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Berlins »bessere Entwickelungsfähigkeit«Wolfgang Beutin 1848 veröffentlichte der Schriftsteller Karl Gutzkow (1811–1878) sein Buch: »Deutschland am Vorabend seines Falles oder seiner Größe«, worin er für die Größe mehrere Kriterien anführt, darunter die friedenstiftende Rolle: »Unser Volk, so organisiert, wie es sein sollte, könnte allen Völkern an Großmuth und Gerechtigkeit voranleuchten und durch die That beweisen, warum Weltweise, wie Kant und Herder, Prediger des ewigen Friedens, in Deutschland geboren wurden.« Als die Revolution 1849 ihren Feinden erlag, war die Chance vertan, von »Voranleuchten« keine Rede mehr (wie auch aktuell keine davon ist). Wenig später, 1852, veröffentlichte Gutzkow das Buch: »Aus der Knabenzeit«. Wohl weist es typische Züge einer Autobiographie auf. Die übergeordnete Bestimmung verrät der Autor jedoch im Vorwort: Er beabsichtige weniger die Schilderung seiner eigenen Entwicklung als vielmehr die Widerlegung des unter seinen Zeitgenossen gängigen Berlin-Bildes, mit Andeutung der Zukunftsaussichten der Stadt: »Und doch besitzt Berlin in sich selbst eine weit bessere Entwickelungsfähigkeit, als die speziellen Interessen der dortigen Tonangabe ihm seit fünfzig Jahren gestatten wollen.« Fünfzig Jahre zurück kommt man in das Berlin von 1802, wo ein Jahrzehnt zuvor (1792) eine konterrevolutionäre Armee gegen die Französische Revolution ins Feld gestellt worden war, gelangt man in die Hauptstadt eines Königreichs, welches alsbald, 1806, durch seine Niederlage bei Jena in die vollkommene Katastrophe geriet. Abermals läßt der Autor bei Ausmalung der Vergangenheit sowie der Gegenwart zur Zeit der Abfassung der Schrift die Möglichkeit einer helleren Zukunft aufscheinen. Im Buch von 1848 die des ganzen Volkes; nunmehr die der Stadt seiner Geburt. Das Buch von 1852 ist jetzt von Peter Hasubek, einem verdienstvollen Vormärz-Forscher und Immermann-Spezialisten, neu herausgegeben worden, mit Hinzufügung eines genauen Kommentars sowie eines instruktiven Nachworts, worin er Ansätze der Interpretation vorstellt. Für das lebensgeschichtliche Element in Gutzkows Schilderung nominiert er den Einfluß der autobiographischen Werke vor allem Immermanns und des Dänen H. C. Andersen; an Berlin-Literatur des 19. Jahrhunderts müßte Gutzkow Heines »Briefe aus Berlin« (1822) gekannt haben. Der große Berlin-Roman von Willibald Alexis: »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, der gleichzeitig mit Gutzkows Buch 1852 erschien, weist ebenfalls in die Zeit vor (damals) 50 Jahren zurück, die Ära vor Jena (1806), mit Schilderung des Kriegsgeschehens. Zu nennen wäre außerdem: ebenfalls von Alexis der Aufsatz »Berlin in seiner neuen Gestaltung« (1838). Auch das Buch »Berlin« des Kommunisten Ernst Dronke (1846). Dieser Verfasser erlitt wegen seiner Schilderung Verfolgungen, gipfelnd in der Verurteilung zu zwei Jahren Festungshaft; doch gelang ihm nach der Hälfte der Zeit die Flucht ins Ausland. Vergleichbare Erfahrungen hatte auch Gutzkow hinter sich: Haftstrafe wegen seines Romans »Wally, die Zweiflerin« (1835; Stein des Anstoßes: religionskritische Einsprengsel und freimütige Erotik), und der Deutsche Bundestag – die Versammlung vor allem der Vertreter fürstlich regierter Staaten – unterdrückte die literarische Gruppierung, der man den Autor zuzählte, das »Junge Deutschland« (auch 1835). »Großmut und Gerechtigkeit«! Gutzkow hebt gegenüber den gebildeten Schichten die Menschen auf »untern Lebensstufen« hervor, rühmt die »viel Tausende von Entwickelungen« solcher, »die sich nur im niedersten Striche hielten und doch niemals dumpf oder ganz bewußtlos brütend auf plattem Boden hinkrochen«. Er verzeichnet den Unmut im Volke über die Lakaien der Fürsten: »Die Soldaten und Beamten kosten zu viel.« Er vergißt das Elend eines Webers nicht, dessen Existenz die englische Konkurrenz und die Maschinerie zerstören. Hingegen verachtet er die Untertanenseligkeit: »eine süße Unterwürfigkeit gegen Obere, ein ekelhaftes Zum-Mund-Reden von einer Gesellschaftsstufe zur andern«. Als Kind hörte der Autor seinen Vater die »›schnauzmäuligsten‹ Offiziere, die feigsten Cavaliere im Gefolge der hohen Herrschaften« anprangern. Er konstatiert: »Die Russen galten im Ganzen für die gemüthlichste Nation der Welt.« (Das heißt: die seelenvollste; ähnliche Beobachtungen machte Gutzkows Zeitgenosse Alexis.) Mit der russischen Armee kamen etliche türkische Krieger, von denen einer dem Knaben zwar nicht »orientalische Zuckerfrüchte« schenkte, aber »Thorner Pfefferkuchen und große Rostocker oder Stettiner Aepfel«. Schroff wendet er sich gegen Zeitgenossen, die aus Judenhaß am »Bild von ›blutsaugenden Wucherern‹ festhalten zu müssen« glauben. (Ein Zeugnis dafür, daß bereits zu diesem Zeitpunkt der rassistische Antisemitismus sein Unwesen trieb.) Eine Lektüre, besonders allen empfohlen, die im heutigen Berlin »eine weit bessere Entwickelungsfähigkeit« wittern, »als die speziellen Interessen der dortigen Tonangabe ihm seit fünfzig Jahren gestatten wollen« … oder vielmehr seit nunmehr runden zweihundert. Karl Gutzkow: »Aus der Knabenzeit (1852). Textkritische und kommentierte Ausgabe«, hg. von Peter Hasubek, Georg Olms Verlag, 350 Seiten, 48 €
Erschienen in Ossietzky 2/2014 |
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