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Zwei Vorwürfe sind es, die Hannelore Kraft nun gemacht werden: Erstens habe sie sich erst als entschiedene Gegnerin einer Großen Koalition präsentiert und sei nun als maßgebliche Verfechterin eines solchen Bündnisses tätig; zweitens betreibe sie bei den Koalitionsgesprächen ganz profane Lobbyarbeit für die Braunkohlekraftwerke zuungunsten der alternativen Energieproduzenten. Ist die NRW-Ministerpräsidentin denn doch eine leicht verwirrte Person, also gar nicht das, was medial zunächst aus ihr gemacht wurde, nämlich eine geeignete Nachfolgerin der gegenwärtigen Kanzlerin? So personalisierend läßt sich Politik nicht verstehen, ausgeblendet werden dabei Interessen wirtschaftlicher Gruppen. Hannelore Kraft ist eng verquickt mit der »altindustriellen« Fraktion in der SPD, die sich auch heftig eingesetzt hat für eine Koalition mit der CDU/CSU. Da kommen Wünsche von einschlägigen Industriegewerkschaften und Konzernen zusammen. Konkret geht es dabei um staatliche finanzielle Hilfestellung für das stählerne und fossile Kapital. Ein Konflikt zwischen der »altindustriellen« Richtung in der SPD und der grünen Partei liegt nahe; die Grünen sind verbandelt mit Energiewende-Unternehmen. Möglicherweise ist eben deshalb das rosa-grüne Regierungsbündnis im bevölkerungsstärksten Bundesland schon ein Auslaufmodell. M. W. TreibsandDenn unsere Freiheit Absolut ist die Freiheit Halme wehen im Wind. Freundlich surren Windmaschinen, Renate Schoof Neben-Sache MenschNach unserem seit 1900 geltenden Bürgerlichen Gesetzbuch ist die Leihe die unentgeltliche Gebrauchsüberlassung einer Sache. Jetzt haben wir Leiharbeiter. Leihmenschen. In einem Zeitungsartikel über den Lehrermangel in Sachsen formuliert der Schreiber: »Die Lehrer sind weg ... vom Markt.« Wie Badehosen im Winter. Der Fortschritt vom Humankapital zum Humangegenstand ist vollzogen. Günter Krone Ideologischer WarentestDie in der Bischofsstadt Paderborn mit großem Publikumserfolg gezeigte Museumsshow zur »Christianisierung Europas«, CREDO genannt, fand auch die Sympathie der Blauen Narzisse, einer umtriebigen und beachtlich vernetzten Internetzeitung der Neuen Rechten. Die Ausstellung bekam dort eine Empfehlung mit leichtem Vorbehalt: »Der konservative Besucher weiß die zum Glück nicht allzu häufigen Verneigungen der CREDO vor dem Zeitgeist gut einzuordnen.« Eine kleine Sünde der Ausstellungsmacher also, die leicht zu vergeben ist. Autor des Testberichts ist Dirk Tophorn, ein »konservativer Revolutionär«, Mitglied der »völkisch« gesonnenen Bielefelder Burschenschaft Normannia-Nibelungen, Mitbetreiber eines rechtsjugendlichen Kulturzentrums in Dresden, überall aktiv, wo es um den Kampf gegen die »multikulturelle Lebenslüge« geht. Aber wie paßt in dieses Weltbild die historische »Christianisierung« hinein? Wo doch der »Nordische Glaube« seinen angestammten Platz im Traditionsbestand der »konservativen Revolutionäre« hat? Ganz einfach: Das Christentum wird zur »abendländischen« Domäne erklärt, Karl der Große bekommt seine Verehrung ebenso wie der Sachsenführer Widukind, und die Externsteine lassen sich dann gleichermaßen als germanisch-vorchristliche wie als christliche Kultstätte würdigen. Hauptsache sie dienen als steinernes Zeichen gegen das »Fremdvölkische«. CREDO heißt für die Neue Rechte heute dann: Ob christlich oder nordisch, ich bekenne mich zu einem »weißen Europa«, »artgerecht«, und da ist politisch viel zu tun ... Die Erinnerung an eine »Schwertmission« kann bei einem solchen Glaubensbekenntnis hilfreich sein. P. S. Schweigender StellvertreterEs ist ein gutes Buch – sachlich fundiert. Und es ist ein wichtiges Buch, das gerade zur rechten Zeit auf den deutschen Büchermarkt kommt – jetzt, wo die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, ihrer Geschichte, ihren Privilegien, ihren Repräsentanten auf der Tagesordnung steht beziehungsweise auf die Tagesordnung gehört. Der Titel: »Pius XII. und die Vernichtung der Juden«, der Verfasser: Dirk Verhofstadt, belgischer Philosoph, geboren 1955 und jüngerer Bruder Guy Verhofstadts, der von 1999 bis 2008 liberaler Premierminister Belgiens war. Das Buch, erstmals 2008 auf Niederländisch erschienen, unterstützt mit unzähligen Dokumenten die Behauptung, die Rolf Hochhuth 1963 in seinem Theaterstück »Der Stellvertreter« vortrug, daß nämlich dieser Papst (mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli), der bis dahin für einen »der größten Päpste aller Zeiten gehalten wurde«, »nichts getan hätte, um die Verfolgung der Juden zu verurteilen oder ihr Ende herbeizuführen«. Dieser »Stellvertreter [Christi]« sei also, so die These, durch sein Schweigen angesichts des bis dahin größten Verbrechens aller Zeiten »schuldig« geworden. Verhofstadt sieht die Schuld des Papstes allerdings nicht allein in seinem Schweigen angesichts des Holocausts, sondern er findet sie auch in seinem Verhalten vor seinem Pontifikat, also vor 1939, als er als einflußreicher Kardinalstaatssekretär zugunsten der italienischen und deutschen Faschisten agierte, und ab 1945, als er zahlreichen faschistischen Massenmördern durch seinen Vertrauten, Bischof Alois Hudal, zur Flucht verhalf. »Die damaligen Naziführer waren in den Augen des Papstes bewährte antikommunistische Kämpfer, die während des Krieges die Zerschlagung Europas durch die Sowjets verhindert hatten.« Den überkommenen Schauder der katholischen Kirche und ihres führenden Repräsentanten »nicht nur vor dem Atheismus des Kommunismus und Sozialismus, sondern auch vor dem Individualismus, den die liberale Demokratie propagierte« sieht der Verfasser, wohl zutreffend, als »den Grund dafür, daß die Kirche sich an den Faschismus klammerte«. In 37 Kapiteln, die auch als Teile eines brillanten historischen Nachschlagewerkes gelesen werden können, stellt der Verfasser dar, wie sich die Kirche und ihr Protagonist Eugenio Pacelli an den Faschismus »klammerten«: zum Beispiel als er 1933 darauf hinwirkte, daß die (katholische) Zentrumspartei dem »Ermächtigungsgesetz« zustimmte, um dadurch ein »Konkordat« mit Hitler zu erhalten, das dazu beitrug, daß »Nazi-Deutschland für die Welt zu einem respektablen Staat wurde«; dann sein Schweigen zu den Nürnberger Rassegesetzen 1935 und zur Pogromnacht 1938; später während der deutschen Vernichtungskriege; außerdem seine Unterstützung aller faschistischen Diktatoren: Sie galt Franco in Spanien, Petain in Frankreich, Tiso, einem ehemaligen katholischen Priester, der in der Slowakei die Deportation jüdischer Mitbürger betrieb, und schließlich dem Massenmörder Pavelić, der mit seiner kroatischen Ustascha 750.000 Serben abschlachten ließ. Diesem Pavelić verhalf der Vatikan ebenso wie Klaus Barbie, Gerhard Bohne, Adolf Eichmann, Erich Priebke, Walter Rauff, Franz Stangl, Gustav Wagner und anderen zur Flucht nach Südamerika. Der Faschistenfreund Pius XII. soll selig- und heiliggesprochen werden, ginge es nach den Wünschen der verblichenen Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. sowie des abgedankten Stellvertreters a.D., Benedikt XVI. Ob es dazu kommt, ist allerdings noch offen; für das Jahr 2014 sind jedenfalls auf die Liste zur Heiligsprechung nur Johannes XXIII. und Johannes Paul II. gesetzt worden. Der inthronisierte Franziskus, der nach seinen öffentlichen Bekundungen für die Armen und gegen Kriege eintreten will, scheint zu wissen, daß er im Falle der Heiligsprechung des Pius XII. seine Glaubwürdigkeit in der Kirche und vor der Welt verlöre. Unabhängig davon ist dem Buch in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche eine weite Verbreitung zu wünschen. In einer weiteren Auflage müßten allerdings einige Flüchtigkeitsfehler in der deutschen Ausgabe beseitigt werden. Hartwig Hohnsbein Dirk Verhofstadt: »Pius XII. und die Vernichtung der Juden«, ins Deutsche übersetzt von Rudy Mondelaers, Alibri Verlag, 452 Seiten, 26 € Walter Kaufmanns LektüreAls Amon Göth, im Krieg KZ-Kommandant im polnischen Plaszòw, beobachtet, daß sich eine Jüdin beim Aufbereiten von Schweinefutter eine Kartoffel in den Mund schiebt, schießt er ihr eine Kugel in den Kopf. Sodann befiehlt er einem Häftling, die noch lebende Frau ins siedende Wasser zu werfen – als der sich weigert, erschießt er auch ihn … Man versetze sich in die Lage einer jungen Frau, die Jahrzehnte später erfahren muß, die Enkelin dieses Mörders zu sein: Mein Großvater hätte mich erschossen, wird sie sich sagen, denn ihre Hautfarbe ist dunkel, ein Nigerianer war ihr Vater: Rassenschande! Ab dieser Erkenntnis ist für sie nichts mehr wie es war. Mit einem sadistischen Psychopathen verwandt zu sein wirft Fragen in ihr auf: Wer bin ich, was ist in mir von diesem Mann? Wie ist meine Mutter beschaffen, die mich gleich nach der Geburt in ein Heim gab und später die Adoption zuließ? Sicher war ich ungewollt, war ihr eine Last. In ihrer Zerrissenheit entfremdet sich die junge Frau zeitweilig von ihrer Adoptivfamilie, den sie liebenden Pflegeeltern, den beiden Brüdern, die alle ihre Suche nach der leiblichen Mutter nicht nur billigen, sondern sogar fördern. Längst verdrängte Ängste werden in ihr wach, und je mehr sie über den Massenmörder Göth erfährt, desto stärker befallen sie Depressionen: Psychiatrische Behandlung wird nötig. Wie lebt man damit, daß der eigene Großvater noch unter dem Galgen nach Hitler schrie und mit dem Hitlergruß in den Tod ging … Und wie waren die Menschen, die diesem Mann nahestanden? Sie erfährt, daß Göths zweite Ehefrau über ihre Plaszòwer Jahre sagte: »Es war eine schöne Zeit. Mein Göth war König, ich war die Königin. Wer würde sich das nicht gefallen lassen?« Auch erkundet sie, daß der vermeintliche Menschenfreund Oskar Schindler, der sich (sehr zu eigenem Profit) arbeitsfähige Juden für seine Fabriken zuschanzen ließ, ein enger Kumpan ihres Großvaters war … Zwar findet sich der Vorname Amon prominent auf dem Schutzumschlag, das Buch aber schildert weit mehr als die Verbrechen des Amon Göth. Es weitet sich aus zu der Beschreibung eines Lebensweges, den letztendlich glücklichen Weg Jennifer Teeges zur Aussöhnung mit der Familie, die sie aufgenommen hatte, zu den Adoptiveltern und Brüdern, den Weg in die Ehe und zum Mutterglück. Weitverzweigte Freundschaften bahnen sich in München und Paris an, und auch in Israel, wo sie lange Jahre leben und studieren wird. Es ist nicht weniger als eine wundersame Fügung, daß es Jennifer Teege letztendlich beschieden war, junge Israelis nach Polen bis hin zum einstigen KZ-Lager Plaszòw zu begleiten. Dort erzählt sie den Jugendlichen von ihrem Leben und wessen Enkelin sie ist, schaut in ihre Gesichter und sieht, wie sich die Blicke weiten und die Vergangenheit sich mit der Gegenwart verknüpft. »Dann trat ich vor«, schreibt sie am Ende des Buches, »stellte mich vor den Gedenkstein und legte die Blumen langsam ab. Danach sangen wir die Tikva … Tikva bedeutet Hoffnung.« Walter Kaufmann Jennifer Teege und Nikola Sellmair: »Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen«, Rowohlt Verlag, 270 Seiten 19,95 € Herold Belger in großem KontextVor zehn Jahren von mir im Ossietzky zur Herausgabe in der BRD dringend empfohlen (Heft 25/03), vor drei Jahren endlich deutsch erschienen, erlebte Herold Belgers Roman »Das Haus des Heimatlosen« über die Tragödie der Wolgadeutschen nun im September eine Lesung im Kölner »Lew Kopelew Forum«. Das Buch vorzustellen, war seine Übersetzerin Kristiane Lichtenfeld aus Berlin gekommen, aber auch die Moderation durch eine ehemals Rußlanddeutsche, Katharina Heinrich, war sinnvoll: Von einem Autor geschrieben, der mit sechs Jahren die Deportation erlebt hatte, heute als Schriftsteller, Literaturkritiker, Publizist, Übersetzer – und verdienter Kasachstaner – deutsch, kasachisch und russisch schreibt, verarbeitet der Roman das Schicksal auch von Hunderttausenden, die seither nach Deutschland – das Land ihrer Vorfahren – gekommen sind und, oft als »Russen« angesehen, hier Integrationsprobleme zu bewältigen haben. Beim Wiederlesen beeindruckte mich der Roman noch mehr als vor zehn Jahren, als ich seine dreigliedrige, verschiedene Generationen und Erfahrungen einbeziehende Komposition beschrieb: David – Christian – Harry. Von Anfang bis zum Ende berührt den Leser, wie tief der unverschuldete Verlust der Heimat, die jahrelange Entrechtung und sogar Zwangsarbeit in Arbeitslagern die Betroffenen verletzte (denen Moskau pauschal Bereitschaft zu Kollaboration mit Hitlers Aggressions-Armee unterstellte). Emotional tief bewegend ist, wie stark die Deportierten vom Heimatgefühl erfüllt sind, wobei Heimat für sie die seit Generationen besiedelte und erfahrene Wolgarepublik bedeutet (nicht umsonst gibt es ja Erzählungen und Berichte über die Teilnahme von Rußlanddeutschen an der Verteidigung der UdSSR gegen die deutschen Eroberer). Aus solchem Erleben heraus vermag Herold Belger nicht nur den verlorenen Lebensraum und die eigene Kultur, sondern auch die Begegnung mit Landschaft, Klima und Bräuchen in Kasachstan zu verlebendigen. Angesichts der Konfliktsituation gewinnt dabei die Energie der Selbstbehauptung, des Kampfes um Bildungsmöglichkeiten trotz gesetzlicher und bürokratischer Barrieren, aber mit gelegentlicher Unterstützung verständnisvoller Amtsträger an Ausdruckskraft. Und schon im ersten Kapitel deutet sich jene anrührende Liebesgeschichte an, die zumindest die Kinder der Zentralfigur David ihr Haus in Kasachstan als neue Heimat erfahren läßt. Der Traum von einer Wiederherstellung der Wolgarepublik ist Vergangenheit. Der große Strom von »Spätaussiedlern« aus Kasachstan dürfte deutlich nachgelassen haben, seit die ethnisch Deutschen in der souverän gewordenen Republik keine nationalistisch motivierten Nachteile erfahren, sondern Anerkennung genießen. In zwei Reden des kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, die ich bei Berlin-Besuchen von ihm hörte, galt viel Achtung sowohl den umgesiedelten als auch den dort verbliebenen Deutschen – es gibt übrigens auch Rückkehrer nach Kasachstan. Umso mehr sollte Herold Belgers Buch in der Bundesrepublik mediale Aufmerksamkeit finden. Das »Lew Kopelew Forum« in Köln, Bewahrer solcher Leistungen seines Namensgebers wie zehn Bände »West-östliche-Spiegelungen«, war ein guter Ort für die Lesung. Als Kopelew (1912–1997) – von der UdSSR ausgebürgert – sein Projekt »Deutschlandbild der Russen und Rußlandbild der Deutschen« (Herausgeberin Mechthild Keller u.a.) begonnen hatte, kam ich mit ihm sogar hinsichtlich eines multinational nichtrussische Republiken einbeziehenden Bandes ins Gespräch. Da hätte Belger eine besondere Position gefunden. Leonhard Kossuth Herold Belger: »Das Haus des Heimatlosen«. Roman, aus dem Russischen von Kristiane Lichtenfeld, Verlag Hans Schiler. 420 Seiten, 29,90 € Berlin – Wladiwostok per RadIn Krasnojarsk spüre ich noch einmal die geballte Kraft der russischen Moderne, den Erneuerungswillen. Überall wird gebaut, die schlechten Magistralen am Rande der Stadt sind hoffnungslos überlastet, den Verkehr regeln Polizisten. In den Hypermärkten findet man sich nur mit Wegweiser zurecht. Die neuen Wohngebiete am Stadtrand unterscheiden sich in Anlage und Ausstattung kaum von unseren. Der durchschnittliche Monatsverdienst in der Stadt soll umgerechnet 1000 Dollar betragen. Selbstverständlich gibt es auch weniger bevorteilte Wohnanlagen in den Großstädten. Die Situation in den Kleinstädten und Dörfern scheint wesentlich von der Initiative der Anwohner und dem Engagement der Lokalpolitiker abzuhängen. Kansk, mir aus dem Geographieunterricht als eines der Zentren der Papierherstellung bekannt, macht nach der Schließung fast sämtlicher Industrieanlagen einen erbärmlichen Eindruck. Doch in einem Hotel, das von seinem graumelierten Besitzer Valentin Nikolajewitsch als »Nebenprodukt« einer mit Landwirtschaftsmaschinen handelnden Firma betrieben wird, werde ich wie ein kleines Sternchen verwöhnt. Immerhin ein Trost, denn an meinem Fahrrad machte sich die erste Acht bemerkbar; beim Einbau des auf dem Markt von hilfreichen Händen zentrierten Hinterrades zerbrach mir die Achse, so daß ich einen weiteren Tag in Kansk verbrachte. Undenkbar in Deutschland: Die Besitzerin des Fahrradgeschäftes schloß für ein paar Minuten ihren Laden, um mich zu dem versierten Alten mit der Werkstatt auf dem Markt zu bringen. Hinterher lud man mich zu Tee und Gebäck in den Aufenthaltsraum des Geschäftes ein, während vorn weiterverkauft wurde. Es geht eben alles ein bißchen menschlicher in dem vom Kapitalismus noch nicht bis ins letzte Glied geknebelten Sibirien vor sich. Auch der nächste Hotelwirt an der Trasse erwies sich als weitherzige Seele, obwohl er noch nie die Landesgrenzen verlassen hatte. Fast unmittelbar nach meiner Ankunft schickte er sich an, kostenlos die Banja für mich zu heizen; mein Fahrrad schloß er aus Mangel an Alternativen bei sich im Büro ein, und am nächsten Morgen erschien er früher als gewöhnlich, damit ich ohne Verzögerung weiter konnte. Während der Etappe, besonders zwischen Taischet und Nischneudinsk, erhielt ich einen Vorgeschmack auf die fehlenden Versorgungspunkte entlang der Trasse. Auf 160 Kilometern gab es nur eine Raststätte. Autoreisende und Verkaufspersonal reagierten etwas ungläubig, musterten mich wie einen Außerirdischen, bis sie mein Fahrrad entdeckten. In Sima – zu deutsch: Winter – sind im Hotel alle Plätze belegt. Meine die russische Mentalität und Sprache nicht kennenden beziehungsweise beherrschenden Radfahrerkollegen würden jetzt weiterfahren, den Körper und die Seele strapazieren, an die Substanz gehen. Ich bleibe. Schließlich schlägt der Wirt vor: Er könne ja mal mit einer Familie sprechen, die zwei Zimmer bewohnt und über vier Betten verfügt. Und richtig: Die Chabarowsker räumen, obwohl nur durch eine dünne Glastür getrennt, das geräumigere Vorderzimmer und schränken sich lautlos ein. Die Frau ermahnt die Kinder, leise zu sein, nicht zu stören. Ein warmer Hauch von Erinnerung streift mein Gemüt: Ja, so sind auch wir mal erzogen worden … Uwe Meißner Applaus, Applaus!Wer sich »Villa Verdi« in der Regie von Johann Kresnik entgehen läßt, bestraft sich selbst – Unterhaltsameres hatte die Volksbühne Berlin seit langem nicht im Spielplan. Es ist ein Theaterabend, den die Theaterleute zum Fest machen. Denn es geht um ihr Ureigenstes, um die Selbstbehauptung alternder Darsteller der Sprechbühne, der Oper, des Balletts. Sie alle leben in einer Art WG, einem Heim für betagte Künstler mit Namen Villa Verdi, das wegen fehlender Mittel geschlossen werden soll – und dagegen gehen sie gemeinsam an, zeigen was noch in ihnen steckt an Mut und Leistungswillen und Leidenschaft für die Kunst – und immer wieder braust für das, was sie bieten, Zwischenapplaus auf. Hildegard Alex und Sarah Behrendt, Annekathrin Bürger und Cornelia Kemper, Jochen Kowalski und Roland Renner, Ilse Ritter und Andreas Seifert, Jutta Vulpius und Harald Warmbrunn, Bühnenlieblinge von gestern alle, haben hier ihr Comeback und dabei ihre Freude, die von den Zuschauern geteilt wird. Am Ende fordert anhaltender Applaus Schauspieler, Tänzer, Musiker und Chor immer wieder auf die Bühne. Es dauert, bis der letzte Vorhang gefallen ist, die Lichter ausgehen und die Prachtinszenierung einer »Optimistischen Tragödie« nur noch in der Erinnerung weiterleben darf. Walter Kaufmann Nächste Vorstellung 17.11., 18 Uhr Viermal StolperArmin Stolper, ein Theatermann mit Leib und Seele, ein Anti-Antikommunist, beobachtet verbittert, wie sich die Bühnen des verschwundenen Landes DDR, seines »Theaterlandes«, erschreckend verändern. Ihm, dem hervorragenden Dramatiker und Dramaturgen, bleiben sie heute verschlossen. Er kam aus Breslau. Nach Vertreibung und Flucht wurde Dresden, neben der Lausitz, seine Wahlheimat. Jahrzehntelang war er zu finden an den Theatern in Senftenberg, Halle, am Maxim-Gorki-Theater und am Deutschen Theater in Berlin. 1999 erschien sein Band »Wir haben in der DDR ein ganz schönes Theater gemacht«. Darin schrieb er seine Erinnerungen nieder; das Recherchieren ist nicht so sein Ding. Er gestand: »Ich bin ein Roter, der Jesus seinen Bruder nennt und der die Farbe Grün bevorzugt, und das Theater liebe ich in der Gestalt, wie es Altmeister beschrieben haben: als Menschenhaus«. Seine »Sudelbücher« (diesen Begriff übernahm er von Lichtenberg und Tucholsky) zeigen einen sehr persönlichen, nicht unkritischen Blick auf seine »geliebte stolze Republik«. Für die Dresden-Liebhaber zu empfehlen ist das Bändchen »Briefe aus dem Café Toscana«. Im Untertitel nennt er es »40 Adressen an das 800 Jahre alte Dresden, mit dem der Verfasser, wie er behauptet, seit über einem halben Jahrhundert verheiratet ist«. Im Café Toscana sitzend, unterhält er sich mit historischen Personen, schildert die schweren Jahre in Dresden, weiß über Ereignisse Bescheid. In Rückblenden verbindet er Vergangenheit und Gegenwart. Persönliches und Familiäres fügt er warmherzig ein. Interessant ist die Figur des »Heimatschutzkaspers«, die er dramaturgisch geschickt einsetzt, die im Buch immer wieder auftaucht und am Ende ein aufschlußreiches Gespräch mit dem »Tod von Dresden« führt. »Die Zeit ist in Hoffnung eingewickelt«, resümiert der Autor. Manchmal wünscht man sich, mehr an die Hand genommen zu werden, um Personen besser einordnen zu können, die sich nur dem intimen Kenner der Szene erschließen. In einem gleichnamigen Buch faßt Armin Stolper zwei eigenwillige, lesenswerte Texte zusammen: »Mit Bismarck nach Bad Kissingen. Mit Heine im Kastanienwäldchen«. Ich halte es da mit Stolpers Enkelin Elisabeth, die schreibt: »Und von diesem blöden Bismarck will ich überhaupt nichts wissen ...« Die Beschreibung des Kurbades Kissingen, ist schon lesenswert. Stolper läßt uns teilhaben an seinen persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und Bekanntschaften. Da geht’s um die Spezies Kurgast, um Ernährungsberatung, Kurkonzerte und Lektüre – und selbstverständlich um Krankheiten. Das ist vergnüglich zu lesen. In einem Brief an Bismarck schreibt er: »... eigentlich ist Kur nichts anderes als Politik. Man muß immer machen, was man nicht will ... Kur ist ... harte Arbeit.« In seiner Textcollage »Mit Heine im Kastanienwäldchen« läuft der Theaterchronist Stolper zu großer Form auf. Man spürt seine Liebe zur Bühne. Für Außenstehende ist es nicht leicht, mühelos zu folgen, aber hat man den Faden gefunden, dann wird das Lesen zum Vergnügen. Dramaturgisch gekonnt geht Stolper mit dem Leser vom Friedhof (»Notizen eines alten Friedhofgängers«) zum Kastanienwäldchen am Berliner Maxim-Gorki-Theater, wo Waldemar Grzimeks Heine-Denkmal steht. Dort reflektiert Stolper über Clowns, die »wenige, aber treffende Worte« benötigen, um eine Sache auf den Punkt zu bringen. Heine ist sein geduldiger Zuhörer, er kann – in Bronze gegossen – seinen Stuhl ja nicht verlassen. Er erfährt von nutzlosen Demos, von Kollektiven, der Olsenbande, von Tourneen und vom »Rheingold«, herrlich parodiert. Heine hört, was sich so alles in Deutschland tut. Zu seinem Bändchen »Beaujolais und Bücher« schreibt Stolper, es seien Erlebnisse einer Lebensreise. Der Titel sei dem Verlag gewidmet, der Stolpers Bücher verlegt; der Beaujolais (in Kartons gelagert) wird zur Bewirtung von Gästen aus der französischen Partnerstadt Villefrance benötigt. Stolper plaudert von Lesungen in Leipzig, von Land und Leuten, von Freunden und vom Theater, von Bücherständen, an denen sich wenig Käufer einfinden, vom verschwundenen Leseland DDR. Sein Credo: »Und Spaß gemacht hat er mir immer: der Sozialismus, der, den wir gemacht haben, und der, von dem wir nicht aufhören zu träumen.« Eine empfehlenswerte Lektüre, die in Ruhe, ohne Hast gelesen werden will. Maria Michel Armin Stolper: »Wir haben in der DDR ganz schönes Theater gemacht«, Verlag Das Neue Berlin, 256 Seiten, antiquarisch erhältlich; Unbemerkt vom MainstreamAbseits der üblichen Cineastenströme, weitab von Berlinale, Cannes, Venedig, konnte man im Kollektivbetrieb »Regenbogenkino« im letzten selbstverwalteten, besetzten Haus-Projekt, der »Regenbogenfabrik« am Ende der Lausitzer Straße in Berlin-Kreuzberg, fünf Tage lang das Uranium-Film-Festival verfolgen, das weltweit größte Filmfestival zum Themenkomplex Anti-Atom. Festivaldirektor Norbert G. Suchanek war vor Ort und eröffnete den Veranstaltungsreigen. Will man darüber berichten, winken die Feuilletonchefs ab und verweisen auf das Ressort »Umwelt«, das wiederum auf den Bereich Kultur zurückverweist. Fazit: Nur wenig Presse und Ankündigungen, obgleich Filme aus und über Afrika, die USA, Rußland, Japan, Brasilien, Spanien, Italien, Israel, Mexiko, Estland, Schweden, die Ukraine, Rumänien, Großbritannien, den Iran, Australien und Deutschland gezeigt wurden. Kurzfilme, lange Streifen, Dokumentar- und Spielfilme liefen, Regisseure waren anwesend, allein die Presse fehlte, die Beachtung. Kaum eine Zeitung berichtete. Schade, denn der Wissensgewinn war groß. Die geringe Resonanz mag damit zusammenhängen, daß der Unterhaltungswert von Katastrophenszenarien eher an Gruselfilme erinnert. Wie zum Beispiel ein Streifen, in dem Jugendliche auf einem verlassenen Gelände ein medizinisches Gerät finden, es auseinanderbauen und dann –auf dem Hin- und Rückweg zum Schrotthändler – ein ganzes Stadtviertel radioaktiv verseuchen mit blauen, bei Nacht leuchtenden Cäsium-137-Kügelchen. Die Strahlenfolgen werden mit Farbe und Geruch ausführlich beschrieben. Hier wird die Phantasie angeregt, sich vorzustellen, wie in tausend Jahren unsere Nachkommen die unterirdisch abgasenden Atombehälter ahnungslos öffnen, die daraufhin ihre todbringende Wirkung entfalten. Eine nette Botschaft aus unserem Profitmaximierungs-Verschwendungsjahrhundert. Beeindruckt hat mich neben dem eben erzählten Film »Der Alptraum von Goiána« aus dem Jahre 1989 von Roberto Pires, der 2012 gedrehte Film »Women of Fukushima«, der seltene Aufnahmen aus dem Inneren der radioaktiv verseuchten Sperrzone in Fukushima zeigt und dazu sechs japanische Frauen interviewt, die über Vertuschungen und Unwahrheiten berichten. Auch Protestdokumentationen wurden gezeigt: So setzten sich in Bergamo Anwohner gegen den Uranbergbau zur Wehr. Sie knüpfen damit an eine Tradition an, die in Wyhl ihren Anfang nahm: Wenn alle sich wehren, wo sich die Atomlobby breitmacht, kann sie keine billigen Plätze für ihre Pläne mehr finden. Außer Konkurrenz der Film über »Sardiniens tödliches Geheimnis«, der 2013 auf der Berlinale zu sehen war: Mißbildungen und Todesfälle infolge des größten Truppenübungsplatzes der NATO; Ursache: Uranmunition. Das »reisende« Festival hatte in München mehr Presse – und noch mehr in Frankreich. Am meisten in Lateinamerika. Im November will das Filmfestival in den USA Station machen: unter anderem in Santa Fe und Albuquerque. Die Atomlobby ist stark – mutig, wer gegen sie angeht. Norbert Suchanek läßt sich nicht entmutigen. Erneut sammelt er Filme zum Thema. Das 4. Internationale Uranium-Film-Festival findet im Frühjahr in Rio de Janeiro statt. Anja Röhl Infos: www.uraniumfilmfestival.org Flucht auf die InselFür mich war Uwe Timms Roman »Rot« (2001) eine Art Offenbarung, wie man als Linke(r) in der Bundesrepublik leben konnte. Seitdem bin ich begierig nach jedem neuen Buch von ihm und spüre doch die zunehmende Entfernung. Nun also »Vogelweide«. Eschenbach, ein im Job und in der Beziehung gescheiterter Unternehmer, lebt als Vogelwart auf einer einsamen Insel. Er kommt nicht los, über die »Macht des Begehrens« nachzudenken, zumal Anna, die früher Heißbegehrte, ihr Kommen angekündigt hat. Eine Liebesgeschichte also, die aber mehr will: »Begehren« ergründen. Eschenbach ist eine ganze Generation jünger als der dreiundsiebzigjährige Timm. Seine Eltern murren noch über die sozialen Umstände. Er beobachtet, pflichtet kritischen Ansichten bei, pflegt seinen alten Saab aus dem Jahr 1966 und kennt sich mit Vögeln aus. Nach seiner Pleite bekommt ihm die Einsamkeit und Kargheit der Insel. Er meidet die Welt und kommt dennoch nicht davon los, zu grübeln, was ihm und Anna geschah. Die Erinnerung an diese Beziehung wird aus einer Distanz beschrieben, der sich der Leser anschließt. Dadurch mißrät die Liebesgeschichte. Generelle Antworten aber über das Phänomen der Leidenschaft gibt es wohl nicht. Und auch leider nicht genügend einsame Inseln, auf die unsereins flüchten kann. Christel Berger Uwe Timm: »Vogelweide«, Kiepenheuer & Witsch, 335 Seiten 19,99 € OstalgischesIn der Delegation der CDU, die mit Grünen und SPD Koalitionsgespräche geführt hat, war an exponierter Stelle neben Frau Merkel Herr Tillich zu sehen, der sächsische Ministerpräsident. In der DDR war Frau Merkel FDJ-Sekretärin und Herr Tillich stellvertretender Ratsvorsitzender für Handel und Versorgung. Damit ist belegt, was manche in Abrede stellen, daß in der DDR nicht alles schlecht war. Günter Krone Zuschrift an die LokalpresseIch bewundere immer wieder die aktuellen Fortschritte auf dem Gebiet der Medizin. Wie die Ostthüringer Zeitung vom 26. Oktober berichtete, nimmt ein neueröffnetes Zentrum am Jenaer Universitätsklinikum ab sofort Patienten auf, die von chronischen Schwindelattacken heimgesucht werden. Das Schwindelzentrum rechnet zunächst mit jährlich 500 Patienten. Die Kapazität soll jedoch noch aufgestockt werden, da nach Auffassung des leitenden Schwindelarztes Prof. Dr. Witte jeder fünfte Erwachsene akut an Schwindel-anfällen leidet. Mich würde interessieren, welche Berufsgruppen besonders von dieser Erscheinung betroffen sind. Ich könnte mir vorstellen, daß das diesbezügliche Berufsrisiko für Statistiker, Journalisten, Bankvorstände, Geheimdienstler, Versicherungsvertreter und Politiker überdurchschnittlich hoch ist. Ist die Schwindelklinik dazu berechtigt, besonders anfällige Personen zeitweilig oder dauerhaft aus dem Verkehr zu ziehen? – Benjamin Täuscher (43), Verwaltungsfachwirt, 29416 Lüge Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 23/2013 |
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