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Juni 1923 Teile der Armee unter der politischen Führung von Aleksandar Zankow und in geheimem Einvernehmen mit dem Monarchen Boris III. die Regierungsgewalt an sich rissen und den Präsidenten Alexander Stambolijski grausam ermordeten. Unter den Bedingungen einer tiefen sozialen Krise und Verarmung als Folge der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs hatte Stambolijski weitgehende soziale Reformen eingeleitet und Anstalten gemacht, die Monarchie abzuschaffen. Vor allem hatte er sich außerstande gezeigt, dem wachsenden Einfluß von Kommunisten und Anarchisten Einhalt zu gebieten. Mit dem Schlagwort »Das Vaterland ist in Gefahr!« wollten die Putschisten die Interessen von Militärs, Großbourgeoisie und Finanzkapital sicherstellen. Es folgten mehrere Jahre des sogenannten »weißen Terrors«. Namhafte linke Intellektuelle verschwanden spurlos oder wurden auf offener Straße erschossen. Nach einem zweiten Militärputsch am 19. Mai 1934 wurde die Verfassung aufgehoben, das Parlament aufgelöst. Durch geschicktes Taktieren und mit der Unterstützung monarchistischer Offiziere gelang es Boris III., bald alle Zügel in die Hand zu nehmen und eine monarcho-faschistische Diktatur herbeizuführen. Daraufhin suchte Bulgarien Annäherung an das »Dritte Reich«, verabschiedete 1941 in Anlehnung an die Nürnberger Gesetze Nazi-Deutschlands ein antisemitisches »Gesetz zum Schutze der Nation« und trat im selben Jahr an der Seite der Achsenmächte gegen Jugoslawien und Griechenland in den Zweiten Weltkrieg ein. Der bulgarische Faschismus war aber keine Massenbewegung wie etwa in Italien oder Deutschland. Er fand keinen starken Rückhalt in der Bevölkerung und scheiterte besonders mit seinem antisemitischen Programm. So widersetzte sich eine breite Öffentlichkeit von Kommunisten bis zu kirchlichen Würdenträgern, als die Regierung 1943 Anstalten machte, die bulgarischen Juden an das »Dritte Reich« auszuliefern. Die Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten Griechenlands und Jugoslawiens hingegen wurden nach Auschwitz und Treblinka abtransportiert. Mit dem Einmarsch der Sowjetarmee kam am 9. September 1944 die von den Kommunisten angeführte Vaterländische Front an die Macht. Mehrere Hundert Funktionäre und Anhänger des faschistischen Regimes wurden in den ersten Tagen verschleppt und umgebracht. Der Selbstjustiz folgte eine Art Volksgerichtshof, der 2730 Todesurteile fällte. Fast alle politischen und militärischen Führer wurden hingerichtet, und der neue, nunmehr stalinistische Staatsterror richtete sich auch auf alle möglichen oder vermeintlichen politischen Gegner. Zwar wurde das politische und öffentliche Leben gründlich von allen faschistischen Organisationen gesäubert, doch was sich als Bruch mit dem Faschismus ankündigte, entpuppte sich bald als dessen Kontinuität in anderer Gestalt. Erneut traten Führer auf, die Gefolgschaft verlangten. Bei Aufmärschen und Fackelzügen schwor das Volk Treue und wirkte an Ritualen der Heldenverehrung mit, die zu Gesamtkunstwerken gediehen. Manche Denkmuster und Wertvorstellungen aus der faschistischen Zeit wirkten weiter, auch wenn sich Bulgarien jetzt sozialistisch nannte. Nationalismus und Rassismus blieben zunächst aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Doch als mit der Herausbildung einer neuen Klassengesellschaft die sozialistische Idee nur noch in Worthülsen fortlebte und ihre Kohäsionskraft einbüßte, griff man auch auf den Nationalismus zurück. Der sozialistische Staat versuchte den Verfall seiner Ideologie zu kompensieren, indem er sich als legitimer Erbe und Hüter eines ruhmreichen Bulgarentums aufwarf. Es wurden neue Denkmäler von Khanen und Zaren errichtet, man huldigte wieder dem »Altar des Vaterlandes«, die unseligen Balkankriege wurden als ein Heldenepos verherrlicht, und selbst das Gemetzel des Ersten Weltkriegs gedieh erneut zum Ruhmesblatt des bulgarischen Soldaten. Das Volk wurde auf einen »sozialistischen Patriotismus« eingeschworen und auf den Stolz verpflichtet, Bulgare zu sein. In den 1980er Jahren wurden die bulgarischen Staatsbürger türkischer Herkunft gezwungen, sich zum Bulgarentum zu bekennen und bulgarische Namen anzunehmen. Die Folge war ein Exodus dieser Minderheit. Was Wunder, wenn mit der sogenannten Wende der Faschismus sein Urheberrecht auf die Worthülsen und Riten des »sozialistischen Patriotismus« geltend machte. Er kündigte sich auf T-Shirts an, bedruckt mit der Landkarte eines Groß-Bulgarien. Man hörte Historiker und Politiker erklären, Bulgarien sei das einzige Land, das nur an sich selber grenze. Ergraute Gestalten der faschistischen Vergangenheit kehrten heim aus dem Exil und fanden warmen Empfang. Der fast hundertjährige Vantsche Mihailov, mazedonisch-bulgarischer Terrorist und Serienkiller, der noch 1943 im Auftrag Heinrich Himmlers Bataillone für die Waffen-SS formiert hatte, wurde schon 1990 ausführlich im Staatsfernsehen hofiert und bewundert. Auf dem nun freien politischen Markt flackern mehrere Parteien und Bewegungen auf, die sich zu faschistischen oder nationalsozialistischen Ideen bekennen. Keine schafft es zu einem nennenswerten Anhang, geschweige denn ins Parlament. Erfolge verzeichnen indes andere, nämlich die aus den Reihen der Nomenklatur und dem Geheimdienst emporgekommenem neuen Unternehmer, die unter lautstarker Beschwörung nationaler Ideale die sozialistische Staatsindustrie in die eigene Tasche privatisieren, Renten- und Krankenkassen plündern, Koffer mit Bargeld herumreichen und es auf Konten im Ausland parken. Als infolgedessen eine soziale Verelendung bisher ungekannten Ausmaßes um sich griff, bot der Buchhandel nahezu gleichzeitig mehrere auffallend preisgünstige Bücher an, die den lesefreudigen Bulgaren erklärten, wem sie ihr Elend zu verdanken haben. Mit Titeln wie »Die geheimen Protokolle«, »Die neue Ordnung«, »Die Weltverschwörung« schienen diese Traktate aus der Feder eines Alfred Rosenberg geflossen zu sein. Als Autor zeichnete aber ein gewisser Nikola Nikolov, inzwischen verstorben, der angab, seit 1969 im amerikanischen Exil zu leben. So wurde die bulgarische Öffentlichkeit 1992 endlich über die Machenschaften eines »Judeo-Bolschewismus« aufgeklärt. In dieser Gestaltwerdung, nämlich als Kommunismus, habe die ewige jüdische Weltverschwörung die Zersetzung der nationalen Identitäten vorangetrieben, um sich nun in der Gestalt des globalisierten Kapitalismus an die Ruinierung und Verelendung aller Volkswirtschaften heranzumachen. Die Bücher fanden guten Absatz. Im heutigen Bulgarien leben zwar kaum noch Juden, und es fehlt in diesem Lande an einer wiederbelebbaren antisemitischen Tradition. Umso besser eignet sich zur Steuerung des Volkszorns der vor etwa 20 Jahren entdeckte und seitdem fleißig geschürte Antiziganismus. Der hat den Nachteil, daß von einer Weltverschwörung eines Zigeunertums nichts bekannt ist. Dafür hat er den Vorteil, daß die circa 700.000 bulgarischen Roma eine Projektionsfläche zur Entladung des im Wahlvolk aufgestauten Hasses und Frustes bieten – aus zwei Gründen: erstens dem Zusammenbruch der sozialistischen Industrie und Landwirtschaft, der am schlimmsten die Roma traf, deren soziale Verelendung apokalyptische Züge annahm und unvermeidlich zur explosiven Zunahme der Kleinkriminalität unter ihnen führte; zweitens den in der bulgarischen Kultur wie fast überall in Europa seit je schlummernden rassistischen Vorurteilen und Stereotypen in bezug auf die Sinti und Roma. Aus der Kombination des Antiziganismus mit den immer schon kulturpolitisch gepflegten Ressentiments gegenüber den Türken ergab sich eine politische Plattform, die nun doch eine der faschistischen Parteien ins Parlament brachte: die Partei »Ataka« unter der Führung des Journalisten Wolen Siderow. Die Partei »Ataka« bietet die seltene Fallstudie zum Entstehen einer politischen Partei aus dem Geiste einer Fernsehanstalt. Der private Fernsehsender SKAT, der sich seit 1992 der Pflege des Bulgarentums verschrieben hat, wurde 2003 der Haussender für Wolen Siderow und seine martialische Talkshow »Ataka«, zu Deutsch »Angriff«. Einziger Brennpunkt der Sendung, die meistens als One-man-show über den Bildschirm donnerte, war das von Türken und Roma sowie Nationalverrätern bedrohte Bulgarentum. Menschenrechtsorganisationen erhoben hin und wieder Klagen gegen Siderow und seine Sendung, sie festigten aber nur Wolen Siderows Ansehen bei seinem Publikum und stabilisierten die beachtlichen Einschaltquoten seiner Sendung. Und siehe da, 2005 gründete Siderow eine politische Partei und taufte sie »Ataka«. Im Zeitalter der Fernsehdemokratie transponierte er seine Sendung in ein parteipolitisches Programm, und bei der Wahl von 2005 münzte er auf Anhieb seine Einschaltquoten in 21 Parlamentssitze um. 2009 zerstritt sich Wolen Siderow mit SKAT, seine Sendung wurde abgesetzt, doch sie lebt fort als die Partei »Ataka«, die auch bei der Wahl 2013 ihren Rang als viertgrößte Partei bestätigte. Neuerdings betreibt Wolen Siderow den Radiosender Ataka und den Fernsehkanal Alpha. Wie er das alles finanziert, ist ein Rätsel. Ist Wolen Siderow ein Nazi? Der Name seiner Partei, seiner Zeitung und seines Radiosenders, »Ataka«, verweist in die Geschichte der untergegangenen Nationalsozialistischen Bulgarischen Arbeiterpartei, deren Parteiblatt Ataka hieß. 1932 bis 1934 scheiterte diese Partei beim Versuch, den Erfolg der NSDAP nach Bulgarien zu importieren. Das Programm der Nationalsozialistischen Bulgarischen Arbeiterpartei war streckenweise eine Übersetzung des Programms der NSDAP, während ihre Zeitung nach Josef Goebbels‘ Angriff benannt war. Diese Inspirationsquelle Wolen Siderows scheint niemandem aufgefallen zu sein, obgleich nicht nur seine Sendung, seine Partei, seine Zeitung und sein Rundfunk den Namen des Parteiblatts der Nationalistischen Bulgarischen Arbeiterpartei tragen, sondern auch im Programm beider Parteien derselbe Geist weht. Darüber hinaus ist Siderow Autor mehrerer Bücher wie »Der Bumerang des Bösen« und »Die Macht des Mammon«, Plagiate aus der antisemitischen Klassik, garniert mit Fingerübungen zum Thema »Die Auschwitzlüge«. In seinen öffentlichen Auftritten mimt Siderow durch Körpersprache und Gestus eine Führergestalt wie aus einer »Wochenschau« des »Dritten Reiches«. Dennoch gibt er sich beleidigt, würde man ihn einen Nazi oder einen Faschisten nennen, und er ist bereit, deswegen vor Gericht zu ziehen. Wolen Siderow will politisch als aufrechter Nationalist wahrgenommen werden, etwa vom Schlage eines Le Pen, der strafrechtlich nicht zu belangen ist. Siderows Haßtiraden gegen Türken, Roma, Juden und Homosexuelle machen Schlagzeilen. In der Öffentlichkeit bringt ihm das viel Spott ein, aber er gewann damit genug Wähler, um ins Parlament zu kommen. Das ist es, was zählt. Seitdem weiß er acht bis zehn Prozent der Wählerschaft bei der Stange zu halten. Daß er sich mit seinem faschistischen Rabaukentum bisher keine nennenswerten strafrechtlichen Folgen zugezogen hat, ist mit der Tatsache zu erklären, daß seine Partei von den größeren politischen Spielern und von den im Dunkeln agierenden Hintermännern der bulgarischen Politik gebraucht und verwendet wird. Wer sind die Hintermänner? Personen beziehungsweise Personenkreise, die »Konglomerate« und »Holdings« von Banken und Betrieben besitzen, Parteien finanzieren und die Politik kontrollieren. Ein Netzwerk, das Leib und Seele des neu formierten bulgarischen Kapitalismus ist. Im Parlament fungiert Siderow jedenfalls von Mal zu Mal als zuverlässiger Mehrheitsbeschaffer eines Minderheitskabinetts, ohne als ein regulärer Koalitionspartner herangezogen zu werden, was die Gunst der Europäischen Union kosten könnte. Offensichtlich kann Siderow mit und von dieser Rolle des Mehrheitsbeschaffers gut leben. Je nach Umständen zieht er einzelne Register seiner faschistischen Orgel und steckt andere zurück. 2009 unterstützte er die Minderheitsregierung einer konservativen Partei, angeblich um zu verhindern, daß die Partei für Rechte und Freiheiten, die sogenannte Türkenpartei, an der Regierung beteiligt wurde. Darum zog Siderow ganz weit das Register der Türkengefahr. Heute ist er Mehrheitsbeschaffer einer Minderheitsregierung der sogenannten Sozialisten in Koalition mit der sogenannten Türkenpartei. Kein Problem: Wolen Siderow hat das Register der Türkengefahr zurückgesteckt. Auf das Abstimmungsverhalten seiner Abgeordneten kann man sich verlassen. So funktioniert der bulgarische Faschismus heute: Man bedient sich aus dem Repertoire eines Nationalismus, der nie überwunden wurde: Blut- und Boden-Floskeln, Türkengefahr, Zigeunerplage, Juden- und Freimaurerverschwörung, kosmopolitische Nestbeschmutzer, Altar des Vaterlandes. Damit kommt man bei den ewig Betrogenen gut an und ködert sie noch mit einem linksnationalistischen Programm, das den verarmten Bulgaren so ziemlich alles verspricht, was sie beim Staatssozialismus hatten und heute bitter entbehren müssen: soziale Sicherheit, staatlich garantierte Fürsorge und Krankenpflege, anständige Altersrente und etliches mehr. Darüber hinaus verspricht Wolen Siderow, Bulgarien zu dekolonisieren und ein Referendum zum Austritt aus der NATO und der EU durchzuführen. Solange er als freischwebender Mehrheitsbeschaffer agiert, darf er all dies in Aussicht stellen. Allerdings droht Konkurrenz von unerwarteter Seite. Die Fernsehanstalt SKAT, bei der Wolen Siderow mit seiner Sendung »Ataka« groß wurde, um sich dann mit der Partei »Ataka« davonzustehlen, erwies sich als sehr gebärfreudig. »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« – scheint sich der Betreiber von SKAT, Waleri Simeonow, gesagt zu haben, und 2011 zog er aus dem Geiste seiner Fernsehanstalt eine neue Partei hervor. Er taufte sie »Nationale Front zur Rettung Bulgariens« und will mit ihr Wolen Siderow, den er eine »politische Hure« nennt, das Fürchten lehren. 2013 zog er mit dieser jüngeren Halbschwester von »Ataka« in den Wahlkampf und schaffte es nur um eine Handvoll Stimmen nicht, zu ihr über die Vier-Prozent-Hürde ins Parlament zu springen. Daher wirbt heute der patriotische Unternehmer, wie sich Waleri Simeonow präsentiert, eifrig um die Gunst der von Siderow enttäuschten Wähler, und die Aussichten sind gar nicht übel, daß es bald im bulgarischen Parlament gleich zwei aus demselben Schoß gekrochene Fernsehparteien geben wird.
Erschienen in Ossietzky 1/2014 |
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