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Die Krise, die mit dem Putsch gegen den frei gewählten Präsident Mohammed Mursi am 3. Juli ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat, ist also keineswegs beendet. Nach tagelangen Massenprotesten gegen seine Politik wurde Mursi vom Militärrat abgesetzt und inhaftiert. Die säkulare Opposition behauptete, über 22 Millionen Unterschriften für den Rücktritt des Präsidenten gesammelt zu haben: Ein Versuch, der Legitimation Mursis durch die Urnen eine andere Legitimation entgegenzustellen. Handelte das Militär also als Vollstrecker des Volkswillens? Ägypten hatte sich am 30. November 2012 eine neue Verfassung gegeben. In der Verfassunggebenden Versammlung hatten – auch aufgrund des Boykotts linker und säkularer Gruppen – die Muslimbrüder und die salafistische Nour-Partei 66 der 100 Sitze erhalten. Diese Verfassung war im Dezember 2012 bei einer Wahlbeteiligung von 33 Prozent mit 64 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen worden. Sie war stark islamistisch geprägt: Frauenrechte wurden massiv eingeschränkt, auch ein Minderheitenschutz fehlt, was besonders die koptische Gemeinschaft als Gefahr empfindet. Schließlich wurde die religiöse al-Azhar-Universität für gewisse Teile der Verfassung nahezu in den Rang eines Verfassungsgerichts erhoben: Nach Art. 4 müssen Rechtsgelehrte der Universität »zu Fragen, die das islamische Recht betreffen, gehört werden«, laut Artikel 11 schützt der Staat »die Moral und die öffentliche Ordnung«. Hier wurde mit Gummiparagraphen dem Einfluß der Religiösen Tür und Tor geöffnet. Die Muslimbrüder bauten eigene Milizen auf, nutzten die ihnen formal zugefallene Macht, um wichtige Posten in der Verwaltung mit ihren Leuten zu besetzen, vor allem zahlreiche Gouverneursposten – ein schleichender Staatsstreich? Die soziale Situation wurde angeheizt durch akute Versorgungsmängel und rasant steigende Preise. War dies organisiert? Schlüsselindustrien wie gerade die Raffinerien sind im Besitz von Magnaten des alten Regimes, vor allem aber auch des Militärs, das – je nach Angaben – zwischen 15 und 40 Prozent der ägyptischen Ökonomie kontrolliert. Mit dem Putsch sind diese Versorgungsmängel verschwunden. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund eines sich wandelnden internationalen Kräfteverhältnisses: Seit über zwei Jahren ist immer deutlicher sichtbar, daß die USA und in ihrem Gefolge die EU zusehen, wie Katar und Saudi-Arabien in der ganzen Region mit viel Geld und Waffen die Islamisten unterstützen. Eine neue verläßliche Regionalmacht am Golf soll im Interesse des Westens den Fluß von Öl und Gas sichern, die Region unter Kontrolle halten und vor allem ein politisch-strategisches Gegengewicht (s. dazu die Lieferung von wahrscheinlich mehr als 800 deutschen Leopard-Panzern an Saudi-Arabien) gegen den Iran bilden, den gemeinsamen Erzfeind der Despotien am Golf, Israels und der USA. Der Sturz des Assad-Regimes ist Teil dieser regionalen Strategie, in der sich Islamisten aller Couleur von den saudischen Wahabiten über die Kataris bis zur türkischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) einig sind. Wie aber gerade der Krieg in Syrien zeigt, ist die islamistische Front keineswegs ohne innere Gegensätze: Während Saudi-Arabien die dem Wahabismus zuneigenden Salafisten stützt, setzen die Kataris auf die Muslimbrüder. Diese sind ob ihrer Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit wie auch ihrer breiten Anhängerschaft im ganzen arabischen Raum bis zur Türkei den Saudis ein Dorn im Auge. Der Kampf um die Hegemonie zwischen den Despotien nicht nur in Ägypten sondern im ganzen arabischen Raum scheint offen ausgebrochen. Dazu gehört, daß Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait, nicht aber Katar, der ägyptischen Militärführung sofort nach dem Sturz Mursis zwölf (!) Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellten – mehr als das Doppelte dessen, was der Internationale Währungsfonds (IWF) als Kredit in Aussicht gestellt hatte. Katar, das die Muslimbrüder allein im letzten Jahr mit acht Milliarden Dollar unterstützt hatte, ist aus diesem Geber-Konsortium ausgeschieden und erscheint als vorläufiger Verlierer. Es mag sein, daß der Putsch Ägypten vorläufig vor einer Konfrontation zwischen Säkularen und Islamisten bewahrt hat. Aber: Die Muslimbrüder sind abermals in ihrer fast hundertjährigen Geschichte zu Opfern geworden, die sich nun sogar auf eine demokratische Legitimation berufen können. Die Konfrontation dürfte sich nicht auf Ägypten beschränken lassen, sondern könnte aufgrund der sozialen Verankerung der Muslimbrüder die gesamte arabische Welt erfassen. Dann würde sichtbar, auf welch tönernen Füßen das saudische Regime und seine despotischen Partner am Golf wirklich stehen. Die westliche Politik hat sich in ein schwer lösbares Dilemma laviert: Die Unterstützung putschistischer Militärs kann keine politische Lösung der Krise bringen, den Muslimbrüdern verhilft der Putsch zu einer neuen Märtyrer-Gloriole. Das Comeback des alten Regimes hinter den Gewehrläufen läßt erahnen, daß die Gewerkschaften und die Linken ihre wenigen erkämpften Freiheiten bald verlieren dürften und die sozialen Ursachen des Volkszorns sich weiter zuspitzen werden. Dabei ist ein historisches Moment neu: Das Wissen der Massen, daß sie nach fünftausendjähriger pharaonischer Herrschaft (nicht nur in Ägypten) Diktatoren zu stürzen vermögen. Die Linke, die zu großen Teilen dem Putsch applaudiert hat, wird sich bald neuer Repression des militärisch-industriellen Komplexes Ägyptens und der Nomenklatura des alten Regimes gegenübersehen. Unter diesen Bedingungen kann von einer »Stabilisierung« Ägyptens unter den Militärstiefeln wohl nicht gesprochen werden. Die USA und der Westen haben mit den von ihnen bis dahin massiv unterstützten Muslimbrüdern nicht nur einen Bündnispartner, sondern auch in weiten Teilen der Bevölkerung ihr Ansehen verloren. Die Schlacht haben die Saudis gewonnen, die nach wie vor im ganzen Raum von Irak über Syrien bis in den Maghreb und nach Mali Dschihadisten unterstützen – und gleichzeitig als Gegner des Iran zum neuen Bündnispartner Israels werden. Diese explosive Gemengelage dürfte schon bald zu einem Problem werden, das zu lösen wohl die Fähigkeiten westlicher Diplomatie übersteigen könnte.
Erschienen in Ossietzky 25/2013 |
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