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Die Gründe des Aufstands waren vor allem sozialer Natur: Über Jahre hatte sich die soziale Situation der Menschen verschlechtert, die Jugendarbeitslosigkeit lag bei 50 Prozent, aber auch die Repression des kleptokratischen Regimes war fürchterlich: So verbanden sich sozialer Protest mit der Forderung nach Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Sehr bald wurden die Proteste von der mächtigen Einheitsgewerkschaft des Landes Union Générale des Travailleurs Tunisiens (UGTT) unterstützt, in der immerhin 750.000 Mitglieder der zwölf Millionen Tunesierinnen und Tunesier organisiert sind. Zwar war die Spitze der Organisation von Ben Ali korrumpiert, die unteren und mittleren Strukturen jedoch standen fest in der fast hundertjährigen Tradition ihres Kampfes für soziale Rechte. Das Prestige der Gewerkschaft gründet auch auf ihrem Kampf für die Unabhängigkeit (1956) an der Seite der nationalistischen Bewegung. Im Oktober 2011 gewannen die Islamisten der en-nahda (Die Wiedergeburt) bei der ersten freien Wahl seit der Unabhängigkeit 89 der insgesamt 217 Parlamentssitze. Von den übrigen Parteien – insgesamt 117 waren angetreten – brachten es nur wenige auf eine zweistellige Zahl. Die Islamisten waren an der Revolte unbeteiligt gewesen: Ihre Kader und Mitglieder saßen in den Kerkern des Regimes oder waren ins Ausland geflohen. Aber sie genossen gerade deshalb ein Prestige des Widerstands, und ihr Slogan »Der Islam ist die Lösung« erschien vielen als Alternative zum alten korrupten Regime. So bildete en-nahda mit zwei kleineren säkularen Parteien, die allerdings keinen politischen Einfluß zu nehmen vermochten, die erste demokratisch legitimierte Regierung nach der Revolte. Das neue Parlament konstituierte sich als Verfassunggebende Versammlung: Binnen Jahresfrist (also im Oktober 2012) sollten eine neue Verfassung ausgearbeitet und Neuwahlen abgehalten werden. Die von en-nahda geforderte Festschreibung islamischer Grundsätze und dehnbarer Straftatbestände wie »Beleidigung des Heiligen« oder »Verstöße gegen Sitte und Moral«, besonders aber die angestrebte Einschränkung von Frauenrechten in der diesbezüglich geradezu vorbildlichen tunesischen Verfassung von 1959 führten zu einer Blockadesituation im Parlament. Umgehend begannen die Islamisten damit, ihre Macht auszubauen und die durch die Parlamentsblockade gewonnene Zeit zu nutzen: Zu Tausenden wurden Mitglieder im Staatsapparat beschäftigt, islamistische Milizen wie beispielsweise die »Liga zum Schutz der Revolution« aufgebaut. Dabei zeigte sich bald, daß eine starke salafistische Strömung innerhalb der Partei mehr und mehr deren Agenda bestimmte. Zugleich begann eine Islamisierung der Gesellschaft: Mit saudischer und katarischer Unterstützung wurden Bildungseinrichtungen aufgebaut, das Bildungswesen und die Universitäten sollten in den Griff genommen werden, bei diesen Aktionen kam es ab November 2011 zu ersten tätlichen Auseinandersetzungen an der Universität Tunis-La Manouba (s. Ossietzky 21/12). Ein Museum für zeitgenössische Kunst wurde angegriffen und weitgehend zerstört, Künstler und Journalisten auf offener Straße attackiert, säkulare (linke) Hochschullehrer wurden mit erfundenen Anklagen vor Gericht gestellt, feministische Aktivistinnen, Rapper und Künstler verhaftet, die »Ligen zum Schutz der Revolution« attackierten Gewerkschaftshäuser und Gewerkschafter. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Gewalt, als ein Vorstandsmitglied einer neugebildeten bürgerlichen Partei (nidah tunes »Aufruf Tunesien«) von Milizionären zu Tode geprügelt wurde. Am 6. Februar 2013 wurde der Vorsitzende einer kleinen linken Partei, Choukri Belaid, beim Verlassen seines Hauses von einem Kommando erschossen. Dem folgte am 24. Juli der Mord an Mohamed Brahmi, Vorsitzender einer anderen kleinen linken Partei. Beide Politiker wurden mit derselben Waffe erschossen. Erst nach mehreren Wochen wurde bekannt, daß das Innenministerium von der CIA eine Warnung erhalten hatte, die auf Mordpläne gegen Brahmi hingewiesen hatte. Weshalb diese Warnung unberücksichtigt blieb, wollte das Innenministerium bis heute nicht erklären. Seit über zwei Monaten gibt es im gebirgigen Grenzgebiet zwischen Algerien und Tunesien Kämpfe mit salafistischen Gruppen, bei denen bereits zwölf Angehörige der Nationalgarde und der Armee getötet wurden. Die terroristische Gruppe wird mit hochwertigen Waffen aus Libyen versorgt und auf algerischer Seite auch von der algerischen Armee bekämpft. Katastrophal ist die soziale und wirtschaftliche Bilanz des Landes: Während die en-nahda-Regierung die Wirtschaft weiter liberalisiert und dem europäischen Kapital die Türen noch weiter öffnet als dies zu Zeiten Ben Alis der Fall war, haben einige ausländische Firmen sich aufgrund der Sicherheitslage und wegen Streiks und Protesten der Beschäftigten gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen und unzureichende Löhne aus dem Land zurückgezogen – ein deutliches Zeichen für die Verwundbarkeit der abhängigen Ökonomien am Südufer des Mittelmeers. Schwere Einbrüche verzeichnet auch der Tourismus, der wichtigste Devisenbringer des Landes. Riesigen Schaden verursacht der Schmuggel von (teils subventionierten) Lebensmitteln und Gebrauchsgütern nach Libyen, der in Tunesien zu Mangelsituationen und Verteuerungen führt. Gleichzeitig wird der Dinar immer weiter abgewertet, so daß mittlerweile auch große Teile der Mittelschicht von Verarmung bedroht sind. Die Proteste gegen die Regierung, an denen sich inzwischen auch die Gewerkschaften der Sicherheitskräfte beteiligen, nehmen zu. Seit mehreren Wochen verhandeln unter Führung der UGTT die säkularen Parteien mit der Islamisten-Partei wegen der Regierungsübergabe an eine Technokraten-Regierung, die mit inhaltlicher Kompetenz das Land aus der Krise führen soll. Doch gefundene Kompromisse werden immer wieder von en-nahda torpediert. So taumelt das Land immer tiefer in die Krise. Wann endlich die neue Verfassung verabschiedet wird, Neuwahlen stattfinden können, erscheint ungewiß. Eine »ägyptische Lösung« scheint unwahrscheinlich, weil die tunesische Armee weder militärisch noch politisch oder wirtschaftlich eine der ägyptischen vergleichbare Rolle spielt. Hilfreich wäre politischer und wirtschaftlicher Druck des Westens und der Europäischen Union, um gemeinsam mit den fortschrittlichen Kräften des Landes die Situation zu stabilisieren. Doch dem Ausland scheint aufgrund kurzfristiger Interessen die neoliberale Wirtschaftspolitik der en-nahda wohl attraktiver als die wirtschaftliche und soziale Gesundung eines Landes, dessen »Revolution« vor zweieinhalb Jahren weltweit bejubelt wurde.
Erschienen in Ossietzky 24/2013 |
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