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Die Autonomie-Forderungen der Basken in Spanien interessieren uns wenig, noch weniger der Unabhängigkeitskampf der Sahrauis gegen die marokkanische Besatzungsmacht, denn der marokkanische König ist unser Freund. Und was kümmert uns die Unterdrückung der Aborigines in Australien? Wenn sich in befreundeten Staaten eine Bevölkerungsgruppe gegen systematische Benachteiligung auflehnt, wird sie in hiesigen Medien schnell als »terroristisch« deklariert. Als »terroristisch« galten zum Beispiel jahrzehntelang die von Nelson Mandela geführten schwarzen Südafrikaner, denn die Bundesrepublik Deutschland war dem weißen Apartheid-Regime eng verbunden. Bei ethnischen Konflikten in nicht befreundeten Staaten dagegen stellt sich Deutschland regelmäßig auf die Seite derer, die sich auflehnen und nationale Selbstbestimmung verlangen. Da gilt die alte imperialistische Devise »divide et impera« (teile und herrsche). So setzen wir Staaten unter Druck, mit deren Regierungen wir nicht einverstanden sind, weil sie uns den Zugang zu ihren Rohstoffen und Absatzmärkten erschweren. Notfalls müssen wir dann auch zum militärischen Eingreifen bereit sein, also zum Angriffskrieg. Hochmoralisch führen wir die Menschenrechte ins Feld, um die Souveränität anderer Staaten aufzusprengen und die Friedensordnung des Völkerrechts zu durchlöchern. Krieg für die Menschenrechte, wie ihn der Springer- und andere Medienkonzerne unentwegt propagieren, ist widersinnig. Frieden ist ein Menschenrecht. Das Völkerrecht verbietet militärische und auch nichtmilitärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Konflikte sollen auf dem Verhandlungswege gelöst werden. So gebietet es die von allen europäischen Staaten, den USA und Kanada unterschriebene Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975. Aber gerade die stärkste Militärmacht der Welt entzieht sich in vielen Fällen ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen und lehnt Verhandlungen ab, zum Beispiel 2001 nach dem 11. September, als die USA die Verhandlungsangebote der in Afghanistan regierenden Taliban zurückwiesen und stattdessen mit zahlreichen Verbündeten in den Angriffskrieg zogen. Mit Regierungen, die man beseitigen will, spricht man nicht, das hat man als Weltmacht nicht nötig. Kein Wort mit Gaddafi oder Saddam. Wer vom US-Präsidenten, von der NATO und unisono von allen Medienkonzernen zum Schurken, zum autoritären Herrscher, zum Diktator gestempelt ist, mag er auch demokratischer gewählt sein, als es bei Wahlen in den USA zugeht, der hat kein Recht auf öffentliches Gehör mehr. So wurde auch Janukowitsch, der gewählte Präsident der Ukraine, mundtot gemacht, wir sahen und hörten nur noch Klitschko; ähnlich erging es Mursi, dem gewählten Präsidenten Ägyptens. Größeren Respekt zollen wir dem König von Saudi-Arabien und anderen Scheichs, die sich noch keiner Wahl gestellt haben und oppositionelle Regungen mit blutiger Gewalt niederhalten. Menschenrechtskriege Schauen wir uns an, was die Menschenrechtskriege, die sogenannten humanitären Kampfeinsätze der vergangenen Jahre bewirkt haben: Der Irak zum Beispiel, zuvor eines der entwickeltsten unter den Entwicklungsländern, wurde in schreiendes, nein, viel schlimmer: in totenstilles Elend gebombt. Hunderttausende Menschen verloren ihr Leben. Niemand kennt die Zahl der Kriegsversehrten, der Verkrüppelten, der schrecklich Verunstalteten – sicher liegt sie viel höher als die Zahl der Getöteten. Der Krieg gegen den Irak machte zudem auch unzählige Menschen arbeitslos und viele obdachlos. Dieser Krieg war ein Krieg gegen die Menschenrechte von Millionen Irakern. Es wird Generationen erfordern, die Folgen zu bewältigen. Und was wurde aus Afghanistan, wo deutsche Soldaten helfen sollten, unterdrückte Frauen zu befreien, die Heroin-Produktion zu unterbinden und die Herrschaft der Taliban zu brechen? Nach zwölf Jahren Krieg sind die Rechte der Frauen nicht gestärkt, sondern geschwächt; der Mohn blüht und gedeiht zu größeren Mengen Heroin als je zuvor; und Karsai, der Präsident von NATO Gnaden, sucht jetzt Verhandlungen mit den Taliban. Die Propagandisten der Menschenrechtskriege redeten uns ein, die Serben, die Iraner, die Syrer bereiteten Völkermord vor: mit Massenvertreibungen, mit Urananreicherung, mit Chemiewaffen. Inzwischen wissen wir, wer Chemiewaffen nach Syrien geliefert hat: Deutsche Firmen waren dabei. Uran wird in Deutschland schon seit langem angereichert. Die Behauptungen, der Irak verfüge über Massenvernichtungsmittel, erwiesen sich als frei erfunden. Über Atombomben verfügen hauptsächlich die USA; solche Waffen sind auch auf deutschem Boden stationiert. Und in Jugoslawien, wo nach bald 15 Jahren immer noch weit über 1000 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, hat inzwischen tatsächlich eine »ethnische Säuberung« stattgefunden, aber andersherum als damals prophezeit: Viele Serben, Roma, Juden wurden aus dem Kosovo vertrieben. Welche Menschenrechtsheuchelei in all den Kriegen, an denen die deutsche Waffenindustrie gut verdient hat! Jetzt muß Deutschland unbedingt auch Kampfdrohnen produzieren. Schon seit Jahren lassen wir zu, daß US-Geheimdienstler und -Soldaten von deutschem Boden aus Drohnen starten, um in weit entfernten Ländern Wohnhäuser und die darin schlafenden Familien zu vernichten: politisch unerwünschte Menschen mitsamt ihren Angehörigen, Menschen, die vor keinem Gericht angeklagt waren, in keinem Prozeß sich verteidigen konnten. Sie zu ermorden, ist unvereinbar mit den Menschenrechten und dem Völkerrecht. Aber sowas nennt sich dann »humanitäre Einsätze«. Die Sprache regierender Politiker und tonangebender Medien verschleiert diese Tendenzen. Es ist nicht leicht, hinter den Nebelschwaden der Propaganda die Realität zu erkennen. Ist man erst einmal dahintergekommen, daß die eine Seite von Terroristen spricht und die andere von Freiheitskämpfern, wenn von denselben Menschen die Rede ist, dann findet man schon leichter durch. Für Joseph Goebbels waren diejenigen, die sich im Zweiten Weltkrieg in den von deutschen Truppen besetzten Ländern gegen die terroristische Fremdherrschaft wehrten, allesamt »Terroristen«. Das »Recht des Stärkeren« Papst Franziskus hat in seinem ersten, von den Konzernmedien bemerkenswert wenig beachteten Lehrschreiben dem Neoliberalismus eine scharfe Absage erteilt. Diese Ideologie, die seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den USA und in Westeuropa weite Verbreitung gefunden und die ganze Gesellschaft tief durchdrungen hat, gründet auf dem vermeintlichen Naturrecht des Stärkeren und verlangt die völlige Freiheit der Märkte, damit er sich durchsetzen kann. Sie verträgt sich schwerlich, nein: überhaupt nicht mit den Menschenrechten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten. Die Neoliberalen können den Gedanken, daß alle Menschen gleiche Rechte haben, nicht ertragen. Der Neoliberalismus ist eine Herrschaftsideologie; der Kampf um Menschenrechte hingegen richtet sich immer gegen bestehende Herrschaft. In politischen Diskussionen begegnet mir seit den 1990er Jahren häufig ein Wort, das ich früher selten wahrgenommen hatte: »die Werte« (immer in der Mehrzahl). Ich beobachte, daß »die Werte«, von konservativer Seite kommend, mehr und mehr an die Stelle der Rechte treten – mit der Tendenz, die Menschenrechte ganz zu verdrängen. Sonntagsredner beschwören feierlich »unsere Werte«, die wir zu bewahren verpflichtet seien. Mein Verdacht wächst, daß damit im Kern schnöde Macht- und Besitzverhältnisse gemeint sind, an die wir nicht rühren sollen. Sicher meint es nicht jeder so, viele plappern einfach nach, was ihnen vorgeplappert wird, gerade wenn es so schön feierlich klingt. Menschenrechtler dagegen, die nun offenbar auch den Papst (»Diese Wirtschaft tötet«) zu den Ihren zählen dürfen, setzen sich mit bestehenden Macht- und Besitzverhältnissen auseinander, um Menschenrechte zur Geltung zu bringen. Die Menschenrechte gehören allen Menschen. Aber die Werte, »unsere Werte«, die nirgendwo definiert sind? Gehört mir etwas davon? Und was gehört anderen Menschen, anderen Völkern, namentlich denen, die nicht zur »Wertegemeinschaft« gehören, als die sich die NATO ausgibt? »Unsere Werte« erweisen sich als ein großer Schaum, der geschlagen wird, damit wir nicht durchblicken, während wir selber abgewertet werden. In den 1990er Jahren bis hin zur »Agenda 2010« verkündeten modebewußte Philosophen und Feuilletonisten den »Wertewandel«? Derweil stiegen die Börsenwerte, und auf dem sogenannten Arbeitsmarkt erfuhren immer mehr Menschen, daß sie – vor allem im Zeichen der Massenarbeitslosigkeit – immer weniger wert sind. Mir kam meine Tante Erna in den Sinn, die durch Epilepsie schwer behindert war. Für die Nazis war sie lebensunwert, nicht wert, leben zu dürfen. Solchen Menschen wurde das primäre Menschenrecht, das Recht zu leben, aberkannt. Vom Wert des Menschen In den 1990er Jahren veranstaltete ich in Hannover gemeinsam mit Freunden eine Vortrags- und Diskussionsreihe »Vom Wert des Menschen«. Da zeigte sich, wie gefährlich es für alle Humanität ist, wenn wir uns darauf einlassen, Menschen zu bewerten, sie auf- oder abzuwerten, sie zu verwerten. Der Soziologe Oskar Negt sagte damals, er spreche nicht gern vom Wert des Menschen, sondern lieber von der Menschenwürde. Davon spricht auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gleich im ersten Satz: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Vielleicht klingt das gar zu feierlich, abgehoben von der Realität, da wir doch täglich erleben, daß die Menschenwürde angetastet, zusammengeschlagen, brutal zerbombt wird. Darum empfehle ich, zwei Zeilen von Friedrich Schiller über die Menschenwürde im Kopf zu behalten: »Nicht mehr davon, ich bitt euch! Zu essen gebt ihm, zu wohnen; habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.« Die revolutionäre Französische Republik, die Schiller zum Ehrenbürger ernannte, verkündete 1789 als eine ihrer ersten Taten nach der Erstürmung der Bastille die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Joseph Goebbels verhieß später, das Jahr 1789 aus der Geschichte auszuradieren. Als das Nazi-Reich überwunden war, entstanden die Vereinten Nationen, die dann eine Charta der Menschenrechte in zwei Teilen hervorbrachten – 1948 mit politischen Grundrechten wie Meinungs-, Vereinigungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, 1966 mit sozialen Grundrechten wie Arbeit, Nahrung, Kleidung, Wohnung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland übernahm 1948/49 die Menschenrechte, soweit sie damals schon formuliert waren, also die politischen, als Grundlage demokratischer Staatlichkeit. Die Verfassungen der zuvor gegründeten Bundesländer waren schon viel weiter gegangen, namentlich die bayerische und die hessische, beide durch Volksentscheide demokratisch beschlossen, oder die nordrhein-westfälische. Ähnlich wie die ostdeutschen Länderverfassungen zogen sie konkrete Lehren aus der jüngsten deutschen Vergangenheit, zum Beispiel mit dem Verbot wirtschaftlicher Monopole oder mit dem Recht auf Arbeit. Artikel 19 des Grundgesetzes bestimmt: »In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.« Doch in den 65 Jahren seines Bestehens ist das Grundgesetz mindestens 65 mal geändert worden (ich habe zuletzt nicht mehr mitgezählt), in der Regel zu Lasten der Grundrechte, die im Zuge der Remilitarisierung, der Notstands- und der Antiterrorgesetze zum Teil drastisch eingeschränkt wurden. Der jährlich erscheinende »Grundrechte-Report«, herausgegeben von der Humanistischen Union und anderen Bürgerrechtsorganisationen, zeigt jedesmal beeindruckend, wie übel Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzgebung mit den Grundrechten umspringen. Die Grundrechte im Grundgesetz Sehen wir uns unter den Grundrechten, also unter den ins Grundgesetz übernommenen Menschenrechten um. Was ist aus dem Willen der Verfasser des Grundgesetzes geworden? Artikel 3 (2) sagt: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Aber jedes Jahr am 8. März, dem Internationalen Frauentag, beklagen Frauenverbände und Gewerkschaften: Frauen verdienen im Durchschnitt 30 Prozent weniger als Männer. Artikel 5: »Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen werden gewährleistet.« Inzwischen ist dieses Grundrecht weitgehend von einem Dutzend Großkonzerne monopolisiert. Ich halte das schlicht für verfassungswidrig. Artikel 8: »Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« Aber es kann passieren, daß sie von der Polizei eingekesselt und viele Stunden festgehalten werden. Richter haben das Einkesseln verboten, aber es geschieht wieder und wieder. Artikel 10: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.« Und der Bundestag hat uns auch noch das »Recht auf informationelle Selbstbestimmung« zuerkannt. Ein Witz. Einige wenige Bürgerrechtler wie der Freidemokrat Burkhard Hirsch und auch ich hatten schon vor vielen Jahren darauf hingewiesen, daß Deutschland sich zum Weltmeister im Abhören entwickelt hatte. Ich hatte auch das Treiben der US-amerikanischen Geheimdienste CIA und NSA thematisiert, vor allem in dem schon vor 30 Jahren vorgelegten Buch »Unheimlich zu Diensten«. Zum Glück haben Edward Snowden und andere jetzt mehr Publizität gefunden. Aber es ist eine Schande, daß solche Aufklärer wie Bradley/Chelsea Manning zu jahrzehntelangen Freiheitsstrafen verurteilt werden oder sich fern ihrer Heimat verstecken müssen. Warum haben regierende deutsche Politiker nicht das Selbstbewußtsein, Snowden Asyl anzubieten? Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Nach einer Verfassungsänderung in den 1990er Jahren ist das Asylrecht ungenießbar geworden. Seitdem gehört viel Glück und Geld dazu, Deutschland zu erreichen, um hier einen Asylantrag stellen zu können. Artikel 20 bestimmt, daß alle Staatsgewalt »vom Volke in Wahlen und Abstimmungen« und durch besondere Organe ausgeübt wird. In diesem Sinne hat der Bundestag einst sofort ein Wahlgesetz beschlossen, aber bis heute hat er kein Abstimmungsgesetz geschaffen, und darum kann kein Volksentscheid stattfinden. Verfassungswidrigkeit auf höchstem Niveau. Artikel 26 gebietet: Vorbereitungshandlungen für einen Angriffskrieg sind unter Strafe zu stellen. Aber sie werden nicht bestraft. Politik, Medien, Wissenschaft, Industrie, viele beteiligen sich inzwischen an der Vorbereitung von Angriffskriegen. Weitere Eingriffe in die Grundrechte sind vorgesehen, zum Beispiel laut Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD eine Einschränkung des Vereinigungs- und Streikrechts der Lohnabhängigen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Charta der sozialen Menschenrechte von 1966 zwar 1973 ratifiziert, aber sie erkennt sie nicht als rechtsverbindlich an, die sozialen Menschenrechte sind hierzulande nicht einklagbar; einem entscheidenden Zusatzabkommen verweigert sie bis heute die Unterschrift. Die USA lehnen es sogar ab, die Charta zu ratifizieren. Wir schicken immer gern Menschenrechtsbeauftragte in ferne Länder, warum nicht in die USA? Und warum holen wir nicht einige nach Deutschland – bevor sie eines Tages bewaffnet wie die NATO bei uns erscheinen? Noch besser wäre es, wenn wir uns selber beauftragen würden, an Ort und Stelle für die Menschenrechte einzutreten. Beispielsweise hätten wir neulich bei Protesten gegen das Vermummungsverbot in der Ukraine bedenken sollen, ob vielleicht auch das Vermummungsverbot in Deutschland aufzuheben wäre.
Erschienen in Ossietzky 4/2014 |
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