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Der verstorbene Strafrechtler Sebastian Cobler (in seinem Buch »Die Gefahr geht vom Menschen aus«) und der Anwaltskollege Heinrich Hannover (»Die Republik vor Gericht«) berichten übereinstimmend aus den Gerichtssälen jener Zeit: In Staatsschutzverfahren werfen die Richter den Angeklagten Uneinsichtigkeit, Hartnäckigkeit und Rechtsfeindschaft vor und beanstanden ihr Verhalten während des Prozesses. Uneinsichtigkeit, Hartnäckigkeit, Rechtsfeindschaft ... – das klingt nicht nur nach Gesinnungsjustiz, das ist Gesinnungsjustiz. Mit diesen Vorwürfen und mit der Art der Handlungen, deretwegen die Angeklagten vor Gericht stehen, begründen die Staatsschutzkammern besondere Beschränkungen während der Untersuchungshaft, höhere Strafen und deren sofortige Vollstreckung. Exemplarisch berichten Cobler und Hannover über den Fall des Schriftstellers Peter Paul Zahl, dem 1974 der Prozeß gemacht wurde: Zahl hatte während einer Personenkontrolle der Polizei zu fliehen versucht. Zwei Polizisten verfolgten ihn und gaben zwölf Schüsse ab. Zahl wurde an beiden Armen verletzt. Im Laufen schoß er viermal zurück und verletzte einen Polizisten. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen versuchten Mordes und beantragte zwölf Jahre Freiheitsstrafe. Das Gericht folgte dem Antrag nicht. Es verurteilte Zahl wegen fortgesetzten Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Zahl, so die Urteilsbegründung, habe auf die verfolgenden Beamten ohne Tötungsabsicht geschossen. Ein Mordversuch liege nicht vor. Das Gericht führte weiter aus: »Der Angeklagte kann ungeachtet seiner erstrebten politischen Ziele nicht als harter Gewalttäter eingestuft werden, dem zur Erreichung seiner Zwecke alle Mittel recht sind – auch die Vernichtung des Lebens von Beamten, die in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit handeln. Die Tötung menschlichen Lebens ist bei Zahl nicht persönlichkeitsadäquat. Auch aus der von ihm bekundeten politischen Überzeugung und der von ihm propagierten Gewaltanwendung zur Herbeiführung des Umsturzes der gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Die Einlassung Zahls, er betrachte den einfachen Polizisten nicht als seinen Feind, gegen den er mit allen Mitteln vorgehe, konnte nicht widerlegt werden. Maßgebend war für die Kammer vielmehr, daß Zahls Einlassung nicht unwahrhaft erscheine. Er scheine geradezu einer übertriebenen moralischen Strenge – auch gegen sich selbst – anzuhängen.« Die Staatsanwaltschaft legte Revision beim Bundesgerichtshof ein, der das Urteil aufhob und ein neues Verfahren vor einer anderen Strafkammer verfügte: Zahl sei nicht nur wegen Widerstandes, sondern wegen versuchten Mordes zu verurteilen. Nach einer neuen Verhandlung im März 1976 erhielt Zahl dann wegen versuchten Mordes in zwei Fällen jeweils tateinheitlich mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall eine Gefängnisstrafe von 15 Jahren. Der Tathergang hatte sich nicht geändert. Geändert hatte sich die gerichtliche Wertung der politischen Überzeugung des Angeklagten. Das Urteil ist ein Gesinnungsurteil par excellence: Die niedrigen Beweggründe, die laut Gesetz nachgewiesen werden müssen, wenn ein Angriff auf einen Menschen als Mord oder Mordversuch qualifiziert soll, werden aus der Persönlichkeit gefolgert, aus deren Analyse das erste Gericht den zitierten entlastenden Schluß gezogen hatte. Das neue Urteil drehte die Argumentation einfach um: Zahl sei von einem tiefgreifenden Haß auf unser Staatswesen ergriffen und setze sich äußerst intolerant über ein gesellschaftliches und politisches Zusammenleben hinweg. Zudem habe er noch immer kein Verhältnis zu seiner Tat. Die über drei Jahre andauernde Untersuchungshaft habe auf den Angeklagten bisher keinen Eindruck gemacht. Die Schwere der Tat und die Persönlichkeit des Angeklagten erforderten eine lange Freiheitsstrafe, vor allem zur speziellen Abschreckung des Angeklagten und zur Sicherung der Allgemeinheit vor ihm. Die unmäßig lange Untersuchungshaft wird hier zum Mittel der Repression, zur vorgezogenen Bestrafung erklärt, die unterstellte Mordabsicht aus Zahls staatsfeindlicher Gesinnung konstruiert. Die Mindeststrafe für Mordversuch beträgt drei Jahre. Mit einem Strafmaß von 15 Jahren – Zahl sprach von 400 Prozent Gesinnungszuschlag – schöpfte das Gericht den Strafrahmen bis an die äußerste Grenze aus, nicht ohne zu bedauern, daß eine noch härtere Strafe gesetzlich ausgeschlossen sei. Der verurteilte Schriftsteller schrieb daraufhin folgendes Gedicht: Im namen des volkes Sebastian Cobler hat die Gesetzgebungspraxis und das Verhalten der Strafjustiz in solchen Fällen, welches uns bis heute begleitet, beschrieben und diesen Schluß gezogen: »Es zeichnet sich ein Prozeß der Auflösung jener verfassungsmäßigen Grenzen staatlicher Gewaltausübung ab, die den Rechtsstaat vom Polizeistaat unterscheiden. Die klassische Rechtsstaatsidee wird in ihr Gegenteil verkehrt: von einem Schutz des Bürgers gegen staatliche Willkür in eine immer umfangreichere Eingriffsermächtigung des Staates gegen den Bürger. Dies läuft nach legalistisch abgestützten Regeln ab, wie dies der Tradition in diesem Land entspricht. Diese Rechtsförmigkeit verleiht den jeweils ergriffenen Maßnahmen den legitimatorischen Schein, der ihre Durchsetzbarkeit und Anwendung gegenüber der Öffentlichkeit erleichtert. Die Entrechtung wird verrechtlicht.« In diesem Zusammenhang stehen auch die gesetzlichen Bestimmungen aus der Mitte der 70er Jahre zum Verteidigerausschluß (§ 138a Strafprozeßordnung), zum Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO) und zur Beschränkung auf drei Verteidiger (§ 137 StPO). Es wurden Trennscheiben eingeführt und das Kontaktsperregesetz beschlossen. Verteidiger wurden überwacht oder aus Verfahren rausgeworfen. Diese gesetzlichen Bestimmungen gelten bis heute und erscheinen inzwischen als selbstverständlich, weil sie kaum noch hinterfragt werden und die Gründe für ihre Einführung zunehmend in Vergessenheit geraten. Diese Zusammenschau könnte den Eindruck erwecken, die Justiz sei übermächtig, der Rechtsstaat schwach, und der Verteidiger, gesetzlich zum »Organ der Rechtspflege« bestimmt, sei womöglich nur als Verurteilungsbegleiter des Mandanten erwünscht. Dieser Eindruck kann sich auch deshalb verstärken, weil wir auf den Strafverteidigertagen in den letzten 20 Jahren bis heute diese Entwicklung der verrechtlichten Entrechtung immer wieder konstatieren mußten und kritisiert haben. Tatsächlich ist die Justiz mächtig und der Rechtsstaat schwach, aber die Verteidigung ist es zum Glück nicht – trotz aller Erschwernisse. Auf diesen Widerspruch weist der Verfassungs- und Polizeirechtler Ingo Müller zutreffend hin, wenn er schreibt [Ingo Müller: »Stammheim und das Strafprozeßrecht« in Drecktrah (Hg.): »Die RAF und die Justiz«, München 2010]: »Je mehr Verteidigungsrechte gestrichen worden sind, desto größere Handlungsmöglichkeiten eröffneten sich den Verteidigern.« Die Verteidiger haben nämlich die ihnen verliehenen Rechte selbstbewußt und immer routinierter ausgeübt und arbeiten professioneller. Eine Reihe politischer Prozesse, vor allem der von Stuttgart-Stammheim, hat den Verteidigerinnen und Verteidigern die Augen geöffnet und ihren Blick für das prozessuale Detail geschärft, ja ihnen den Wert der prozessualen Form für die Freiheitlichkeit der Gesellschaft überhaupt erst bewußt gemacht. Der Protest gegen die ständig sich verschlechternden Rahmenbedingungen hat die Zunft der Strafverteidiger geeint. So ist eine Bewegung entstanden, der es gelang, auch manchen Richtern, Staatsanwälten und Hochschullehrern diese Einsicht zu vermitteln. In der Hauptverhandlung sitzen wir zwar oft allein mit unseren Positionen, aber auf den Strafverteidigertagen sind Jahr für Jahr 500 bis 600 Kolleginnen und Kollegen versammelt, denen es ähnlich geht. Weitere Vernetzung wird helfen. Wir dürfen uns nicht vom Alltagstrott oder einem autoritären Gerichtsvorsitzenden einschüchtern lassen. Besser, wir schreiben einen Beweisantrag zu viel als einen zu wenig. Die Entwicklung der Strafverteidigung in den letzten 30 Jahren zeigt, daß sich Einmischung und das Beharren auf den formalen Rechten lohnt und daß es für uns Verteidigerinnen und Verteidiger keinen Grund gibt, uns zurückzuhalten. Die Hauptverhandlung lebt vom Widerspruch. Ohne die Verteidigung gäbe es keinen akkusatorischen Prozeß, sondern nur einen inquisitorischen. Den Kampf um das Recht gewinnt man nicht mit Anpassung. Martin Lemke, Vorsitzender der Holtfort-Stiftung, ist Fachanwalt für Strafrecht in Hamburg. Die Serie »Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat?« wird fortgesetzt.
Erschienen in Ossietzky 24/2013 |
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