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Während Orwells fiktiv-düstere Überwachungsvision in jenem Jahr in jeder Hinsicht wissenschaftlich und feuilletonistisch auf den Prüfstand gestellt und debattiert wurde, entwickelte sich in Nordengland ein Kampf zwischen Arbeit und Kapital, der gewaltig reale orwellsche Züge annahm, das Land an den Rand des Bürgerkriegs trieb. Zum Hintergrund: Anfang März 1984 beschloß die von Arthur Scargill geführte Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) den Ausstand, weil sich Hinweise verdichtet hatten, daß die Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher rund zwanzig Gruben schließen wollte. Sie seien unrentabel, hieß es. Schon weil kurz zuvor die Stahlarbeiter trotz gewerkschaftlicher Gegenwehr den Kampf gegen die Schließungspläne der Regierung verloren und mit dem Verlust von 60.000 gut entlohnten Arbeitsplätzen teuer »bezahlt« hatten, waren die Kumpels in den Bergwerken extrem alarmiert und kampfbereit. Was ab März 1984 passierte, liegt seit Beginn des Jahres 2014 in Form eines monumentalen Romans des englischen Schriftstellers David Peace auf Deutsch vor (übersetzt von Peter Torberg; Verlagsbuchhandlung Liebeskind). Keine leichte Kost, diese intensiv recherchierte und in einen Haupttext sowie darin eingestreute innere Monologe, Zeitungsschnipsel und andere Fragmente gegliederte, mehr verwirrend bereicherte Lektüre, diese Beschwörung eines historischen Moments. Peace‘ gleichsam fiebrige Erzählung über den legendären Bergarbeiterstreik, der vor genau dreißig Jahren begann, erinnert daran, was es heißt, verzweifelt um Arbeitsplätze, um die eigene Existenz und Zukunft nicht nur gegen das Kapital, sondern vor allem auch gegen eine ihm ergebene radikal-neoliberale Regierung kämpfen zu müssen. Maggie Thatchers Strippenzieher, Geheimdienste und Polizeikräfte erwiesen sich im Zusammenspiel mit der Presse, willigen Unternehmern und ihren Schlägertrupps als übermächtiger und gnadenloser Gegner. David Peace‘ Roman »GB84« gliedert sich nicht zufällig in 53 Kapitel. Jedes beschreibt eine der 53 Wochen, die der Streik anhielt, jedes hebt mit einem Bericht von der Straße an, läßt einen streikenden Arbeiter und einen Gewerkschafter zu Wort kommen, schildert die zunehmende Gewalt, berichtet von Solidarität und Hunger und Haß und dem allmählich brechenden Stolz. Ins Blickfeld gerät im Roman nicht zuletzt ein Unternehmer, der für Maggie Thatcher den Streik abwürgen will. Er überzieht die Gewerkschaften mit Prozessen, sorgt für die kapitalfreundliche Berichterstattung der Medien, läßt Konten einfrieren und Schlägertrupps auf die Streikenden los. Im März 1985 kehrten die vom langen Arbeitskampf zermürbten und desillusionierten Arbeiter wieder an ihre Arbeitsplätze zurück, um bald darauf in die Arbeits- und Aussichtslosigkeit entlassen zu werden. Die Gewerkschaft NUM spaltete sich aufgrund dieser Niederlage. Zwar blieb Arthur Scargill, laut Thatcher »Englands gefährlichster Mann«, bis 2002 ihr Vorsitzender; aufgrund des nach 1985 in Großbritannien radikal ausgemerzten Bergbaus spielte die NUM jedoch keine Rolle mehr. David Peace porträtiert den Anführer der National Union of Mineworkers übrigens als Sprücheklopfer mit Wahrnehmungsstörungen – auch sein Geschäftsführer spielt in dem Roman keine rühmliche Rolle. »GB84« ist kein »wahrheitsgetreuer« Zeitzeugenbericht – Peace war zur Zeit des Streiks im Teenageralter –, es ist gleichwohl ein so lesenswertes wie verstörendes Werk, weil es verdeutlicht, wie 1984 die sozialstaatlichen und gemeinwohlorientierten Strukturen in Großbritannien ebenso nachhaltig zerstört wurden wie der Stolz von vielen Mitgliedern einer einst mächtigen gesellschaftlichen Klasse, deren Selbstverständnis als Arbeiterklasse seitdem extrem geschwächt ist. »Wir sind nur Streichholzmännchen, mit Streichholzhüten und -schuhen«, befindet einer der streikenden Bergmänner im Roman, als die Schlacht verloren ist. »GB84«: Für den Kampf gegen die Arbeiterklasse – Tausende Arbeiter wurden 1984/85 verhaftet – setzte die Regierung der verstorbenen Lady Thatcher rund zweieinhalb Milliarden Pfund Sterling ein. Heute, dreißig Jahre später, sieht sich die Regierung unter Premier David Cameron trotz vielfältiger und erheblicher sozialstaatlicher Einschnitte nicht mit einem großen Streik konfrontiert, sondern mit Naturgewalten, riesigen Schäden und einer Landbevölkerung, die der Regierung Tatenlosigkeit vorwirft. »GB14« könnte der Titel einer Erzählung lauten, die die Tragödie der britischen Flutopfer und die Unfähigkeit der konservativ-liberalen Regierung schildert, den in Not geratenen Bürgerinnen und Bürgern angemessen beizustehen. Heftige Sturmfluten und ungewöhnlich starke Regenfälle machen den Menschen seit Weihnachten 2013 besonders an der Atlantikküste in Cornwall, in den Flußniederungen der Grafschaften Somerset, Gloucestershire und entlang der Themse in der Umgebung Londons das Leben schwer. Nicht nur, daß sie Keller auspumpen und Sandsäcke schichten müssen – Tausende mußten im Januar ihre »abgesoffenen« Wohnungen verlassen. Die Rede ist vom nassesten Januar seit den ersten Wetteraufzeichnungen durch die Radcliffe-Wetterstation – seit 1767, so lautet der Befund der Experten, hat es in dem Gebiet zwischen Kent und Devon nicht mehr soviel geregnet. Nun wird seit Jahrhunderten tagein, tagaus auf den Britischen Inseln über kaum etwas so viel geredet wie über das Wetter – von In- und Ausländern gleichermaßen. So befand 1784 der französische Politiker und Sozialreformer François de La Rochefoucauld-Liancourt: »Das Wetter war immer schlecht … Starker Regen fiel jeden zweiten Tag. Und die anderen Tage waren kalt; Nebel und Wind machten sie noch schlimmer als die Regentage. Was für ein schreckliches Klima!« Im Prinzip weichen die von Meteorologen unserer Tage erhobenen Werte für England allerdings nur graduell von denen in deutschen Landen ab; die durchschnittliche Regenmenge etwa entspricht der in Norddeutschland. Generell milder sind die Temperaturen – niedriger im Sommer und höher im Winter. Allerdings bläst dabei der Wind häufiger und auch stärker – denn auf der Insel herrscht genau das ausgeprägte Seeklima, das auch auf Nordseeinseln wie Norderney genossen werden kann. Vor allem der Wind sorgt beständig dafür, das englische Wetter immer wieder unberechenbar zu machen. Wenn ein Briefträger dann stöhnt: »Not so nice today« (heute ist es nicht gerade schön), sind jedenfalls regendichte Kleidung und Gummistiefel nicht die schlechteste Wahl für einen Spaziergang. Wobei in manchen Ortschaften Somersets seit Januar Boote erste Wahl sind, um durch die überfluteten Straßen zu kommen. Die Flut- und Orkanschäden des Winters 2013/14 sind erheblich. Rund 1200 Wohnungen waren im Februar überflutet, über 181.000 mußten mühsam gegen die Fluten abgesichert und weitere 200.000 als gefährdet eingestuft werden. Generell gelten derzeit ein Sechstel (!) aller britischen Immobilien als überflutungsgefährdet – davon die Hälfte durch Flüsse und das Meer. Schätzungen zufolge betragen allein die bis März 2014 entstandenen »clear-up costs« (Aufräumkosten) gut eine Milliarde Pfund Sterling. Von den durch Stromausfälle, zerstörte Straßen und Bahngleise bewirkten Schäden und den zu erwartenden Ernteausfällen ganz zu schweigen. Das Krisenmanagement der Regierung unter Cameron – wie auch der zuständigen »Environment Agency« (Umweltbehörde) war zunächst äußerst unprofessionell und grotesk unzureichend. Die von den Unwetterschäden schwer gebeutelte Küsten- und Landbevölkerung erzürnte nicht zuletzt, daß der Chef der Umweltbehörde sich in den Überschwemmungsgebieten nicht blicken ließ und daß aus dem Kreis der Minister der als skandalös empfundene Hinweis kam, es müsse eben die Entscheidung getroffen werden, was beim Hochwasserschutz Vorrang habe: »Stadt oder Land, Wohnzimmer oder Felder«. Stadt »oder« Land – mit dieser Zuspitzung machte sich die städtische Elite keine Freunde auf dem Land, und es blieb Prinz Charles vorbehalten, die Wogen etwas zu glätten, der in Regenstiefeln einem von den Fluten abgeschnittenen Dorf seine Aufwartung machte und befand: »Es ist eine Tragödie, daß so lange nichts unternommen wurde.« In der Tat. Zwar gibt die Regierung knapp zweieinhalb Milliarden Pfund jährlich für den Küsten- und Überschwemmungsschutz aus, aber diese Summe reicht nicht, um Großbritannien – zumal vor dem Hintergrund des Klimawandels und damit einhergehender »ungewöhnlicher« Wetterereignisse – angemessen überschwemmungssicher zu machen. Immerhin hat die Regierung inzwischen zusätzliche finanzielle Hilfen für Aufräumarbeiten und erheblich betroffene Familien in Aussicht gestellt. GB14 – eines darf in dieser noch zu schreibenden Erzählung nicht fehlen. Der Hinweis nämlich, daß die Orkanfluten und Überschwemmungen dieses Winters vergleichsweise glimpflich ausfielen. Denn seit Beginn der Wetteraufzeichnung im Jahre 1767 gab es gleich mehrere vergleichbar große Katastrophen, bei denen tausende Briten nicht nur den Hof, sondern auch ihr Leben verloren. 1767 kamen in Somerset bei den »Bristol Channel Floods« 2000 Menschen ums Leben; 1953 ertranken in Englands Osten mehr als 300 in den Fluten. Bleibt noch das norddeutsche Fazit: Willst du nicht weichen, mußt du deichen.
Erschienen in Ossietzky 7/2014 |
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