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In Umfragen äußern zwar viele Menschen massive Kritik an diesem System der marktkonformen Demokratie – aber sie wählen es mit überwältigenden Mehrheiten. Diese »kognitive Dissonanz« ist das Ergebnis einer beispiellosen Umerziehung der Gesellschaft, die sich zunehmend mit den Werten und Normen identifiziert, die ihr eigentlich großen Schaden zufügen. Die Werte und Normen sind Erfolg und Effizienz, und die Wege dorthin sind Wettbewerb und Selbstmanagement. Mächtige Instanzen arbeiten daran, der jungen Generation global eine neue Identität einzupflanzen. Die allermeisten Familien haben »Super-Nannys« in die Familie geholt, die ihnen zwar nicht die Arbeit mit den Kindern abnehmen, aber beträchtlichen Einfluß auf die seelische Entwicklung, auf Denken und Fühlen, auf Geschmack und Ideale, Lebensziele und Selbstdarstellung haben: Fernsehen und Internet, Smartphone und Facebook. Bereits von klein auf sind Kinder Adressaten eines Sperrfeuers von Verführung und Manipulation. Die Agenten bombardieren sie mit allen Tricks, denn sie wissen um den Einfluß der Kleinen auf die Kaufentscheidungen der Eltern. Wie der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber einen dieser Agenten zitiert, wird in dieser Schlacht jenes Unternehmen siegen, »das die Kids am besten versteht, ihre emotionalen Bedürfnisse, ihre Phantasien, ihre Träume, ihre Wünsche. Dieses Wissen ist die mächtigste Waffe im Arsenal des Vermarkters, der das Herz der Kinder gewinnen will.« Die Kinder sind die Opfer dieser Schlacht, und weit und breit ist keine Kinder- und Jugendhilfe, die diese Schlacht anprangert und unterbindet. Agenturen sind damit befaßt, die emotionalen Bedürfnisse und Träume der Kinder auszuforschen. Die KidsVerbraucherAnalyse hat schon Vierjährige im Visier, um ihre Rolle als Konsumenten und Kaufentscheider zu analysieren und die Ergebnisse für Marketing- und Werbeplanung zur Verfügung zu stellen. Der Konzern Facebook ist milliardenschwer – nicht durch Produkte, sondern durch den Verkauf persönlicher und intimer Daten von meist jungen Leuten; mit Hilfe dieser Persönlichkeitsprofile können Konzerne auf jedes einzelne Kind zugeschnittene Werbung im Netz einblenden. Kinder als Konsumenten sind Ziel dieser umfassenden Manipulation mit Hilfe raffinierter emotionaler und Sinne stimulierender Botschaften. Häufig stellt aber nicht der Gebrauchswert der Markenklamotten und süßen Verlockungen oder des Elektrospielzeugs das eigentlich Attraktive dar. »Konsumieren bedeutet heute nicht mehr, sich Genußmittel verschaffen, sondern in gesellschaftliche Zugehörigkeit investieren – was in einer Konsumentengesellschaft bedeuten muß: in die eigene ›Verkäuflichkeit‹«, sagt der Soziologe Zygmunt Bauman (Blätter, 13/10, Übersetzung: Frank Jakubzik). Wenn die Kinder von einer Marke abhängig geworden sind, ist das Ziel der »Dealer« erreicht. Und der Prozeß der Abrichtung zum Konsumenten hat sie dabei innerlich verändert: Sie konsumieren nicht nur Waren, sie haben vielmehr akzeptieren gelernt, daß alles und alle nicht an sich, sondern nur als Ware einen Wert haben. Der Konsum wird quasi als Investition in die Selbst-AG vorgenommen, um die Selbstverwertung effektiver managen zu können. »Ein verkaufsfähiges Produkt zu werden und zu bleiben« ist nach Bauman die Hauptsorge der Nutznießer, wobei sie selbst zum Konsumgut werden. Alle Produkte, einschließlich der Zahl der Beziehungen, haben das Ziel, den eigenen Marktwert zu erhöhen. Die Kinder und Jugendlichen müssen sich selbst in ein nachgefragtes Produkt verwandeln, um nicht exkommuniziert zu werden. Wenn diese Beeinflussung Erfolg hat, stehen junge Leute nicht nur der Produktion zur Verfügung, sie akzeptieren sich selbst und ihre Fähigkeiten als Humankapital. Von ihnen ist kein Protest zu erwarten. Diejenigen aber, die in diesem Prozeß der Produktwerdung und der Selbstvermarktung nicht mithalten können, haben keine Gnade zu erwarten. Der neoliberale Kapitalismus sorgt nicht für soziale Gerechtigkeit und Ausgleich, für Chancengleichheit und Förderung der Benachteiligten, sondern für Training der Starken und Effektiven, für Belohnung der »Exzellenz«. Die Abgehängten bekommen danach gerade so viel, wie ihnen nach diesem Prinzip zusteht: Sie sollen nicht verhungern, wir leben schließlich in einem sozialen Rechtsstaat. Würde und Entfaltung der Persönlichkeit? Sie sollen sich gefälligst anstrengen, um ihre Selbstvermarktung effektiver zu gestalten. Der Trick der die öffentliche Meinung beherrschenden politisch-wirtschaftlichen Elite besteht darin, die Ergebnisse ökonomischer Entscheidungen und massiver Beeinflussung (Armut und Ungleichheit, Konsumverhalten und Lebensstile) als »natürliche« Tatsachen, Produkt autonomer Entscheidungen oder als feste Eigenschaften zu individualisieren und zu entpolitisieren. So schließt sich heute der Kreis: Die Anhänger des neoliberalen Welt- und des sozialdarwinistischen Menschenbildes sind am Ziel ihrer Wünsche. Die Markt-Menschen konsumieren nicht nur, sie haben das Prinzip der Vermarktung internalisiert. Sie haben sich zu eigen gemacht, daß sie ein Produkt sind, das verwertet werden muß. Für auf Ausgleich bedachte Sozialpolitik ist da weder Raum noch Bedarf. Die Sozialpolitik schafft sich ab. Wieso sollen Loser gefördert, wieso Gewinner durch höhere Steuern belastet werden? Genauso wie für Banken das Kunst- und Sport-Sponsoring immer auch Public Relations ist, genauso wie Konzerne Spenden an Parteien als gewinnbringende Investition betrachten, genauso betreibt die Regierung (und die EU) nicht Sozialpolitik für menschenwürdiges soziales Zusammenleben, sondern investiert in Humankapital, um es Konzernen zur profitablen Verwertung zur Verfügung zu stellen. Blauäugig erscheint vor diesem Hintergrund die Forderung von Wohlfahrtsverbänden und Unicef nach Bildungsgerechtigkeit. »Bildung sollte frühzeitige und gezielte Förderung für benachteiligte Kinder umfassen«, rät Unicef den Regierungsparteien. Diese werden den Rat nicht beherzigen. Bildung ist für sie Förderung zukünftiger Leistungsträger, und sie ist eine Ware wie alles, was uns umgibt und was wir sind. Allerdings ist Deutschland durchaus bereit, den jungen Menschen anderer Länder – besonders der verarmenden Staaten in Südeuropa – zu helfen: Wenn sie gut ausgebildet und top motiviert sind, dürfen sie hier arbeiten. Die Bundesanstalt für Arbeit will spanische Ärzte und griechische Ingenieure anwerben; ihre zentrale Auslands- und Fachvermittlungsstelle sucht auch IT-Spezialisten und Pflegekräfte. Das zuständige Bundesministerium unterstützt deutsche Anbieter von Aus- und Weiterbildung bei der Erschließung des schnell wachsenden internationalen Bildungsmarktes. Auch Großkonzerne wie SAP wollen Südeuropas Fachkräfte anlocken – »Ihr Griechen und Spanier, kommet doch all«, karikiert die SZ die Anwerbebemühungen. Die deutsche Politik fremdenfeindlich? Nicht, wenn es um gut verwertbare Arbeitskräfte geht. Daß deren Ausbildung für uns kostenlos war und ihre Qualifikation in den Heimatländern zu weiterem Ausbluten führt, das ist zwar bedauerlich, aber marktkonform. Und das ist die Hauptsache.
Erschienen in Ossietzky 25/2013 |
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