltung demokratischer Mindeststandards wie etwa die Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender und exekutiver Gewalt gewährleistet wird und es keine vom EU-Parlament gewählte Gerichtsbarkeit und Regierung gibt, ist die gängige Rede vom »Demokratiedefizit« der EU jedenfalls eine gelinde Untertreibung. Fast jeder Irrgarten hat relativ mittig einen schönen Platz und Treffpunkt. Der unionseuropäische hat Brüssel. Wenn in den Medien und Netzwerken das Wort auf Brüssel kommt, geht es zumeist um Meldungen und Berichte, die Brüssel mit der EU kurzschließen. In ihnen wimmelt es zumeist von irgendwie rätselhaft und/oder schwer verdaulichen Informationen über »verschärfte Regeln des Euro-Stabilitätspakts«, »die Mission der Geldgeber-Troika«, »die Finanzplanung nach dem Recht des Lissabon-Vertrages«, oder die »EU-Kommission klagt wegen Staatsbeihilfen« … Grundsätzlich gilt, und das gehört gleichsam zum waltenden Geschäftsmodell der EU: Was etwa in der Bundesrepublik in weitreichenden Zukunftsgestaltungsfragen mehrheitlich gewünscht wird, entspricht keineswegs automatisch dem von anderen Bevölkerungsmehrheiten und/oder den Regierungen anderer Mitgliedstaaten gewünschten Kurs – etwa der Ausstieg aus der Atomenergie. So gesehen entscheidet nach wie vor nicht Brüssel, sondern entscheiden die mitgliedsstaatlichen Regierungen an ihren jeweiligen Sitzen, wo es für sie in den großen Fragen langgeht. Und bei Rats- beziehungsweise Gipfeltreffen wird dann entschieden, was auf unionseuropäischer Ebene im Rahmen der notwendigen Kompromisse geht und was nicht. Brüssel steht im Falle umstrittener Richtungsfragen für einen der wechselnden europäischen Orte, wo im Kreise von Entscheidungsträgern nächtelang debattiert, gedroht und gefeilscht wird. Wenn zum Beispiel der irische Finanzminister nach einem solchen Sitzungsmarathon des Rats seinen Landsleuten verkünden kann, das Land erhalte den erbetenen Rettungsschirm zur Stützung der maroden Banken, während er bei einem Investorentreffen in Dublin kurz darauf bekräftigt, Irland würde trotz der europäischen Hilfsgelder am extrem niedrigen Unternehmenssteuersatz von 12,5 Prozent festhalten, dann ist offensichtlich, was in Brüssel selbst auf massiven Druck bestimmter Regierungen hin nicht entschieden werden kann, weil die vertraglich dafür erforderliche Einstimmigkeit einfach nicht zustande kommt. Nämlich all das, was nach den geltenden EU-Verträgen unter die Hoheit der Mitgliedstaaten fällt: die Steuergesetzgebung, die Sozialgesetzgebung, die Arbeitsmarktpolitik (es sei denn, die diese vertraglichen Regelungen unterlaufende Troika ist involviert). Was die EU-Organe freilich nicht daran hindert, unentwegt die Festlegung gemeinsamer Ziele und Empfehlungen für alle Mitgliedstaaten zu betreiben, einschließlich der laufenden Analyse einschlägiger nationaler Maßnahmen. Nun ist die Unionshauptstadt der Sitz der EU-Kommission – und deren Vorgehensweisen, Vorschriften und Gesetzgebungen, soweit vom Rat und EU-Parlament genehmigt, entfalten tatsächlich von Brüssel aus ihre Wirkung. Die EU prägt heute direkt und indirekt die Lebensbedingungen von 500 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürgern, die in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat eine Volksvertretung wählen, welche sich wiederum an die in den EU-Verträgen mit den anderen nationalen Volksvertretungen ausgehandelten Regelungen zu halten hat. Und diese – Primärrecht genannten – Regelungen bestimmen, daß die derzeit von 28 Mitgliedstaaten betriebenen EU-Organe sogenanntes Sekundärrecht schaffen können, sprich Gesetze, die dann in der gesamten EU geltendes Recht sind. Rechtsakte erzeugen die von der umtriebigen Kommission angetriebenen EU-Organe unentwegt. Die Finanzdienstleistungen betreffen sie gegenwärtig zu mehr als 80 Prozent, Landwirtschaft, Ernährung und den Umweltsektor zu mehr als 70 Prozent, die Wirtschaft zu gut 70 Prozent. Wem diese Rechtsakte wirklich nutzen, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Beitrag beruht auf dem neuen Buch von Rudolf Hickel und Johann-Günther König: »EURO stabilisieren. EU demokratisieren. Aus den Krisen lernen«, Kellner Verlag, 288 Seiten, 16,90 €.
Erschienen in Ossietzky 11/2014 |
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