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Man kann es dem Fußballer nachfühlen, daß er in seiner aktiven Zeit Angst hatte, sich zu outen. Vielen Menschen geht es so. Doch Homosexualität wird ohne Zusammenhang mit anderen Rechten zur Systemfrage um Freiheit und Unfreiheit gemacht. Wenn in Moskau Homosexuelle protestieren, sind westliche Politiker und Medien solidarisch geifernd zur Stelle. Die Kölner Karnevalspräsidenten ziehen mit: Der Moskauer Ex-Bürgermeister Juri Luschkow war eingeladen worden, im Prinzenwagen den Rosenmontagszug mit anzuführen. Jetzt wurde er als »Schwulenhasser« ausgeladen, obwohl seine Einstellung nicht neu ist. Gleichzeitig lassen sich die Spitzen des Kölner Karnevals mit vollem Jecken-Wichs im Kölner Dom vom notorischen Schwulenhasser Erzbischof und Kardinal Meisner für die Karnevalssaison einsegnen; und eine Woche später darf der Schwulenhasser 1.500 Bundeswehr- und NATO-Soldaten im Dom für ihre christlichen Friedensmissionen in aller Welt beweihräuchern. So wird in den Staaten der westlichen Wertegemeinschaft um die Anerkennung von Homosexuellen ebenfalls fundamentalistisch mit Pro und Contra gerungen. Zudem »vergessen« die westlichen Freiheitskämpfer, daß es bei befreundeten Diktaturen ganz anders zugeht. In den zur westlichen Wertegemeinschaft gehörenden Öl-Staaten wie Saudi-Arabien dürfen die islamistischen Despoten Homosexuelle nicht nur diskriminieren, sondern auspeitschen, durch Religionspolizei bespitzeln und ins Gefängnis stecken lassen bis zur rechtlich möglichen Todesstrafe. Die staatlich geschützte Freiheit der sexuellen Orientierung gehört zu den »modernen« Bürgerrechten. Sie gehen als systemisches Konzept auf Bürgerrechtsbewegungen in den USA während der 1960er und 1970er Jahre zurück. Ihr Auslöser war die ursprüngliche Bürgerrechtsbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Kampf der Schwarzen gegen ihre Ausgrenzung begann, also gegen die gesetzliche Ausgrenzung aus allgemeinen Wahlen, Schulen, Behörden, Universitäten, Arbeitsplätzen, Parks, Bussen, Zügen, Restaurants. Die zentrale Persönlichkeit dieser Bürgerrechtsbewegung war Martin Luther King. Er blieb nach der erfolgreichen Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes (Civil Rights Act) 1964 nicht stehen. Er erkannte: Der Rassismus besteht weiter, und dem Erfolg der formalen Gleichheit muß zudem der Kampf gegen die soziale Benachteiligung folgen. King setzte sich für die Umverteilung von Macht und Kapital ein. Im gelobten Land der Freiheit und der Bürgerrechte überlebte er das nicht. Danach entstand in den 60er Jahren in den USA die »moderne« Bürgerrechts-Bewegung. Auch Frauen sowie Schwule, Behinderte und andere Minderheiten forderten nun den Abbau von Diskriminierungen. Die neue Bewegung entwickelte sich nach anfänglich radikalen Forderungen zu einem systemkompatiblen Konzept: rechtliche Gleichstellung ohne soziale Rechte. Zur zentralen Forderung avancierte die nach der formalen Meinungsfreiheit, praktisch verbunden mit der Pornographisierung der Gesellschaft. So kann die mit dem Ruf »Gottesscheiße« verbundene Punkdemonstration in einer russischen Kirche durch die Mädchengruppe Pussy Riot, zu deutsch »Mösenaufstand«, zum Kriterium einer freien Gesellschaft global aufgeblasen werden: Perversion der Frauenbewegung ins gossenhafte Werte-Niveau der westlichen Werte- beziehungsweise Wertlos-Gemeinschaft. Deren Vertreter gebärden sich gnadenlos opportunistisch. Auch die, die hier Homosexuelle und nackt sich ausstellende Frauen hassen, klatschen begeistert Beifall, wenn man damit Putin eins auswischen kann. Es geht diesen Heuchlern nicht um die Freiheit der Meinung, sondern um den freien Zugriff auf die Ressourcen Rußlands. In der Europäischen Union wurde aus den US-Bürgerrechten im Jahre 2000 die Antidiskriminierungsrichtlinie. Die Bundesregierung übernahm sie 2006 in das Antidiskriminierungsgesetz, offiziell: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG): »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder sexuellen Identität« sollen verhindert oder beseitigt werden. Das US-Imitat wäre nicht nötig gewesen. Denn auch die Bundesrepublik hat in den 1970er Jahren die universellen Menschenrechte der UNO ratifiziert (Charta der Menschenrechte, UNO-Sozialpakt). Darin ist die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ebenso enthalten wie Sozial- und Arbeitsrechte: Recht auf Arbeit, Recht auf freien gewerkschaftlichen Zusammenschluß, Recht auf sicheres Wohnen und Leben, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Recht auf gerechte und existenzsichernde Entlohnung, Recht auf bezahlten Urlaub, Schutz vor rassischer und religiöser Diskriminierung und so weiter. Diese Menschenrechte werden dauerhaft von Staat und Unternehmen verletzt, vergessen gemacht und wurden kommentarlos durch die Bürgerrechte ersetzt. Aber die systemische Praxis des ungleichen Lohns für gleiche Arbeit, der systemische Ausbau von nicht-existenzsichernder Niedriglöhnerei, die willkürliche Kündigung von Betriebsratsgründern, der Entzug des Existenzminimums durch Sanktionen für Arbeitslose, die politische Hetze gegen Arbeitsmigranten – all das verletzt die Menschenrechte und ist durch die neuen Bürgerrechte nicht greifbar. Gut, wenn öffentlich das Coming-out eines homosexuellen Fußballers unterstützt wird. Aber welche Medien und Regierungssprecher eilen den abhängig Beschäftigten zu Hilfe, die ihre Entlassung befürchten müssen, allein nur wenn sie öffentlich die Höhe ihres Stundenlohns benennen wollen? Die wenigen, die über ihre Diskriminierung sprechen, müssen im Fernsehen anonymisiert werden, gesichtslos, mit verstellter Stimme, hinter einer Wand. Was wir in unserem eigenen Land vor allem brauchen: die öffentliche Unterstützung für die Whistleblower, die von angstvollem Schweigen gedecktes Unrecht mutig und risikobereit aufdecken. Und wir brauchen die freie, öffentliche, aggressive Anklage der millionenfachen, menschrechtswidrigen Erpressung der (Noch-)Beschäftigten in den Unternehmen und der Arbeitslos-Gemachten in den Jobcentern. Wie frei sind Deutschland, die Europäische Union, die westliche Wertegemeinschaft?
Erschienen in Ossietzky 4/2014 |
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